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WG Adé

Die Sache ist dramatisch, und sie passiert ausgerechnet in der Adventszeit, in der eigentlich auch Karrierepolitiker eine Extra-Portion Nestwärme brauchen. Eine der von ihren Bewohnern meistgeschätzte Brüsseler WG löst sich auf. Cem Özdemir, de jure noch immer Abgeordneter im Europäischen Parlament, von den Grünen (Yes, we Cem!) als neuer Parteichef in die Heimat berufen, lässt seinen Wohngenossen, den FDP-Mann Jorgo Chatzimarkakis sitzen.

Unter vier Augen macht Chatzimarkakis keinen Hehl aus seinem Leid. Das belgische Mietrecht ist streng, ein geeigneter Nachfolger schwer aufzutreiben, und die Finanzkrise macht das Leben auch nicht leichter. „Mitte Dezember“, antwortet Chatzimarkakis bitter auf die Frage, wann ihn der Cem ihn endgültig verlasse.

Ach, wie viel europäische Versöhnung wärmte diese WG. Nicht nur versprühten der Grüne und der Liberale einen Hauch von Jamaika in den tristen Behördenbeton, auch dass es – auf europäischer Etage – harmonisch türkisch-griechisch geht, bewiesen sie, kretischer Saarländer und anatolischer Schwabe.

Zwar, berichten sie, sei man sich meist erst nach Mitternacht zuhause begegnet, dann aber ging man zielorientiert Probleme an. Wie lassen sich Socken beim Waschen auseinander halten (Cem: „Du musst sie halt verknoten!“), welcher Monty-Python-Streifen lässt sich schon wieder anschauen, und: welche Ausschuss-Sitzung ist morgen wirklich wichtig? Ganz im Ernst: Brüssel verliert eine Bedarfsgemeinschaft der ermunternden Art. Doch Chatzimarkakis reckt das Kinn: „Von uns wird man noch hören!“

 

Madame Oui

Zum Abschluss des EU-Gipfels zur Wirtschaftskrise war Angela Merkel gut gelaunt. Sie habe mal wieder „Ja“ gesagt zu europäischen Lösungen. Na ja…

Richtig freuen dürfte sich heute abend EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Er hatte vor dem Beginn des Gipfels gefordert, die EU-Mitgliedsländer müssten 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes ausgeben, um die Konjunktur anzukurbeln, europaweit etwa 200 Milliarden Euro. Darauf haben sich die Staatschefs der 27 Länder in Brüssel nun auch geeinigt.

Zudem stellten sie klar, dass Europa trotz der Wirtschaftskrise am Klimagroßziel festhalten werde, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 20 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.

Wieder einmal alles gut also in Brüssel? Nun ja. Hinter der zur Schau gestellten Einigkeit verbergen sich in Wahrheit noch immer sehr verschiedene Wirtschaftspolitiken. Was etwa Deutschlands Haltung zu Konjunkturprogrammen betrifft, gibt es streng genommen keine Neuigkeit – und was den Klimaschutz betrifft, eine neue Lastenverteilung.

In der Konjunkturpolitik hatte sich Merkel schon früh von den etwas krisenplanwirtschaftlichen Ausgabenzielen des Kommissionspräsidenten distanziert. Warum, fragte man im Kanzleramt, solle sich Deutschland ohne Not an einer Art europäischen Ausgabenpauschale beteiligen? Gerade erst schließlich habe Deutschland seinen Haushalt ausgeglichen, und was hülfe es letztlich, kommenden Generationen neue Schulden und höheren Steuerlasten zu hinterlassen?

Gegenüber beispielsweise Großbritannien, dessen Inlandsprodukt sich zu einem wesentlichen Teil aus Gewinnen aus Finanzdienstleistungen zusammensetzt, steht Deutschland in der aufkommenden Wirtschaftskrise noch immer vergleichsweise stabil da. Klar, dass es dem sonst eher EU-reservierten Gordon Brown da plötzlich leicht fällt, höhere europäische Ausgaben zu fordern. Klar auch, die Kanzlerin skeptisch ist, ob finanzielle Injektionen in die Volkswirtschaft ähnlich heilende Effekte erzielen könnten. Deutschlands Wirtschaftsleistung hängt zu 40 Prozent vom Export ab. Da zeigen Investionen in die Binnenmarktnachfrage weniger Effekte als in anderen Ländern.

Deswegen hat Merkel in Brüssel nicht mehr versprochen als sie es schon in Berlin getan hatte. Konjunkturausgaben ja, aber nur solche, die ihr im Hinblick auf die nationale Volkswirtschaft sinnvoll erscheinen. Das könnten etwa sein: öffentliche Bauprojekte (auch mitfinanziert von den Bundesländern), die steuerliche Abschreibung von Krankenkassenbeiträgen, oder der Ausbau von High-Speed-Internetverbindungen. Schon vor dem Gipfel hatte die Bundesregierung für derlei Maßnahmen 31 Milliarden Euro eingeplant. Draufgelegt hat Merkel in Brüssel nichts – weder Konsumgutscheine noch Mehrwertsteuersenkungen. „Wenn wir nach der Krise in jedem Haushalt – auch im ländlichen Raum – Breitbandanschlüsse haben, dann haben wir von dieser Krise etwas gehabt“, so die Kanzlerin zum Abschluss des Gipfels im Brüsseler Ratsgebäude.

Etwas gehabt von der Krise hat auch die europäische Klimapolitik: einen Zuwachs an Ehrlichkeit. Zwar halten die Staatschefs hartnäckig am 20-20-20-Ziel fest. Doch angesichts der Bedrohung, die der Klimaschutz für Arbeitsplätze haben kann, machten einige europäische Regierungen klar, dass es für sie plötzlich Wichtigeres gibt als die Rettung der Welt vor dem Hitzetod.

Und so werden die westeuropäischen Regierungen den osteuropäischen Partner, deren Hauptstromquelle Kohlekraftwerke sein, unter die Arme greifen, wenn es dereinst darum geht, CO2-Zertifikate für die Rauchschleudern zu erwerben. Zudem sollen bestimmte ernergieintensive Branchen von der Vollauktionierung der Verschmutzungszerfikate ausgenommen werden, sprich: das Recht zum CO2-Ausstoß wird zwar limitiert, aber gratis verteilt.

Einer, der die Folgen dieses EU-Gipfels ganz nüchtern auf den Punkt bringt, ist der tschechische Außenminister Karl Schwarzenberg. „Alles in der Politik ist auch Mode“, erklärte der 71-jährige erfahrene Staatsmann. „Und die Kohlenkraftwerke im Osten, Automobilwerke in Deutschland etc. zu retten, ist derzeit eben wichtiger als die Welt zu retten. In der Wirtschaftskrise bedenkt man auch andere Prioritäten. Der globale Klimaschutz wird sich jedenfalls verzögern.“

Ein hübsches Stück Klartext, von dem Europa in den kommenden Monaten noch mehr erleben dürfte. Am 1. Januar übernehmen die Tschechen die Ratspräsidentschaft.

 

Seit 60 Jahren gelten die Menschenrechte. Oder?

Vor sechzig Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie definieren den Minimalschutz, der jedem Erdenbürger gegenüber staatlicher Macht zusteht.

Doch wie steht es um die Achtung der Menschenrechte in der praktischen Außenpolitik Europas? Am Beispiel des Umgangs mit dem Repressionsregime in Usbekistan zeigt sich eine zwiespältige Bilanz

Ein Report

Im Mai 2005 verübten usbekische Sicherheitskräfte in der Stadt Andischan ein blutiges Massaker. Mehrere hundert friedliche Demonstranten starben im Kugelhagel. Angeblich, so die usbekische Regierung, habe es sich um eine Veranstaltung von militanten Islamisten gehandelt.

Die Europäische Union verhängte als Reaktion im November 2005 ein Einreiseverbot gegen jene Politiker und Militärs, die für das Blutbad verantwortlich gewesen sein sollen.

Mitte Oktober diesen Jahres nun hob die EU die Reisebeschränkung auf. Treibende Kraft hinter diesem Schritt war die deutsche Bundesregierung. Andere Länder, unter ihnen Tschechien, Großbritannien, und Schweden, hatten Vorbehalte, schwänkten aber – mit Ausnahme der Niederlande – letztlich auf die Berliner Position ein. In Kraft blieb allerdings ein Waffenembargo, das nach dem Bluttag von Andischan ebenfalls gegen Usbekistan verhängt worden war.

Die europäischen Außenminister lobten am 13. Oktober in Luxemburg „die Fortschritte, die Usbekistan seit einem Jahr im Bereich der Achtung der Rechtstaatlichkeit und des Schutzes der Menschenrechte erzielt hat“. Die Regierung in Taschkent habe nicht nur eine inhaftierte Dissidentin zur medizinischen Behandlung nach Deutschland reisen lassen, sondern auch die Todesstrafe abgeschafft und den Habeas-Corpus-Grundsatz (Schutz vor willkürlicher Inhaftierung) eingeführt.

Freilich gibt es auch weniger ideelle Motive für die Wiederannährung an das usbekische Regime. Ein wcihtiges ist die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung.

„Natürlich können wir Leute treffen, denen Blut an den Händen klebt“

Gegenüber dem usbekischen Sicherheitsdienst verfolgt der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) eine „partner policy“ regelmäßiger Kontakte und punktueller Zusammenarbeit. Aus zwei Gründen haben die deutschen Geheimdienstler ein dringendes Interesse am Austausch mit dem usbekischen Apparat. Zum einen grenzt das islamische Land an Nordafghanistan, wo über 3000 Bundeswehrsoldaten stationiert sind. Im usbekischen Termes unterhält die Luftwaffe ein Drehkreuz, über das sie in speziell geschützten Transall-Flugzeugen Nachschub und Personal auf die südliche Seite des Hindukusch schafft.

Zum anderen hält der BND die Islamic Movement of Usbekistan (IMU) für eine potenzielle Bedrohung auch deutscher Zivilisten in der Heimat. Die Kämpfer der IMU sollen nicht nur enge Kontakte zu den Taliban im Nachbarland pflegen, sondern auch Beziehungen nach Europa.

„Usbekistan in ein gutes Beispiel dafür, dass man die Gesprächsfäden nicht abreißen lassen darf, auch wenn offizielle Kontakte schwierig sind“, erklärt mir ein ranghoher BND-Beamter. Politik und Diplomatie seien die offenen Etagen der Außenpolitik – die Geheimdienstarbeit dagegen die Arbeit im Keller.

„Natürlich kann man bei seinen Kontakten irgendwo in der Welt auch auf Leute treffen, die für Politiker nicht satisfaktionsfähig sind, denen manchmal vielleicht sogar Blut an den Händen klebt”, berichtet der Beamte. Ein unkeusches Geschäft, sicher. „Aber dafür”, sagt der Geheimdienstler, „sind wir nun einmal da.”

Nicht jeder Geheimdienstler ist zum Helden geboren

Wo aber verlaufen die Grenzen zwischen legitimer Auslandsaufklärung und zynischen Schmuddelspielen? Was, wenn die Informationen der usbekischen Geheimdienstoffiziere – wie man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen muss – aus Foltersitzungen gewonnen wurden? Das wisse man im konkreten Fall so gut wie nie, lautet die Standardantwort des deutschen Geheimdienstes. Mit anderen Worten: lieber gar nicht erst genauer nachfragen.

„Natürlich vermeidet die Gegenseite, dass wir Gefängniszellen oder Verhörzellen zu sehen bekommen”, sagt ein BND-Mann, der selbst schon in Usbekistan war. „Letztlich ist es eine Frage des persönlichen Mutes, ob man Haftbedingungen anspricht.” Nicht jeder Kollege, gibt der Mann zu, sei zum Helden geboren.

Das Geheimdienstgeschäft freilich ist eines des Gebens und Nehmens. Oft kommt es deshalb vor, dass die ausländischen Counterparts von ihren deutschen Kollegen verlangen, sie sollten ihnen Informationen über Oppositionelle im europäischen Exil zukommen lassen. In dieser Hinsicht, heißt es aus dem BND, sei man allerdings “absolut restriktiv” – niemand werde verpfiffen. Als Ergebnis, so Geheimdienstler, endeten manche Zusammentreffen mit Counterparts aus Unrechtsstaaten in gegenseitiger Frustration.

Die Arbeit im Keller kann allerdings auch die Fundamente für eine Annäherung legen, die die Bundesregierung später gern mit Stolz als erfolgreiche Wandelpolitik verbucht. Geheimdienstler gelten in Überwachungsstaaten oftmals als mächtige Regierungsakteure. Mit entsprechender Wertschätzung werden BND-Vertreter bisweilen auf ihren Missionen in der zweiten und dritten Welt hofiert. Unversehens können dann Geheimdienstler politische Anbahnungsgeschäfte betreiben, sie können das Eis brechen, das Außenminister nicht brechen dürfen, oder Botschaften und guten Willen übermitteln, die sonst womöglich nie in Berlin ankämen.

„Manchmal”, berichtet ein Geheimdienstler, „kann man persönliche Kontakte auch nutzen, um einen Gefangenen aus seinem Verließ zu holen.“ Und langfristig vielleicht sogar, um einen Kerker ganz zu schließen. Das jedenfalls ist das Ziel der, wenn man so möchte, “neuen Ostpolitik” der Bundesregierung.

Ein Pressefreiheitsseminar, das die EU als großen Schritt feierte, war eine Farce

„Die zentralasiatischen Länder fühlen sich zwischen Russland und China eingeklemmt. Und weil sie sich aus dieser Klammer lösen wollen, suchen sie die Nähe zu Deutschland“, sagt die CDU-Europaabgeordnete Elisabeth Jeggle. Die Baden-Württembergerin war erst kürzlich wieder in Usbekistan. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien, berichtet sie, wachse dort die Angst, der große Nachbar könne auch die Usbeken mit Gewalt gefügig machen. „Wenn wir die Region für den Westen nicht verlieren wollen, brauchen wir gute Beziehungen zu Usbekistan und zu Zentralasien als Ganzes.“ Sicher, die Menschenrechtslage sei längst noch nicht befriedigend. „Aber es gibt Fortschritte“, beharrt Jeggle.

„Mit Befriedigung“ nahm der Rat der Europäischen Außenminister im Oktober etwa zur Kenntnis, dass Anfang Oktober in Taschkent ein Seminar über Medienfreiheit abgehalten wurde. Dies sei ein wichtiger Schritt zur Öffnung des Landes an westliche Standards gewesen.

Mehrere Teilnehmer der Veranstaltung indes können nicht erkennen, was an diesem Ereignis auch nur annähernd befriedigend gewesen sein soll. „Wir hofften, es wäre ein Signal für Wandel“, sagt Jacqueline Hale, die für das Open Society Institute von Brüssel nach Usbekistan reiste, um das Seminar zu verfolgen. „Tatsächlich waren wir NGO-Vertreter Teil einer Propaganda-Show. Die angeblichen usbekischen Journalisten waren Apparatschiks. Sie zeigten uns tolle neue Computer, aber als wir fragten, warum kein Reporter über Machtmissbräuche der Regierung oder die Kinderarbeit auf den Baumwollfeldern berichteten, leugneten sie, dass es so etwas überhaupt gäbe.“ Andrew Stroehlein, Pressechef der International Crisis Group, bestätigt: „Die Konferenz überstieg alle meine Erwartungen des Surrealen.“

Warum, fragen die Menschenrechtsgruppen, hat die EU die deutlichen Berichte der Seminar-Teilnehmer nicht zu Kenntnis genommen? Warum bekommen NGOs nicht die politischen Strategiepapiere der Brüsseler Außenpolitiker?

Es stimme, sagt die EU-Abgeordnete Jeggle, dass das Medienseminar nicht den Erwartungen der Europäer entsprochen habe. Doch die Haltung vieler NGOs findet sie schlicht zu ungeduldig. „Tatsache ist: Die Zahl der Gefangenen dort geht zurück. Dem Roten Kreuz wird Zugang zu Gefängnissen gewährt. Ich selbst habe mit Häftlingen gesprochen. Unsere Menschenrechtsarbeit“, versichert Jeggle, „ist nicht bloß Theorie – aber es ist halt elend zäh.“

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„Sie wurden gelobbyt“

Ein Jahr als Korrespondent in Brüssel. Eine Bilanz

Auf einem sektschwangeren Atem reitet mir ein abfälliges Lachen entgegen. „Ha! So wenige?“ Die deutsche Diplomatin hält die Zahl, die ich ihr, nach einem zu kurzen Moment des Zögerns, doch verraten habe, für einigermaßen armselig. Nur knapp dreißig Visitenkarten eingesackt in der ersten Woche als Korrespondent in Brüssel? Am Rand ihres hochstieligen Glases zeichnet sich der Lippenstiftabdruck eines milden Lächelns ab.

Ein Jahr später weiß ich dreierlei. Erstens, auf die Anzahl kommt’s nicht an. Zweitens, dass der zwanghafte Austausch von Kärtchen auf Brüsseler Abendempfängen bisweilen der Geisteshaltung beim Ausfüllen eines Lottoscheins ähnelt: Wer weiß, vielleicht bringt es ja doch was, wenn schon nicht beruflich, dann womöglich privat. Aber drittens ist mir auch klar geworden, dass wenn einmal das große Los auf Europa fällt, Brüssel der Ort ist, der sich wie kein anderer als Kollektiv darauf stürzt, ein Ereignis zu kanalisieren, analysieren und parieren. Als Netzwerk dürfte sich die Stadt zu einem der dichtesten der Welt gemausert haben. Brüssel ist Google in der Echt-Welt. Man findet alles und jeden. Aber auch vieles, was man nie gesucht hat.


Meiden Sie zuviel Champagner, er ruiniert Ihre Magenschleimhaut

Während der ersten Wochen fühlt sich das Arbeiten in der „EU-Hauptstadt“ (ein etwas bemühtes Reiseführersynonym) so psychedelisch an, als säße man inmitten eines beständig implodierenden Sternenhaufens. Brüssel stürzt sich auf den Neuankömmling wie ein Heuschreckenschwarm auf ein unberührtes Weizenfeld; sanfte Korruption und plötzliche Duz-Attacken eingeschlossen. Das EU-Viertel vermittelt seinen Bewohnern das wärmende Gefühl, sie seien unter sich, unbeobachtet von der wahren Welt sozusagen.

Rund um den Place Schuman mit seinen klobigen Bürogebäuden und ausgedehnten Fressmeilen herrscht die Betriebsamkeit eines Großflughafens und die Mentalität eines Dorfes. „Neenee! Lassen Sie mal. Sie wurden gelobbyt!“, flötet der Gesprächspartner am Ende eines hervorragenden, nicht ganz günstigen Mittagsessens, und zückt die eigene Geldbörse. Aufgeschlossen und gelöst wie nie begegnet einem hier auch der BND-Mann, den man noch aus anderen Zeiten kennt. Und da ist die Kommissionsbeamtin, die mit ernster Miene über die viele Arbeit klagt, aber noch viel schamloser über all den Champagner, der ihr, „echt jetzt!“, die Magenschleimhaut ruiniert habe.

Pling!, jubelt der Computer, als der Korrespondent wieder ins Büro zurückkehrt. E-Mail vom Deutschen Tierschutzbund. Freude darüber, dass die EU ein Handelsverbot für Hunde- und Katzenfelle beschlossen hat. Pling! Die Sozialisten im Europaparlament planen eine Pressekonferenz über die Mehrwertsteuerstreichung für Kondome. Pling! Die bayerische Landesvertretung lädt zur „Wurstverkostung“.

Ring! Das Telefon klingt. Der Herr am anderen Ende macht sich nicht die Mühe, sich vorzustellen. Er sagt nur auf Englisch: „Guten Tag. Wir hätten gerne ihre Adresse für unsere Datenbank.“ Ich sage „eher nein“, aber noch während ich den Hörer auflege, beschleicht mich das Gefühl, gerade ein wichtiges Brüsseler Grundgesetz verletzt zu haben. Werde ich nun die alles entscheidende E-Mail nicht bekommen? Die, über die morgen die ganze Stadt spricht? Ja, schlimmer: Bin ich jetzt ein Anti-Europäer?

Kurze Zeit später treffe ich glücklicher Weise einen alten Studienfreund, den es mittlerweile ebenfalls „in die EU“ verschlagen hat. Oh ja, sagt er, er kenne diese Angst. Dann fragt er, ob ich mich an die Star Trek-Filme mit den Maschinenmenschen erinnere, diese „Borg“. Ich nicke. Sie werden assimiliert!, tönte deren blecherner Kampfruf. Der Freund lächelt und nickt. Und hat Recht. Widerstand gegen die Rundum-Verdrahtung, merke ich bald, ist ohnehin zwecklos.

Wer länger in Brüssel lebt, hat keine Wahl. Eine Hälfte seines Gehirns gehört schnell der EU. Es vergehen keine drei Monate, und man ertappt sich dabei, dass man beim Feierabendbier mit einer jungen Dame zwei Stunden lang heißblütig über den Lissabon-Vertrag debattiert hat. Sowas gilt hier nicht als Fauxpas. Es ist total en vogue. Als nächstes beginnt man, unmerklich französische Floskeln in seinen Wortschatz einzuflechten und wildfremde Menschen mit zwei Küsschen auf die Wange zu begrüßen.

Vermutlich ist es auch kein gutes Zeichen, dass ich schon überlegt habe, meinen Kühlschrank zu verkaufen. Aber Brüssel nährt seine zugereisten Töchter und Söhne einfach zu gut.

„Frieden!“, ruft Ministerpräsident Kurt Beck ins Mikrofon. Er ist zu Besuch in die rheinland-pfälzische Landesvertretung gekommen und muss europäisch klingen. „Wohlstand!“ Das Publikum beginnt zu rumoren. „Grenzenlosigkeit!“ „Wir!“ „Alle!“ „Menschen!“ Die Menschen verteilen sich. „Nachbarn!“ Aus, vorbei. Wenn Politiker bei Ansprachen die Karlspreis-Vokabeln auspacken, wendet sich das Publikum freundlich ab; es weiß, jetzt dauert es nicht mehr lange, bis das Buffet eröffnet wird. Die Beschwörung der EU als Kriegsverhinderungsbündnis taugt noch als Brüsseler Tischgebet. Keiner glaubt mehr recht daran, aber etwas Besseres, nach vorn Weisende, will auch niemandem einfallen. Bis es soweit ist, tröstet man sich mit Rindercarpaccio und Lachshäppchen. Brüssel mag ein Wartesaal der Geschichte sein – aber einer mit exzellentem Catering.


Ich war noch nie im Atomium. Und auch noch nie beim Manneken Pis

Eines Tages fällt mir auf, dass ich noch nie draußen beim Atomium war, einem, so sagt man, beliebtem Ausflugsziel vieler Belgier. Ich war auch noch nie beim Manneken Pis und auch noch nie im Comic-Museum. Offen gesagt hat das damit zu tun, dass ich ungern daran erinnert werde in einer Stadt zu leben, die einen erheblichen Teil ihrer internationalen Bekanntheit auf ein urinierendes Kleinkind und auf die Abenteuer von Tim und Struppi stützt. Dann jedoch erzählt mir eine deutsche Bekannte, irgendwelche Belgier hätten dem Manneken Pis kürzlich ein schwarzes Lacklederkostüm übergezogen. Wir finden das putzig. Und beschließen, sie einmal zu suchen, diese Belgier. Ein Freund meiner Bekannten, sagt, er kenne in der Nähe der Oper ein Lokal, wo man welche finde. Belgier.

Am nächsten Samstag sitzen wir an einem rauen Holztisch in der wunderschönen mittelalterlichen Innenstadt, nippen am Starkbier und blicken neugierig in den Thekenraum. Es dauert nicht lang, und unsere Bekannte wird zum Tanzen aufgefordert – von einem italienischen Journalisten. Der Freund und ich unterhalten uns den Rest des Abends über die bildungspolitischen Auswirkungen des Lissabon-Vertrages. – Sollte mich irgendwann mal jemand fragen, ob ich einmal in Belgien gelebt habe, werde ich antworten Nein. Ich habe an den Mauern einer Institution campiert.

Brüssel, seien wir ehrlich, ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Parallelgesellschaft wunderbar funktionieren kann, wenn Einwanderer und Ureinwohner aus demselben Kulturkreis kommen und schon zwei Weltkriege gegeneinander ausgefochten haben.

Wahrscheinlich hat auch Angela Merkel auch noch nie einen Belgier zu Gesicht gekriegt und empfindet das nicht als störend. Wenn die Staatschefs oder ihre Minister in Brüssel zusammenkommen, dann tagen sie im hermetischen Ratsgebäude „Justus Lipsius“. Der Granit-Kubus besitzt die Anziehungskraft eines Grabsteins, und seine Innenarchitektur changiert je nach Stockwerk zwischen der Spröde einer Kleinstadteisdiele und der Hermetik von Gefängnisfluren. Nach jeder Ratspräsidentschaft hinterlässt das entsprechende Land ein Andenken im Interieur; Stühle, Sessel, Lampen, Beistelltischchen. Das Ergebnis ist ein verwirrendes Sammelsurium edler, hochwertiger Kleinteiligkeit.

Zum Glück gibt es sie, die Politiker, die mit den Füßen scharren, die jetzt, endlich einmal, mehr mit diesem Brüssel anstellen wollen als eine Bauchnabelschau nach der anderen zu veranstalten. Lissabon, eine laue Nacht am Meer. Angela Merkel stellt sich den Journalisten, eine blaue Sternenwand und einen historischen EU-Gipfel hinter sich. Eigentlich möchte sie jetzt gar keine Fragen mehr zum neuen Reformvertrag, ehemals EU-Verfassung, beantworten. Nein, vielleicht, lässt die Kanzlerin durchblicken, könnte sich diese Union der 27 stattdessen endlich einmal darüber unterhalten, was sie eigentlich in der Welt erreichen wolle. Darüber zum Beispiel, „welche Interessen Europa in Bezug auf die Globalisierung hat“. Schweigen im Presserund. Dann eine kritische Frage zum Flugverhalten der EU-Politiker. Welch ein immenser CO2-Ausstoß! Sei das denn vorbildlich?

Womöglich, denkt der Neuling, hätte die Kanzlerin doch gerne andere Themen vertieft. Warum, zum Beispiel, sich Brüssel immer noch wie die Heimstatt einer gewaltigen NGO anfühlt. Warum die Gipfel seiner 27 Regierungschefs oft wie die Treffen einer Selbstfindungsgruppe wirken. Warum dieser unglaublich durchorganisierte Club unglaubliche 40 Milliarden Euro pro Jahr für seine Milchkühe, Olivenbäume und Schafherden ausgibt, während China in Universitäten und Containerhäfen investiert.

Ja weil, Herrgott, die EU eben ihre Fehler hat, wie alle komplexe Gebilde, sagen erfahrenere Beobachter. „Wissen Sie“, weiht mich ein deutscher Kollege ein, „ich bin jetzt seit elf Jahren hier. Und ich bin immer noch“ – er zögert – „überzeugter Europäer.“ Würde ein Berliner Korrespondent, fragte ich mich, allerdings auch sagen, er sei überzeugter Bundesrepublikaner? Brüssel entfaltet schon eine Sogwirkung eigener Art auf den Berichterstatter, vergleichbar vielleicht mit dem Lullen eines Folksingers. Hey, Mann, wir bauen hier an Größerem! Willst du da ein kleinlicher Kritiker sein? Auf diesen Geist verlassen sich oft auch Politiker. Er habe in Brüssel immer gewusst, sagt Cem Özdemir vor großem Publikum (sämtliche deutschen politischen Stiftungen laden einmal im Jahr zu einem gemeinsamen Empfang an, dann drängeln sich 2000 Gäste vor Grillzelten), dass die Journalisten in Brüssel „unsere Verbündeten“ seien, anders als in Berlin. Dafür bekam er sogar noch Beifall von den versammelten Stiftungsmitarbeitern.

Es gibt Politiker, die diesem politischen Stockholm-Syndrom erliegen, sobald sie auch nur wenige Minuten von Brüsseler Publikum umzingelt sind. Markus Söder von der CSU, zum Beispiel. Er ist zur Wurstverkostung in die Bayern-Vertretung gekommen. Ein kühles Glas Bier in der Hand, sagt er mit tiefer Stimme in eine Runde von Journalisten: „Brüssel ist eine der Hauptstädte der Welt. Neben Washington, Peking und London ist Brüssel eine der Hauptstädte der Welt.“

Ich schreibe das sehr sorgfältig mit und denke, Brüssel ist wirklich spannend und lehrreich. Aber wenn ich das irgendwann glaube, dann ist es Zeit zurückzukehren, in die Welthauptstadt Hamburg.

 

Europa buckelt

Dass Europa so schnell einknicken würde, hätte man dann doch nicht gedacht. Nun wissen wir: Die Prinzipien der Europäischen Union gegenüber Russland haben eine Verfallszeit von genau 71 Tagen. Am vergangenen Monat beschlossen die Außenminister der EU in Brüssel, die Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen mit Moskau wieder aufzunehmen.

Noch am 1. September hatten die Staatschefs Europas dafür eine klare Bedingung festgelegt: Russlands müsse seine Truppen in Georgien auf die Positionen vor Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. August zurückverlegen.

Diese Bedingung hat Russland nicht nur nicht erfüllt. Die russische Armee hat ihre Stellungen in Abchasien und Südossetien seither drastisch ausgebaut. Die wenigen Hundert „Friedenssoldaten“ in den Provinzen sollen auf letztlich 7600 Mann aufgestockt werden. Zudem ziehen russische und ossetische Truppen laut Presseberichten immer wieder überraschend neue Grenzlinien in „Kerngeorgien“.

Ebenfalls noch im September wollten die EU-Außenminister ihr weiteres Vorgehen gegenüber Russland von der Antwort auf die Frage abhängig machen, wer den Krieg in Georgien eigentlich verschuldet hatte. Erst jetzt allerdings setzt die EU eine Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen ein; sie soll von der schweizerischen Diplomatin Heidi Tagliavini geleitet werden. Die Ergebnisse ihrer Arbeit dürften leider eher für Historiker als für Politiker interessant werden.

Einzig Litauen protestierte in Brüssel gegen die Entscheidung der übrigen EU-Länder. In Europa, sagte der Vertreter eines südosteuropäischen Landes, herrschten im wesentlichen drei Haltungen gegenüber Russland vor: Angst (in den ehemaligen Ostblockstaaten), Ausgleich (in Großbritannien und Italien) und Geschäftsinteressen (in Deutschland und Frankreich). „Das in Einklang zu bringen, ist natürlich schwierig“, so der Diplomat. Durchgesetzt haben sich am Ende die Großen.

Sicher, Europa braucht Russland, vor allem im Winter. Die EU bezieht über 42 Prozent ihrer Erdgas-Importe aus Russland, außerdem ein Drittel seiner Öl- und ein Viertel seiner Kohle-Importe. Die Tendenz beim Gas ist stark steigend, die EU-Kommission rechnet bis 2020 mit einem Anteil von 73 aus Russland.

Aber Russland braucht auch Europa. Zwei Drittel seiner Gasexporte strömen in die EU – ohne diesen Großkunden würde Moskaus Staatshaushalt in Nöte geraten.

Angesichts dieser Zahlen hat längst ein Röhren-Rennen begonnen. Die EU plant, eine Pipeline am Bauch von Russland vorbei aus dem Kaspischen Becken über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei bis nach Österreich zu verlegen. Russlands Gasprom-Planer richtet den Blick derweil nach Osten, auf den potenziellen Großabnehmer China.

Bis diesen Alternativen gelegt sind, können allerdings noch gut zehn Jahre vergehen. Bis dahin wäre Europa gut beraten, die Alternativen zur russischen Gasabhängigkeit zu nutzen, die es heute schon gäbe: Strom und Heizwärme sparen, regenerative Energien fördern, nationale Energiekartelle zerschlagen und – jedenfalls bis auf Weiteres – Atomkraftwerke am Netz lassen. Aber das wären zum Teil eben höchst unpopuläre und zähe Vorhaben.

Am Freitag wird der EU-Ratspräsident in Nizza dem russischen Präsidenten Dimitri Medwedew in Nizza treffen. Bei dem Gipfel wird es vor allem darum gehen, die Russen zur Garantien über künftige Gaslieferungen in Europa zu bewegen. Gut, wenn der Franzose aus diesem Anlass ein Auge zudrücken kann gegenüber jenen Völkerrechtsgrundsätzen, für die er noch im August leidenschaftlich eingetreten ist.

 

Antwerpener Moment

Die unsichtbaren Regisseure von Samstag Nachmittagen setzen bisweilen unerhört gute Szenen. In einem Café am mittelalterlichen Marktplatz von Antwerpen strecken wir einen Moment lang die Beine aus und versuchen zu rekapitulieren, wann dieses so nordisch wirkende Städtchen eigentlich katholisch wurde.

Klar – die spanischen Habsburger waren es, die zu Zeiten ihres Imperiums im 16. Jahrhunderten die protestantischen Erhebungen in ihrer damals spanisch-niederländischen Provinz niederschlugen.

Während wir uns noch über genaue Jahreszahlen streiten, trippeln, wie aus dem Nichts, zwei seltsame Männer an unserem Tisch vorbei.

Der eine trägt einen Plastik-Ritterhelm auf dem Kopf und einen Besenstiel in der Hand. Von seiner Hüfte baumeln Zotteln mit angeklebten Pferdehufen herunter. Staunend zieht ein Teleskop aus seinem Umhang, richtet es auf die imposanten Fassaden der Antwerpener Gildehäuser und hält im nächsten Moment seinen dicklichen Begleiter zur Flucht an. Sancho Pansa gibt seinen Stoff-Eselsbeinen die Sporen – und beide galoppieren davon.

Wir stutzen. Irgendwie war das gerade eine geniale Performance.

Aber warum?

Nun ja, wie breitete sich noch die Neuzeit über Europa aus? Von Norden her erfasste zu Zeiten des Don-Quijote-Schöpfers Cervantes die Reformation den Kontinent. Sie zwang, in einer Ära tiefer Verunsicherung, als Handelssegler (viele von ihnen von Antwerpen aus) in neue Welten aufbrachen, den Menschen zum Nachdenken über sein Selbst.

Cervantes schickte zur selben Zeit seinen Quijote von Süden aus ebenfalls auf eine Existenz-Entdeckungsreise. Der Ritter von der traurigen Gestalt, er wandelt sich im Roman durch seine Irrungen vom Narren zum Weisen, wird schließlich zur Gestalt seiner Erfahrungen. Zum ersten Mal in der Literaturgeschichte schaffte Cervantes so eine Figur, die nicht der Autor, sondern die den Autoren beherrschte.

Hier in Antwerpen, wo germanischer Protestantismus und spanische Romantik aufeinander prallten, einen Wiedergänger dieses Apostels über den Marktplatz hoppeln zu lassen, staunend inmitten chinesischer Touristen und handyflötender Belgier, das ist schon eine Idee von beinah kosmischer Qualität.

Wir rühren, seltsam berührt, in unserem Milchkaffee. Jungejunge. So viel europäische Volksseele war selten in fünf Sekunden.

 

Brüssel hilf!

Mal eine Wette: In ein paar Jahren wird es handyfreie Zonen geben, genauso wie es heute raucherfreie Zonen gibt. Die EU wird Gutachten über den Stressfaktor Mobilfunkbimmelei in Auftrag geben, einheitliche Schutzstandards definieren und bürgerfreundliche Regulierungen vorschlagen. Es dauert eben eine Weile, so die Lehren des Nikotins, bis gewisse Kulturpraktiken als gesundheitsschädlich anerkannt und abgestellt werden.

Schulen, das zeigt sich währenddessen auch in Sachen Handysucht, verdeutlichen uns gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklungen wie unterm Brennglas.

In einer ruhigen Stunde an einem Ort im nördlichen Norddeutschland, wo man glückerlicher Weise nur die Wildgänse rauschen hört, erzählte mir ein Freund – er ist seit kurzem Lehrer an einer Gesamtschule – folgende Geschichte: Er habe neulich in einer Unterrichtsstunde innerhalb von drei Minuten “die fünf möglichen Störungen durch Mobiltelefone” erlebt.

Als erstes, berichtet er, klingelte beim einem Schüler das Handy. Als der Freund den jungen Mann bat, das sich anschließende Gespräch (!) zu beenden, bemerkte er, wie unter der Nebentischplatte ein Nachbar damit beschäftigt war, eine sms zu verfassen. Zwei andere Schüler sahen sich ein Pornofilmchen auf dem Display an.

Noch bevor der Freund mit all seiner Autorität durchgreifen konnte, vernahm er hinter sich eine seltsam blechernen Türkpopp-Melodie. Er stammte – Sie ahnen es – aus einem Handy, dessen Besitzer mit demselben auf den Tisch gestiegen war, um einen geschmeidigen Hüfttanz vorzuführen. Den Versuch des Freundes, den jungen Mann zum Herunterkommen zu bewegen, dokumentierte ein fünfter Beteiligter mit seiner Handykamera.

“Was soll ich machen?”, fragt der Freund. “Wenn ich in so einer Situation ausflippe, landet das Video nachher bei YouTube.” Er gebe schon Kollegen, denen das passiert sei.

Ich redete dem Freund zu: Mach es öffentlich! Prangere es an! Erzähl den Menschen von deinem Schicksal! Die Risiken und Nebenwirkungen des Handymissbrauchs, die gehen schließlich uns alle an.

 

Ein kleiner neuer Weltenbund

Warum es Vertrauen schaffen kann, wenn die politische Macht vom Bürger wegrückt


Im Brüsseler Ratsgebäude

Große Worte rauschen diese Tage durch Brüssel. Was die Welt jetzt brauche, sei eine „neue Finanzmarktverfassung“ heißt es während des Treffens der 27 Staatschefs und ihrer Außenminister. Sprich: Die EU allein ist zu klein für die Aufgabe, in Zukunft eine ähnliche Finanzkrise wie die derzeitige zu verhindern.

Nicht nur die G8-Staaten, da sind sich die EU-Chefs einig, müssen jetzt zusammenkommen, um sich neue Verkehrsregeln für die Kapitalflüsse um den Globus zu überlegen, sondern auch die Schwellenländer China, Indien und Brasilien. Der „internationale Finanzgipfel“, so Außenminister Frank-Walter Steinmeier, solle außerdem die Golfstaaten und Singapur einschließen.

Steinmeier im O-Ton bei der Abschlusspressekonferenz (gut 7 Minuten)

Am besten noch im November, so der Wunsch der Europäer (die Schlussfolgerungen ihrer Sitzung hier), sollen die mächtigsten Repräsentanten der Menschheit zusammenkommen, um neue Weltfinanzgesetze zu beschließen. Sie könnten beispielsweise regeln, welche Liquiditätsreserven Banken aufweisen müssen, um besser vor Insolvenz geschützt zu sein. Sie könnten regeln, dass Steueroasen, vor allem in der Karibik, geschlossen werden. Sie könnten beschließen, dass ein Teil des Verfallsrisikos von Derivaten bei den Banken bleibt, die sie verkaufen.

Ähnlich wie die Welthandelsorganisation (WTO) könnte der Internationale Währungsfonds (IWF) diese Verkehrsleitaufgabe übernehmen – vorausgesetzt, die Mitgliedsstaaten übertragen der Organisation dafür die Kompetenzen.

Das, was sich hier entwickelt, ist bemerkenswert. Denn es ist ein Beispiel dafür, dass Subsidiarität (der Vorrang der unteren Ebene) unter den Bedingungen der Globalisiertheit auch bedeuten kann, Souveränität an die nächsthöhere supranationale Instanz zu übertragen. Was wir da beobachten, ist, mit anderen Worten, nichts anders als ein neues Stückchen Weltföderalismus.

Vielleicht lohnt es sich, daran zu erinnern, woher das Wort „Föderalismus“ stammt. Es leitet sich vom Lateinischen „fidere“, vertrauen, ab und ist verwandt mit „foedus“, Vertrag. Der wohl erste Vertrauensvertrag, den die Menschen als solchen benannten, war der „Bund“, den das Volk Israel mit Jehova schloss: sie erkannten ihn als einzigen Gott an, er im Gegenzug machte seine Anhänger zu Auserwählten.

In der Neuzeit säkularisierte vor allem der schottische Philosoph David Hume die Föderalismusidee. Ist es nicht ganz natürlich, fragte er, wenn der Mensch sich wünscht, dass die Entscheidungen, die über ihn gefällt werden, von Autoritäten getroffen werden, die ihm nahe stehen, die er kennt? Also am besten auf lokaler Ebene? Gleichzeitig, so Hume, weiß der Mensch natürlich auch, dass es Probleme gibt, die nur von einer höheren, mächtigeren Autorität gelöst werden können.

Kleine Republiken, schreibt Hume schon im 18. Jahrhundert, sind „schwach und unsicher“, während „eine große Regierung, die meisterlich aufgestellt ist, Bewegungsspielraum und Kompass besitzt, um die Demokratie zu verbessern, indem sie sie von unteren Leuten auf höhere Schiedsmänner überträgt, die alle Bewegungen steuern.“ (Hume, The Idea of a Perfect Commonwealth, in: Selected Essays, 1996, S. 314)

Föderalismus bedeutet, kurz gesagt, Vertrauen notwendigenfalls auf eine mächtigere, wenn auch entferntere Stufe zu übertragen.

Ist es nicht interessant, wie Humes Prinzip heute auf einer Dimension funktioniert, die er selber sich wohl nie hätte vorstellen können? Da überträgt die ohnehin schon bürgerferne und schwach demokratisch legitimierte EU Souveränität an eine noch distanziertere, noch expertenhaftere Weltorganisation – und der Bürger? Er fasst tatsächlich neues Vertrauen.

 

Am Limit

Warum die EU in der Finanzkrise kaum mehr etwas ausrichten kann

Europa wuchs bisher mit jeder Katastrophe.

Nach dem 11. September erkannte es die Risiken unzureichenden Informationsaustausches zwischen seinen Polizeien und Geheimdiensten. Die Folge war eine Vertiefung der gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik, mit dem prominentesten Produkt des Europäischen Haftbefehls.

Nach dem Irakkrieg erkannte es die Risiken der Abhängigkeit von einem fremden GPS-System. Die Folge war Galileo, ein eigener europäischer Satelliten-Ortungsverbund.

Nach der Finanzkrise erkannte Europa die Risiken von… ja, was eigentlich? Einem ungefesselten amerikanischen oder europäischen Finanzmarkt? Die Folge ist… ja, was eigentlich?

Sowohl mit der Diagnose wie auch mit möglichen Reaktionsformen auf den Zusammenbruch der Kreditspekulationen werden sich die europäischen Staatschefs am Mittwoch und Donnerstag beim ihrem Ratsgipfel in Brüssel beschäftigen.

Was bisher geschah: Die EU-Finanzminister einigten sich darauf, notfalls in einer konzertierten Aktion Banken zu retten, die „systemrelevant“ für Europa sind. Im übrigen hilft sich erst einmal jeder Mitgliedsstaat selbst. Insgesamt stehen die wichtigsten Euro-Staaten ihren Banken mit rund 2000 Milliarden Euro als Bürgen zur Seite.

Für eine gemeinsame Stützungsaktion fehlt der EU derweil erstens die Kompetenz und zweitens der Wille. Einen gesamteuropäischen Hilffonds, wie von Nicolas Sarkozy vorgeschlagen, für trudelnde Kreditinstitute aufzulegen, halten insbesondere die Deutschen für keine gute Idee. Damit würde die EU „falsche Anreize“ schaffen, heißt es aus Kreisen der Bundesregierung. Immerhin könnte ein Sack Geld Begehrlichkeiten bei den falschen Leuten auslösen, wenn er erst einmal auf dem Tisch stehe.

Was also können die EU-Staatschefs in Brüssel eigentlich noch tun?

Nun, sie können sich zunächst einmal anhören, was ihnen der Chef der EU-Kommission, José Manuel Barroso, zu sagen hat. Der Mann war in den vergangenen heftig dafür kritisiert worden, dass es seine Mannschaft angeblich trotz besseren Wissens unterlassen habe, Vorschläge für eine striktere Regelung der europäischen Finanzmärkte vorzulegen.

„Die Politik der Kommission war es, weniger zu regeln, weniger zu intervenieren“, ärgert sich der Fraktionschef der europäischen Sozialisten im Europaparlament, der Deutsche Martin Schulz (SPD). Den Binnenmarktkommissar Charlie McGreevy (Irland) nennt Schulz einen „Apologeten einer irregeleiteten Marktradikalität.“ Der Mann sei „nicht mehr tragbar“, so Schulz. Der SPD-Mann hat Barroso nach eigenen Angaben aufgefordert, McCreevy von seinem Posten zu entfernen.

Barroso und McGreevy ihrerseits schieben das Ausbleiben von strikteren Regelungen den EU-Mitgliedsstaaten zu. Allen voran Deutschland und Großbritannien hätten sich gegen eine genauere Aufsicht auf Finanzprodukte gestemmt. Gleichwohl verspricht nun der Kommissionschef: „Die Kommission wird noch in dieser Woche einen Gesetzesvorschlag für eine europaweite Vereinbarung über Kreditgarantien vorlegen.“

Aber würde das helfen, eine nächste Krise zu verhindern? Und selbst wenn sich Europa schon heute die besten Finanzmarktregeln der Welt gehebt hätte: Hätte uns das vor den Sogeffekten des Crashs in Amerika geschützt? Europa kann sich zwar regulieren. Abschotten von den globalen Kapitalflüssen kann es sich nicht.

Frage also an Martin Schulz: Stößt Europa in der gegenwärtigen Krise nicht an die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit? Müsste nicht die amerikanische Regierung mit am Tisch sitzen, wenn die EU-Staatschefs über die Folgen des Crashs beraten.

„Das geschieht ja im Rahmen der G8“, antwortet Schulz.

Das stimmt zwar. Aber ob die G8 das passende Gremium für dieses Thema sind, das ist die nächste Frage. Denn was passiert eigentlich, wenn die nächste Finanzkrise von China oder Indien ausgeht? Mehr als ein Drittel der 6,5 Milliarden Weltbewohner werden von zwei Hauptstädten, Peking und Neu-Delhi, aus regiert. Und keines der beiden Länder ist Mitglied der G8.

„Außergwöhnliche Ereignisse rufen nach außergewöhnlichen Maßnahmen“, sagt José Manuel Barroso mit Blick auf den anstehenden Ratsgipfel.

Da hat er Recht. In diesem Fall hieße das aber, über den europäischen Tellerrand hinaus zu schauen.

 

Weltordnung der Wohnzimmer

Der Freund in Kopenhagen ist einigermaßen pikiert. Ikea? Da kauft ihr noch ein? Ob wir denn noch nicht mitbekommen hätten, was für Chauvinisten diese schwedischen Möbeldesigner seien?

Ikea trampelt auf dem Dänentum herum!, zürnt er. Alle möglichen Teppiche und Toilettenartikel im ach so freundlichen Möbelhaus seien nach dänischen Orten benannt – eine Ungeheuerlichkeit. Will sich Ikea mit Dänemark anlegen?, fragen schon die Zeitungen im Inselreich.

Tatsächlich glaubt, wer den Ikea-Katalog geografisch liest, bald nicht mehr an einen Zufall.

BORNHOLM zum Beispiel, eigentlich bekannt als idyllische Ostseeinsel, ist bei Ikea ein ziemlich spackiger Billigteppich (naturbraun, 4,99 Euro).

SKAGEN, das sympathische Hafenstädtchen an der Nordspitze Jütlands, STRIB, ein freundlicher Ort auf Fünen, und HELSINGÖR, das Hafentor nach Schweden, teilen in der Weltordnung der Wohnzimmer allesamt dasselbe Unterlingenschicksal: Teppiche.

Von NIVÅ erst, der Stadt auf Seeland, die sich als Trittschalldämmung zum Verlegen unterm Laminatfußboden wiederfindet,
reden wir aus nachbarschaftlicher Rücksicht lieber gar nicht erst.

Ebenso wenig wie von ÖRESUND (eigentlich: die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden), der sich im kleinteiligeren Sortiment als Toilettensitz (Antikbeize oder Birke, 16,99 Euro) wiederfindet.

Nicht unerwähnt bleiben sollte derweil, dass eines der stylishsten und teuersten Sofas im Katalog den stolzen Namen STOCKHOLM trägt.

Die gute Nachricht freilich lautet: Die Dänen nehmen die Affäre gelassen, als brüderlich skandinavische Kabbelei eben. Gerüchteweise heißt es bloß, die Geschäftswelt denke über einen mehr oder weniger subtilen Gegenschlag
nach. Die dänische Carlsberg-Brauerei, munkelt man in Kopenhagens Kneipen, werde sicher bald ein besonders leichtes Light-Bier auf den Markt werfen – unter dem Namen einer hübschen schwedischen Stadt.