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Kein Frieden ohne McDonald’s

Es gibt Themen, mit denen beschäftigt sich der Europa-Korrespondent eher pflichtschuldig, denn aus Leidenschaft. Der Kosovo gehört dazu. Seit Wochen kocht Brüssel vor Kosovo. Wann genau wird die abtrünnige Serbenprovinz ihre Unabhängigkeit erklären? Welche EU-Ländern erkennen diese Sezession dann an? Welche verweigern einer EU-geführten Rechtsstaatsmission womöglich die Zustimmung? Was passiert in der Folge in anderen Staaten, in denen ebenfalls geografisch konzentrierte Minderheiten die Eigenständigkeit anstreben? Erhitztes Spekulieren allerorten.

Immerhin geht soeben ein Aufatmen durch Europas Hauptstadt, angesichts des knappen Wahlsiegs des EU-freundlichen Boris Tadic. Schon bald, so stellt es Kommissionspräsident Manuel Barroso jetzt in Aussicht, könnten die Außenminister der Union ein politisches Kooperationsabkommen mit Belgrad abschließen, um den Freihandel, die Reisemöglichkeiten und den Studentenaustausch zu erleichtern.

Aber offen gesagt interessiert mich an der ganzen Debatte vor allem eine Metafrage, die vielleicht viel zu selten gestellt wird.

Sie lautet:

Warum beruhigen sich die Balkanesen nicht endlich einmal? Seit 1991 zerlegt sich Ex-Jugoslawien in seine Einzelteile, das Kosovo ist der siebte Mini-Staat, der auf dessen ehemaligem Territorium entsteht. Ich glaube nicht falsch zu liegen, wenn ich behaupte, dass der Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern inzwischen vielen Mitteleuropäern ärgerlich archaisch erscheint. Er tut dies vor allem deswegen, weil er sich einer Zivilisationslogik zu entziehen scheint, von der wir dachten, sie hätte sich mittlerweile mindestens bis in die EU-Peripherie durchgesetzt.

Sie fußt auf der Gründungsphilosophie der EU, die besagt, dass wirtschaftlich eng miteinander verflochtene Gesellschaften keinen Krieg gegeneinander führen. Dieses Ex-EU-Friedenspatent hat sich mittlerweile längst über Europa hinaus entgrenzt. Die Globalisierung ist in vielen Bereichen nichts anderes als die EUisierung der Welt. Immer wieder wird die wirtschaftliche Einebnung des Planeten als Garantie für Frieden beschrieben.

„Wo Kommerz ist, herrschen gesittete Manieren und Moral“, schrieb schon Montesquieu. „Die natürliche Wirkung des Handels ist es, zu Frieden zu führen.“

„Der Freihandel ist Gottes Form der Diplomatie“, dichtete prophetisch der britische Politiker Richard Cobden 1857. „Es gibt keinen anderen sicheren Weg, Völker in den Banden des Friedens zu vereinen.“

Über das tolerante Treiben an der Londoner Börse schrieb Voltaire im sechsten der „Philosophischen Briefe“: Es ist dies ein „respektablerer Ort als viele Gerichtssäle. Man sieht Vertreter jeder Nation versammelt, zum Wohle der Menscheit. Der Jude, der Mohammedaner und der Christ handeln hier miteinander als teilten sie dieselbe Religion, und die Bezeichnung „Ungläubige“ reservieren sie für jene, die bankrott gehen (…). Am Ende dieser friedlichen und freien Versammlung gehen die einen zur Synagoge, die anderen eins trinken; dieser lässt sich in einem großen Bottich im Namen des Vaters vom Sohne für den Heiligen Geist taufen, jener lässt seinem Sohn die Vorhaut beschneiden und über das Kind hebräische Wörter murmeln, die er überhaupt nicht versteht; die anderen gehen in ihre Kirche, um mit dem Hut auf dem Kopf die Inspiration Gottes zu erwarten, und alle sind zufrieden.«

1996 beobachtete der amerikanische Intellektuelle Martin Walker: „Das Zeitalter der Geopolitik ist einem Zeitalter gewichen, das man das Zeitalter der Geoökonomie nennen könnte.“ Und im Jahr 2000 formulierte der Amerikaner Robert Wright mit Nonzero: The Logic Destiny die Theorie, dass die Geschichte trotz mancher Querschläge „gerichtet“ verlaufe, nämlich weg von einer konfrontativen, kriegsgeneigten Welt hin zu einer kooperativen Ordnung, in der Krieg für alle Nationen zuverlässig ein Verlustgeschäft bedeutet. „In der grundsätzlichen Flugbahn der Geschichte entstehen immer wieder neue Technologien, die immer neue und reichere Formen der Nicht-Nullsummen-Interaktion erlauben. Im Ergebnis wird die Menschheit in einem größer und reicher werdenden Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten verankert.“

Oder, in den heutigen Worten des EU-Kommissionsvorsitzenden Barroso:

„Wir möchten Serbiens Fortschritt in Richtung der Europäischen Union beschleunigen. Wir glauben, dass engere Bande mit der EU nicht nur die Rolle Serbien auf der internationalen Bühne stärken wird, sondern auch zu größerem Wohlstand und Wohlergehen für das serbische Volk führen wird.“

Ein wenig popularisierend fasste der amerikanische Journalist Thomas Friedman diesen Gedanken zu Anfang des 3. Jahrtausends in die „Theorie der Konfliktvermeidung durch den Goldenen Doppelbogen“ zusammen. In seinem Buch Die Welt ist flach schreibt er:

„Sobald ein Land wirtschaftlich so weit entwickelt ist, dass es über eine ausreichend große Mittelschicht verfügt, um eine Kette von McDonald’s-Restaurants zu unterhalten, wird es ein McDonald’s-Land, und Menschen in McDonald’s-Ländern führen nicht gern Kriege, sondern stellen sich lieber nach Big Macs an.“

Tatsächlich, so Friedman, hätten (jedenfalls nach Auskunft der McDonald’s-Pressestelle) bisher noch nie zwei Länder, in denen sich McDonald’s-Filialen befänden, gegeneinander Krieg geführt – von Grenzstreitigkeiten und Bürgerkriegen abgesehen.

Friedmans Beobachtung stimmt zwar nicht. Was stimmt, ist aber, dass wenn sie zwei McDonald’s-Länder gegeneinander führen, uns eben diese Kriege immer besonders bizarr, kleinkariert und unzeitgemäß vorkommen. Der Krieg zwischen Großbritannien (großer Burger-Vertilger) und Argentinien (großer Burger-Lieferant) um die Falklandinseln von 1982 wäre so ein Beispiel. Der 33-Tage-Krieg zwischen dem Libanon und Israel von 2006 ein anderes. Als Ikonografie letzteren Konflikts ist uns treffenderweise ein Foto in Erinnerung, dass eine Gruppe junger Menschen in einem glitzernden Cabrio vor der Trümmerlandschaft Süd-Beiruts zeigt. Die Ausflügler machen darauf einen so erstaunten Eindruck, als seien sie auf dem Weg in ein Drive-in plötzlich im Zweiten Weltkrieg gelandet.

Tatsächlich ergibt eine kurze Internetrecherche, dass gibt es zwar in Belgrad eine Mc-Donald’s-Filiale gibt, nicht aber in Pristina. Ist also die fehlende wirtschaftliche Mittelschicht Schuld daran, dass der Balkan einfach nicht zur Ruhe kommen will? Oder, anders gefragt, warum hat Serbien die Mitgliedsvoraussetzung allerfriedliebender Völker ergattert, das Kosovo aber nicht?

Einen Teil der Antwort gibt heute im Handelsblatt der in Pristina ansässige indische Weltbankvertreter Ranjit Nayak:
„40 Prozent der Kosovaren leben unter der Armutsgrenze, weitere 15 Prozent sind sogar extrem arm.“ Das Bruttoinlandsprodukt des Kosovo sei so groß wie das von Ägypten, die Bevölkerung sei zur Hälfte jünger als 25 Jahre und zum nahezu gleichen Anteil arbeitslos.

Der andere Teil der Antwort lautet womöglich, dass die rund 2 Millionen Kosovaren zuviel Hoffnung und Energie auf die Wirkung der Unabhängigkeit gesetzt haben. Und sich zu sehr auf die UN verlassen haben, die in den vergangenen acht Jahren 22 Milliarden Dollar in die Provinz gepumpt hat, um die Wirtschaft anzuwerfen und Verwaltungsstrukuren zu schaffen. 17 000 Nato-Soldatten sollen für Sicherheit sorgen und unter anderem die schätzungsweise 120 000 Serben inj der Provinz beschützen. Nach acht Jahren UN-Protektorat wird aus dem Kosovo nun ein EU-Protektorat. Doch statt Partnerschaft und Wirtschaft blühen heute vor allem Nationalismus, Korruption und organisiertes Verbrechen.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sieht einen „eindeutigen Zusammenhang“ zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie. „Transformationsprozesse geschehen zwar unabhängig vom Entwicklungsniveau eines Landes, sie werden jedoch seltener in Ländern wieder rückgängig gemacht, in denen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine Schwelle von 6000 Dollar pro Kopf der Bevölkerung erreicht oder überschritten hat“, schreibt Fukuyama (Scheitert Amerika?, List 2007, S. 131 f.).
„Das erklärt die Korrelation zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratie (…) und legt den Schluss nahe, dass eine politische Entwicklung eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung zur Vorraussetzung hat.“

Dem Journalisten Fareed Zakaria kommt sofort Europa in den Sinn, wenn er danach fragt, warum der Wohlstand der Nation die Freiheit fördert:

„Wirtschaftswachstum schuf die beiden wichtigsten Voraussetzungen einer nachhaltigen Liberalisierung und Demokratisierung: Erstens sicherte es gesellschaftlichen Schlüsselgruppen, speziell den Unternehmern und der Bourgeoisie, einen von der Amtsgewalt losgelösten Einfluss. Zweitens lernte der Staat in den Verhandlungen mit diesen Gruppen, seine Habgier und seine Launen zu zügeln, Spielregeln zu beachten und wenn schon nicht auf die Wünsche der Gesellschaft als ganzer, so doch wenigstens auf diejenigen der Eliten einzugehen. Das – oft unbeabsichtigte – Ergebnis war ein Zuwachs an Freiheit.“ (Das Ende der Freiheit, dtv 2007, S. 67)

Vielleicht also erscheint uns das Kosovo-Problem so archaisch, weil es dort immer noch zu viele irrationale Akteure gibt, denen große Leidenschaften wichtiger sind als basale Bedürfnisse (fassen wir für eine ironische Sekunde das Burgervertilgen darunter). Und aus großen Leidenschaften, schon Shakespeare hat’s gepredigt, entstehen große Fehler.
„Die antiken Griechen glaubten, dass der menschlichen Natur etwas innenlebte, das sie thumos nannten, ein Temperament und eine Wildheit, die dazu diente, den Clan, den Stamm oder Staat zu verteidigen“, notiert Robert Kagan in seinem Buch The Return of History. „Die Aufklärer nun glaubten, dass Handel den thumos der Menschen zähmen oder gar beseitigen könne.“

Stolz, Glaube, Nationalismus – es gibt sie eben doch noch, die Menschen, denen derlei wichtiger ist als irdisches Gut. Wir notierten das erste Anti-Brecht’sche Globalisierungsgesetz: Wo erst die persönliche Moral kommt und dann das Fressen, versagt die Friedenskraft des gelben Doppelbogens.

Also, liebe Kosovaren: bitte, traut euch und baut ein McDonald’s. Dann klappt’s vielleicht auch mit dem Nachbarn.

 

Finger weg von meinen Fingern! – Juli Zehs Anklage gegen die EU und Otto Schily

Vielleicht wird den meisten Bundestagsabgeordneten erst auffallen, wozu sie am 23. Mai 2007 die Hand gehoben haben, wenn sie sie demnächst selbst auf den Scanner senken müssen. Jeder Deutsche, der einen neuen Reisepass beantragt, muss seit November vergangenen Jahres im Behördenzimmer zwei Fingerabdrücke hinterlassen. Die Fingerabdrücke werden in Form eines flachen Abdrucks im elektronischen Speichermedium des Passes gespeichert. So will es Absatz 4 Satz 1 des neuen Passgesetzes. Aber wollte dies tatsächlich auch die Mehrheit des Parlaments? Oder haben sich die Volksvertreter einwickeln lassen von einem raffinierten Gespinst aus Antiterror-Rhetorik, scheinbar unentrinnbaren europarechtlichen Zwängen und Geschäftsinteressen des damaligen Innenministers Otto Schily (SPD)?

So sieht es die Schriftstellerin Juli Zeh. Deswegen hat sie am Mittwoch dieser Woche, zusammen mit dem Leipziger Rechtsanwalt Frank Selbmann, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen den biometrischen Pass eingereicht. Für sie sei es, abgesehen von den zahlreichen Missbrauchsmöglichkeiten, die der „ePass“ eröffne, schlicht „eine entwürdigende Vorstellung“, ihre Fingerabdrücke abgeben zu müssen wie eine Kriminelle.

Zehs Verfassungsbeschwerde verspricht nicht nur wegen der Jeanne d’Arc’schen Konstellation – Juli gegen Schily – Dramatik. Sie stellt auch einer immer mächtiger werdenden Europäischen Union die überfällige Frage: Wie hältst Du’s mit den Bürgerrechten? Denn gerade bei den heiklen Fragen der inneren Sicherheit hat sich in Brüssel eine Rechtssetzungspraxis qua Minister-Ukas etabliert, die an nationalen Parlamenten und Öffentlichkeiten vorbei oft unliebsame Tatsachen schafft. Und die damit, wie es die gelernte Juristin Zeh sieht, „den Grundsatz der Gewaltenteilung auf den Kopf stellt.“

Minister hebeln das Parlament aus

So geschehen sei dies etwa am 26. Oktober 2004. Die Innenminister der EU, unter ihnen Otto Schily, treffen sich in Straßburg. Abgeschottet von jeder Opposition, beschließt die Versammlung der Antiterrordenker, biometrische Daten, also Gesichtsfelddaten und Fingerabdrücke, künftig in die Reisepässe aller Mitgliedsstaaten aufzunehmen. Begründet wird dies unter anderem mit der „Harmonisierung der Sicherheitsmerkmale“ in europäischen Reisedokumenten.

Das Europäische Parlament stimmt dem Beschluss am 2. Dezember mit 471 zu 118 Stimmen zu. Auch die deutsche Vorzeige-FDP-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin hebt die Hand zum Ja, im Reigen mit der Mehrheit der europäischen Liberalen.
Fragt man deren Vertreter heute, warum sie eine Entscheidung mittrugen, die im krassen Gegensatz zu ihren Parteigrundsätzen steht, heißt es, die Mitgliedsstaaten hätten „Druck“ gemacht. Gefragt, warum die Liberalen dann nicht wenigsten in Berlin Alarm schlugen, um auf ein brennendes Bürgerrechtsthema aufmerksam zu machen, antwortet ein EP-Abgeordneter: „Brüssel schreit ja durchaus manchmal. Aber wie das bei kleinen Kindern eben so ist – man überhört das Schreien manchmal.“

Dann fragt sich bloß, wozu sich Europa überhaupt ein Parlament als vermeintlichen Watchdog über Vorschläge aus der Kommission leistet. Alexander Alvaro, der sich als FDP-Abgeordneter im Europaparlament damals immerhin der Stimme enthielt, erinnert sich daran, dass seine Einwände auch zuhause, im Berliner Apparat, „nicht recht durchdrangen“. Zum einen sicher, weil kiloschwere Papiere aus der EU-Zentrale ohnehin selten geeignet sind, die Gemüter entfachten. Zum anderen aber, weil, wie es Alvaro formuliert, „wir doch wissen, wie Otto Schily auf Kritik reagiert.“

Die Pass-Verordnung jedenfalls ist nach der Zustimmung des Europaparlaments nicht mehr aufzuhalten. Sie entfaltet laut Artikel 62 EG-Vertrag für alle Mitgliedsländer bindende Wirkung.

Gutachter warnen – ohne Erfolg

Erst jetzt, nachdem eigentlich nichts mehr zu stoppen ist, warnen im Innenausschuss des Bundestages eine Reihe von Gutachtern, der biometrische Pass bringe mehr Unsicherheit als Sicherheit. Kriminelle könnten die Fingerabdruckdaten ausspähen und an Tatorten falsche Spuren hinterlassen, warnt Professor Andreas Pfitzmann von der TU Dresden:

„Fingerabdrücke in Pässen helfen Kriminellen und nicht nur Strafverfolgern. (…) Sie werden polizeiliche Ermittlungen deutlich erschweren. Die Schlussfolgerung aus dieser Sache ist, keine Fingerabdrücke in Pässe. Ich weiß, dass das nicht konform ist zu manchen Dingen, die auf EU-Ebene bereits beschlossen sind. Aber ich halte die Sache für dermaßen kritisch, dass ich denke, dass Sie als nationaler Gesetzgeber einen großen Fehler, den die EU gemacht hat, nicht auch vollziehen sollten. Warum? Die Aufnahme des biometrischen Merkmals ,Fingerabdruck‘ in Pässe und insbesondere seine Prüfung werden Menschen daran gewöhnen, ihre Fingerabdrücke an von ihnen nicht kontrollierbaren Geräten in hoher Qualität abzugeben. Die Menschen werden ihren Fingerabdruck bei vielerlei Gelegenheit abgeben. Damit werden Fingerabdrücke vielen Akteuren zugänglich, z.B. Grenzbeamten, Hoteliers, Läden. Alle diese werden sich dieser Technik anschließen, selbst dann, wenn sie Geräte zur Erfassung von Fingerabdrücken haben, die überhaupt nicht mit dem Pass zusammenarbeiten. Sie werden dort ein Gerät hinstellen und die Fingerabdrücke abnehmen und die Bundesbürger werden ihre Fingerabdrücke dort abgeben, denn sie sind entsprechend konditioniert. Damit haben fremde Geheimdienste und auch Kriminelle nach kurzer Zeit eine große Sammlung von deutschen Fingerabdrücken, und sie werden natürlich von diesen Mitteln in ihrem Sinne Gebrauch machen. Gebrauch machen bedeutet – sie finden die entsprechenden Videos im Internet, ich kann auch gerne die URLs vorlesen, wenn Sie darauf Wert legen -. Sie können mit Fingerabdrücken, mit Bildern von Fingerabdrücken so gute Fingerreplikate herstellen, dass gängige Fingerabdrucksensoren problemlos zu überlisten sind. Schlimmer noch ist, wenn Sie noch ein bisschen Biologie und Chemie kennen, und das ganze mit ein paar Aminosäuren anreichern, dann werden Sie damit am Tatort auch Fingerabdrücke hinterlassen können, die für die Forensik eine große Herausforderung darstellen, ob Sie die von natürlichen Fingerabdrücken unterscheiden können.“

Ausländische Geheimdienste könnten auf diese Weise Bürger anderer Staaten kompromittieren und zur Zusammenarbeit zwingen. Kein Mensch wisse, in welche Hände die Daten im Ausland gelangen könnten.

Es bestehe das Risiko, warnt der Sachverständige Lukas Grunwald, „dass Länder, mit denen die biometrischen Daten einmal geteilt worden sind, diese Zugangsschlüssel speichern können, und später, auch wenn ihnen der geteilte Zugriff auf die biometrischen Daten der Bürger des entsprechenden Schengen-Bereichs aberkannt wird, weiter unberechtigt auf die biometrischen Daten zugreifen können, weil kein Rückrufmechanismus existiert.“
Es müsse beachtet werden, „dass allein das optische Auslesen der maschinenlesbaren Zone genügt, um Informationen zu gewinnen, wie z.B. auch an das biometrische Template, um also an ein perfektes Bild nach biometrischen Maßstäben heranzukommen. Es hilft dabei nicht, wenn diese Informationen nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sicher sind, schließlich sind ePässe auch dazu da, dass damit verreist wird und diese somit weltweit gewissen Risiken ausgesetzt sind.“

In den USA wäre ein ePass undenkbar

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und Informationsfreiheit, Peter Schaar, gab im Innenausschus des Bundestages zu Protokoll: „Es handelt sich dabei, wie sich das mittlerweile herausgestellt hat, um einen europäischen Sonderweg. Kaum ein Staat auf der Welt ist diesem Weg bisher gefolgt, und ich nehme auch an, dass sich daran nicht viel ändern wird. Selbst die Verfahren, die bei den europäischen ePässen verwendet werden, werden in anderen Staaten, in denen Fingerabdrücke in Pässe aufgenommen werden, nicht angewandt. In den USA wird die Verwendung der Fingerabdrücke aus den von Prof. Pfitzmann genannten Gründen ausdrücklich abgelehnt.“

Zudem räumt selbst die Bundesregierung ein, dass keiner der islamistischen Anschläge, weder der vom 11. September 2001, noch der von Madrid 2004 oder London 2005 sei mit biometrischen Pässen zu verhindern gewesen sei. In einer Parlamentarische Anfrage verlangte die Fraktion Die Linke im Mai 2007 Auskunft auf die Frage:

„Bei wie vielen der durchgeführten oder geplanten und aufgedeckten oder sonst verhinderten vermutlichen terroristischen Anschläge seit dem Jahre 2000 spielten bei Planung und Durchführung gefälschte deutsche Pässe oder Ausweise eine Rolle (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren und Anlass darstellen)?“

Die Antwort der Bundesregierung:

„Der Bundesregierung sind keine derartigen Fälle bekannt.“

Trotzallem, das rot-grüne Berlin lässt Schilys Biometrie-Projekt passieren. Nach Schilys Ausscheiden aus dem Bundeskabinett geht der SPD-Abgeordnete zudem eine pikante Geschäftsbeziehung ein. Er steigt als Aufsichtsmitglied bei der bayerischen Firma byometric systems AG ein.

„Schriftsteller sind phantasiebegabt“, erwidert Otto Schily

Juli Zeh pocht in ihrer Verfassungsbeschwerde darauf, dass Schily bislang nicht die Einkünfte öffentlich gemacht habe, die er als Aufsichtsratsmitglied dieses Biometrie-start ups bezogen habe. Auch um die Hintergründe dieses Sachverhalts zu klären, schmiedet Zeh sie in ihrer Klageschrift in schweres juristisches Geschütz um. Sie schreibt:

„Bezüglich des deutschen Vertreters im Europäischen Rat, dem ehemaligen Bundesinnenminister Schily, besteht die Besorgnis der Befangenheit. Otto Schily ist mittlerweile Aufsichtsratsmitglied der Byometric Systems AG, die im Bereich der Grenzkontrolle durch biometrische Erkennung tätig ist. Es ist nicht auszuschließen, dass sich der damalige Innenminister (…) von einem eigenen wirtschaftlichen Interesse leiten ließ.“

Das sei „grotesk“, antwortet Schily. „Schriftsteller sollen bekanntlich besonders phantasiebegabt sein“, entgegnet er gegenüber der ZEIT. „Als Grundlage für Gerichtsentscheidungen taugen Phantasieprodukte aber nicht. Bei der Firma handelt es sich um ein kleines bayerisches start-up-Unternehmen, das sich durch meine Unterstützung bessere Chancen im Export versprochen hat. Eine Vergütung für meine Aufsichtsratstätigkeit habe ich nicht erhalten. Inzwischen bin ich aus dem Aufsichtsrat wieder ausgeschieden. Die Firma byometric systems AG hat außerdem mit dem biometrischen Pass nichts zu tun.“

Schily räumt allerdings ein, dass die Firma in einem Bieter-Verfahren zusammen mit der Firma Bosch den Auftrag erhalten hat, am Frankfurter Flughafen ein Pilotverfahren für eine beschleunigte Grenzabfertigung per Iris-Kontrolle einzurichten.

Und doch es bleibt zu fragen, ob Schily und seine europäischen Ministerkollegen die Kompetenzen der EU nicht überdehnten, als sie den ePass über die Brüsseler Bande in die Mitgliedsstaaten hinein dekretieren – oder ob sie damit gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstießen, sprich: nur das mit Hilfe Europas zu regeln, was tatsächlich europaeinheitlich geregelt werden muss.
Innerhalb der EU, argumentiert Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde, brauche man doch gar keine Reisepässe, um vom einen Land ins andere zu gelangen. Damit „fehlt es vollständig an einem EU-spezifischen Bezug“ der Pass-Verordnung.

Schützt die EU die Grundrechte gut genug?

Interessant wird nun, ob das Bundesverfassungsgericht die Sache überhaupt annimmt. Denn seit 1986 geht das Gericht davon aus, dass der Grundrechtsschutz in der EU im wesentlichen dem deutschen Standard entspricht; solange sich dies nicht ändere, werde Karlsruhe Rechtsakte der EU nicht mehr überprüfen. 22 Jahre lang gingen die Richter also davon aus, die Grundrechte seien in Europa ganz gut aufgehoben. Der grundrechtliche Standard der EU sei dem in Deutschland »im wesentlichen gleichzuachten«, schrieben sie in ihrer berühmten »Solange II-Entscheidung«.

Doch das war eben 1986 – und damit lange vor dem 11. September 2001. Seit den Terrorattacken auf die USA hat sich einiges verändert im europäischen Rechtsdenken – nicht nur in etwa Großbritannien, wo Richter schon Folter und zeitliche unbegrenzte Haft ohne Anklage für hinnehmbar halten. Zugleich erklärte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Klage gegen den europäischen Haftbefehl ohne Umschweife, dass »die nationalstaatliche Schutzpflicht gegenüber dem eigenen Staatsangehörigen (…) zugunsten einer europäischen Zusammenarbeit zurückgenommen« wird.

Es sei für die Karlsruher Richter mithin längst an der Zeit, glaubt Juli Zeh, ihren „Solange“-Standpunkt zu überprüfen. Insbesondere bei Fragen der informationellen Selbstbestimmung böte die europäische Rechtssprechung bei weitem nicht den Standard, der in Deutschland herrsche, argumentiert sie.

Nach der rechtspolitischen Katalysatorwirkung des 11. September 2001 ist eines in der Tat deutlich geworden: Zwar arbeitet die EU immer stärker in der so genannten „Dritten Säule“ (Justiz und Inneres) zusammen, um Europa zu „einem Raum von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zu machen“. Doch das bedeutet keineswegs, dass sich auch der Grundrechtsschutz veredelt. „Je mehr Kompetenzen wir nach Brüssel verlagern, desto schlimmer wird es“, glaubt Juli Zeh vielmehr – dies gelte umso mehr, als der kürzlich beschlossenen Lissabon-Vertrag in Zukunft mehr europäisches Durchregieren ermöglichen. Tatsächlich hat Karlsruhe sich in jüngerer Zeit schon recht EU-skeptisch gezeigt. 2005 verwarfen die Richter verwarfen sie den Europäischen Haftbefehl, weil er nicht den deutschen Rechtsstaatserfordernissen genügte. Und neben der Klage von Zeh ist derzeit auch eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung anhängig, die auf eine EU-Richtlinie zurückgeht

Der Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, Vertreter der Deutschen Vereinigung Datenschutz, führt das zunehmende Unbehagen mit solchen Kontroll-Innovationen aus Brüssel auf ein offenkundiges Demokratiedefizit in der Europäischen Union zurück. Im Innenausschuss des Bundestages sagte er:

„Der ePass mit biometrischen Merkmalen einschließlich Fingerabdrücken auf einem RIFD-Chip wird kommen. Der Deutsche Bundestag und sein Innenausschuss zählen eher zu den letzten Gesetzgebungsorganen, die sich damit intensiv befassen können und sollen. Nun ist der ePass und vor allem die Verordnung (EG) Nr. 2252/04 nicht vom Himmel gefallen, sondern sie ist von der Bundesregierung im europäischen Rechtsetzungsprozess mit vorangetrieben worden. Sie erkennen daran, wie beispielsweise auch an der Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten, die ebenfalls auf Gemeinschaftsrecht beruhen soll, dass die Gesetzgebungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland mit zu den letzten gehören, die brisante bürgerrechtlich bedeutende Entscheidungen mitverantworten sollen. Man kann das Demokratiedefizit in der Europäischen Union nennen, und dieses Demokratiedefizit bricht sich nicht erst seit der Stärkung der Dritten Säule in der Europäischen Union verstärkt Bahn.“

Der Bundestag lässt sich von Brüssel entmachten

Aber könnten die nationalen Parlamente ihren Ministern nicht Zügel anlegen, um zu verhindern, dass sie solche Prozesse in Europa überhaupt anschieben? Tragen die heimischen Parlamente nicht gehörige Mitschuld an dem fahrlässigen Ausverkauf von nationalen Hoheitsrechten an die Brüsseler Gesetzesschmiede? Im Maastricht-Urteil von 1993 stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass »Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht« weiterhin Sache des Bundestages bleiben müssten. Warum sind sie es nicht mehr? Die Legislative bleibt immerhin der Kontrolleur der Exekutiven, und das Grundgesetz sieht keine Einschränkung dieses Grundsatzes vor, bloß weil es um Fragen der europäischen Integration geht.

Natürlich könnten Bundestagsabgeordnete ihre Minister strenger an deutsche Interessen binden. Selbstverständlich könnte der Bundestag dem jeweiligen Fachminister Weisungen mit auf den Weg nach Brüssel geben. Bisher reisen sie allerdings meist mit Blankoschecks. Das Parlament könnte zudem, wenn sich der Minister an diese Weisungen nicht hielte, die Sache zum Politikum machen.

Doch um dies zu bewerkstelligen, fehlt den Parlamentarien in der Praxis an dreierlei. An der richtigen Information, am richtigen Willen und am richtigen Zeitpunkt. „Natürlich bekommen wir alle Vorlagen aus Brüssel, bevor dort etwas beschlossen wird“, berichtet der rechtspolitische Experte der FDP-Bundestagsfraktion, Max Stadtler. „Aber allein die Fülle dieses Materials erdrückt einen schon.“ Zudem mache es der sprachliche Duktus der Dokumente zu einer echten Herausforderung, das Wesentliche aus ihnen herauszufiltern. „Da gibt es Vorreden, Präambel, Zielbeschreibungen… es ist sehr schwierig herauszufinden, um was es eigentlich geht.“ Sicher, wer hat schon die Muße und die Disziplin, sich durch diese Aktenberge zu wühlen, wenn um einen herum die handfeste deutsche Politik tobt? Und selbst wenn einzelne Abgeordnete diese Mühe auf sich nähmen – wann, fragt Stadtler, wäre für sie eigentlich der Zeitpunkt, aufzuschreien? Wenn Beschlüsse in der Kommission vorbereitet werden, kann der Parlamentarier noch darauf bauen, dass sein nationaler Minister später im Rat die Vorlage abbiegen oder verändern wird. Was dann tatsächlich hinter den verschlossenen Türen des Brüsseler Ratsgebäudes geschieht, bekommt allerdings kein Volksvertreter mit.
Und nach einem dortigen Beschluss müsste es ein Bundestagsabgeordneter schon gegen den erklärten Willen von 27 Ministern der Europäischen Union auflehnen. Fast verständlich, dass auf ein solch quijotische Unterfangen kein Parlamentarier seine Energie verwenden möchte.

Der FDP-Mann Stadtler hält diese Zustände für ein „Kernproblem“ im Umgang mit Europa. „Eine unmittelbare Beteiligung im Sinne eines imperativen Mandats gibt es gegenüber Brüssel nicht.“ Was zu einem Gutteil selbstverschuldet sei. „Das Zeugnis, das ich dem Bundestag in der Europapolitik ausstellen würde, wäre: Er bemüht sich redlich“, bilanziert der Bayer. Auch Stadlers Kollege Wolfgang Bosbach, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, hält den »marginalen Einfluss« des Bundestags für ein hausgemachtes Problem. »Mit europäischen Themen beschäftigen wir uns viel zu oberflächlich und zu selten«, räumt er ein. »Und dann tun wir so, als fielen Brüsseler Gesetze vom Himmel wie die Zehn Gebote.« Höchste Zeit also, dass die Berliner ihre irdische Instanz stärken.

Um in Zukunft nicht mehr derart überrumpelt zu werden wie es beim biometrischen Pass passierte, will der Bundestag in Brüssel nun ein eigenes Verbindungsbüro aufbauen. Von dort sollen Mitarbeiter, die sich deutschen, nicht europäischen Ideen verpflichtet sind, die relevanten Vorlagen durchforsten und Berlin vorwarnen, falls Unheil dräut. Genau dies wäre eigentlich Aufgabe der Europaparlamentarier. Doch diese sind ihren Berliner Pendants offenbar so suspekt wie eine Horde scheuklappenbewehrter EU-Lobbyisten. Die Kommunikation zwischen Bundestag und Europaparlament „gestört“ zu nennen, wäre noch eine wohlmeinende Übertreibung.

„Ich war immer ein großer Freund der europäischen Idee“, sagt Juli Zeh, die Autorin der bisher wohl schärfsten Anklage gegen die unkontrollierten Rechtsdurchgriffe der EU, „aber jetzt wird’s mir doch ein bisschen gruselig.“

 

Bochum ist überall

Gestern abend, Neujahrsempfang in der Landesvertretung von Baden-Württemberg. Es gibt Wein vom Staatsgut, Schnaps aus einer fahrbaren Brennerei und alemannische Karnevalisten, die, verschanzt hinter alptraumhaften Holzmasken, ihre Schultern an denen junger Damen schubbern.

Aber: es gibt ernste Themen auf dem Kontinent!

„Ach, Sie belasten diesen schönen Abend aber mit schweren Fragen“, antwortet der deutsche Kommissionsmitarbeiter.
Selber schuld ist er. Wer sich einem Journalisten in der Nokia-Woche als Mitarbeiter in der Industriedirektion der EU zu erkennen gibt, muss mit einer Minute des Nachbohrens rechnen.

Also, sagt er zögerlich, seien wir doch mal ehrlich. Standortverlagerungen gibt es fast täglich in Europa. Und, wer habe sich denn aufgeregt, als DHL bekanntgab, seine Europa-Zentrale von Brüssel nach Leipzig zu verlegen? Die Unternehmen gucken eben, wo sie Beihilfen abgreifen können und treffen danach ihre Investitionsentscheidungen. Sei es in Deutschland, Belgien oder Rumänien.

Ja aber, warum subventioniert die EU überhaupt solche Unternehmenswanderschaften? Könnte sie es nicht einfach dem Wettwerb der Mitgliedsstaaten überlassen, wo sich Firmen am wohlsten fühlen?

Ja, klar, sagt der Beamte. Deswegen will Verheugen die Beihilfen ja am liebsten ganz abschaffen. Bloß, gerade Deutschland profitiert doch von den EU-Milliarden. Meinen Sie, irgendein Unternehmen würde sich noch in an einem so komplexen, teuren Standort niederlassen, wenn wir nicht mit Startgeld locken würden?

In der Tat, da ist viel Wahres dran.

Das Logistikunternehmen DHL ist dabei, seinen europäischen Luft-Hub vom Brüsseler Flughafen zum Leipzig zu verlagern. Für den Ausbau des sächsischen Aiports hat die EU bereits 2004 über 70 Millionen Euro Beihilfen genehmigt. In Brüssel gehen – je nach Schätzung – 1700 bis 4000 Arbeitsplätze verloren, in Leipzig entstehen laut DHL 3000 Jobs.

Gerade der Osten Deutschlands profitiert im europäischen Vergleich überdurchschnittlich von EU-Hilfen. Deutschland wird zwischen 2007 bis 2013 insgesamt rund 26 Milliarden Euro aus dem EU-Strukturfonds bekommen, das sind etwa 7,5 Prozent des gesamten Topfes, also etwa doppelt so viel, wie ihm bei einer streng proportionalen Verteilung an alle 27 EU-Mitglieder zustehen würde (freilich ist Deutschland auch größter Nettozahler).

Denken wir uns die EU einmal für einen Moment weg. Würde die sächsische Landesregierung, würde der Bund dann nicht mit ebensoviel Geld versuchen, seine Infrastruktur so auszubauen, dass Unternehmen die Landschaften möglichst attraktiv finden? Und: warum überhaupt speisen Berlin, Rom oder Paris Milliarden in eine umständliche Verteilungsmaschinerie in Brüssel ein, wenn sie das Geld wahrscheinlich selber viel zielgerichteter in ihre Förderregionen spritzen könnten?

Oder wäre all das den Unternehmen womöglich völlig egal?

Genau das glaubt ein Europaabgeordneter der CDU, der sich lange mit Standortpolitik beschäftigt hat. Er hält den Anreiz, den Subventionen setzen könnten, für absolut vernachlässigenswert. Aus Unternehmersicht seien andere Faktoren entscheidend für Ansiedlung oder Nichtansiedlung. Vor allem seien dies:

– Kosten und Qualität der Zulieferfirmen
– Das Lohniveau
– Das Steuerrecht
– Das Arbeitsrecht (Wird der Unternehmer die Leute auch wieder los, wenn er sie nicht mehr brauchtr?)

In vielen dieser Punkte könne Deutschland einfach nicht mehr mithalten.

Standortpolitik ist eben Wettbewerb. Und die Subventionen der EU wohl nur der magere Versuch einer Verzerrung desselben.

 

Millionen für Nokia: Wiederholen wäre nicht gestohlen

Ich habe heute in Brüssel einen deutschen Politiker mit einem Nokia-Handy gesehen. Ich sage nicht, welchen. Ich will hier kein Shaming betreiben. Aber vorsichtshalber sage ich laut und deutlich, dass ich selbst ein Samsung-Modell besitze.

Natürlich herrscht auch in Brüssel Aufregung über die Entscheidung des finnischen Handy-Konzerns, sein Werk in Bochum zum Jahresende zu schließen. Rund 2300 Mitarbeiter sollen dort ihre Jobs verlieren, obwohl die Fabrik schwarze Zahlen schreibt. Von der Verlagerung nach Rumänien verspricht sich die Konzernzentrale in Helsinki 5 Prozent Einsparungen bei den Produktionskosten pro Gerät. So unsozial kennen wir die Skandinavier gar nicht.

Natürlich ist die Verlagerung aus Nordrhein-Westfalen, das dem Konzern 88 Millionen Euro Fördergelder bezahlt hatte, unmoralisch. Der grüne Bochumer Europaabgeordnete Frithjof Schmidt weist darauf hin, dass Nokia mit der Werksschließung „gegen alle Grundsätze einer sozial verantwortlichen Unternehmensführung, wie sie im entsprechenden Verhaltens-Kodex für Unternehmen der OECD festgelegt sind“, verstoße.

Tatsächlich hat die OECD Leitsätze für verantwortliche Unternehmungsführung herausgegeben. Von einem Verbot, profitable Werke zu schließen steht dort ausdrücklich zwar nichts. Aber die Leitsätze fordern Unternehmen auf, die Folgen zu bedenken, die eine Standortschließung für die Beschäftigten nach sich ziehen und – vor allem – zusammen mit den Betriebräten nach verträglichen Lösungen zu suchen, um die Konsequenzen möglichst mildern. *
Dass Nokia dies getan hätte, kann man dem Unternehmen nach allem, was bekannt ist, nicht nachsagen.

Aber: Rechtlich ist den Finnen nichts vorzuwerfen. Denn die Subventionsrichtlinien der EU sehen lediglich vor, dass Unternehmen frühestens fünf Jahre nach Erhalt der Förderungen ihren Standort verlagern dürfen. Sollte Nokia über die nordrhein-westfälische Landesregierung Fördermittel aus Brüssel erhalten haben, hätte das Unternehmen diese Frist eingehalten. Und selbst wenn Nokia nun für sein neues Werk in Rumänien neue Fördermittel erhalten sollte, geschähe dies völlig im Einklang mit den Subventionsrichtlinien der EU. Alle sieben Jahre erlässt die Europäische Kommission eine neue Fördermittelverordnung. Bis 2013 hat sie sagenhafte 975 Milliarden Euro zu vergeben. Sinn ist es, gerade den schwächeren Regionen beim Aufholen zu helfen.
Nokia profitiert also, wie es die SPD-Expertin für Strukturfonds, Constanze Krehl, festhält, „nur indirekt wie jedes andere Unternehmen von dem mit europäischen Fördergeldern errichteten Industriepark, in dem das Werk steht.“ Schließlich profitiert letztlich auch die deutsche Wirtschaft davon, wenn sich die Industrielandschaft in Rumänien modernisiert, das Lohnniveau steigt und die Osteuropäer sich mehr deutsche Waren leisten können.

Allerdings sollte sich die Europäische Kommission doch fragen, ob eine schlichte Bestandspflicht von fünf Jahren für Standorte nicht zum Subventionshopping verleitet, ob also manches Heuschreckenverhalten seinen Ursprung nicht in den bestehenden Regeln hat.
Laut Auskunft des SPD-Europaabgeordneten Helmut Kuhne (Wahlkreisabgeordneter aus Bochum), hat das Europäische Parlament bereits 2006 beschlossen, gegen Unternehmen, die innerhalb von sieben Jahren nach Erhalt der Förderung ihren Standort verlagern, Sanktionen zu verhängen. „Die Kommission“, so Kuhne, „hat diese Frist aber auf fünf Jahre herabgesetzt.“

Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, diese Frist nicht nur zu verlängern, sondern auch die moralischen Standards der OECD in EU-Recht zu gießen. Sprich, eine sehr rigide Regel zu erlassen: Ein mit EU-Subventionen errichtetes Werk darf nicht geschlossen werden, solange es Gewinn macht. Ansonsten wären die Subventionen zurückzuzahlen.

Sicher, eine solche Regel verstieße gegen den guten kapitalistischen Grundsatz, wonach Unternehmen nicht bloß Gewinn machen sollen, sondern maximalen Gewinn. Aber wenn sie dies schaffen, dann sollte man sie wenigstens nicht mit den Steuergeldern davonkommen lassen, die der Staat ihnen als Starthilfe hat zukommen lassen.

Es würde Nokia sicher nicht schmerzen, die 88 Millionen Euro an das Land zurückzahlen. Denn womöglich könnte sie ein anderer Unternehmer in Bochum gerade gut gebrauchen – einer zum Beispiel, der tatsächlich bleibende Arbeitsplätze schaffen will.

* In considering changes in their operations which would have major effects
upon the livelihood of their employees, in particular in the case of the closure
of an entity involving collective lay-offs or dismissals, provide reasonable
notice of such changes to representatives of their employees, and, where
appropriate, to the relevant governmental authorities, and co-operate with the
employee representatives and appropriate governmental authorities so as to
mitigate to the maximum extent practicable adverse effects. In light of the specific
circumstances of each case, it would be appropriate if management were
able to give such notice prior to the final decision being taken. Other means
may also be employed to provide meaningful co-operation to mitigate the
effects of such decisions.

 

Die Bundeswehr – eine Generalsabrechnung

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Der Bericht löste einen Donnerschlag im Verteidigungsministerium aus. Gleich nachdem der Generalinspekteur der Bundeswehr das als Verschlusssache eingestufte Papier auf den Tisch bekommen hatte, leitete er es an den Führungsstab von Minister Franz Josef Jung sowie an die Chefs der Luftwaffe, des Heeres und der Marine weiter – mit der Bitte um „Unterstützung aus Ihrem Verantwortungsbereich.“ Der Bericht trägt den schlichten Titel „Auslandseinsätze der Bundeswehr“. Was das 55-seitige Papier in aller Kälte des Militärjargons festhält, fügt sich zu einem niederschmetterndes Bild von der Handlungsfähigkeit der deutschen Streitkräfte zusammen.

Es zeigt, wie wenig die Bundeswehr organisatorisch noch immer mit den übrigen Nato-Staaten gleichgezogen hat. Statt konsequent auf schnellere Befehlswege zu setzen, steht die deutsche Armee noch immer mit einem Bein in der Nachkriegszeit. Und zwar nicht wegen des Parlamentsvorbehalts, der die Bundeswehr aus historischen Gründen eng an Entscheidungen des demokratischen Souveräns bindet. Sondern vor allem, weil sich die Berliner Politik weigert, die Grundsätze der „vernetzten Sicherheit“ im Einsatzgebiet auch auf die Zusammenarbeit der Ministerien anzuwenden. Der Bundeswehr fehlt ein politisch-strategischer Kompass. Die Folgen schlagen sich bis zum Unteroffizier durch.

Verfasst wurde das Gutachten von sieben der ranghöchsten ehemaligen Generale, die die Bundeswehr zu bieten hat. An ihrer Spitze stand der einstige Oberbefehlshaber der Afghanistan-Schutztruppe Isaf, Norbert van Heyst. Fünf Monate lang, von Februar bis Juli 2007, recherchierten sie an einem knappen Dutzend Standorten und sprachen mit den wichtigsten Kommandanten aller Auslandsmissionen. Ihre Schlussfolgerung: Die Bundeswehr ein ist umständliches, uneffektives, ja zum Teil gefährlich schlecht kontrolliertes Gebilde von einer Armee.

Schon auf der ersten Seite nehmen die Generale einige deutliche Eindrücke aus dem Leben der neuen Interventions-Bundeswehr vorweg:

„Abgrenzungsdenken, mangelnde Akzeptanz eines auf Kooperation ausgerichteten Rollenverständnisses, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler führen zu Effizienzverlusten, die teilweise durch die Führungsstruktur (…) noch begünstigt werden. Über alle Führungsebenen hinweg werden Grundsätze der Führung trotz besseren Wissens nicht immer beachtet, mitunter aber zugleich von denen eingefordert, die dagegen verstoßen.“

Die Bundeswehr, legt der Bericht ausführlich dar, leide unter einem Mangel an kohärenter Führung, fehlender strategischer Planung, teilweise bizarrer Bürokratie und einer kleinkarierten Kontrollwut des Berliner Ministeriums. Zwischen den Zeilen geht die Kritik der Generale dabei weit über alltägliche Defizite hinaus. Um künftig Einsätze effizienter führen zu können, empfehlen die Generale, „eine in der Hierarchie des BMVg höher angesiedelte Operationsabteilung“ zu bilden. Diese solle unmittelbar dem Generalinspekteur unterstellt werden und „alle auf die Einsätze einwirkenden führungsrelevanten Weisungen und Befehle aller Organisationsbereiche im BMVg für die nachgeordnete Ebene erlassen.“
Im Klartext: Die Bundeswehr solle endlich so etwas wie einen Generalstab erhalten.

Der Begriff – und damit der Gedanke – wird seit Ende des Zweiten Weltkriegs in deutschen Militärkreisen offiziell nicht mehr gebraucht. Die Bundeswehr war seit der Wiederbewaffnung 1955 als gezähmte Armee konzipiert, die allenfalls Schlachten unter Nato-Oberkommando führen sollte, keinesfalls aber eigene Operationen zu planen hatte. Seitdem hat sich zwar die Welt umstürzend verändert, nicht aber die Befehlsstruktur der deutschen Armee. Noch immer sind in Deutschland die klassischen Aufgaben eines Generalstabes – also einer planerischen und operativen militärischen Oberbehörde – zersplittert zwischen dem Verteidigungsministerium, den Teilstreitkräften und dem Einsatzführungskommando für Auslandseinsätze in Potsdam.

Verantwortlich für die Entwicklung von Einsatzstrategien ist der Verteidigungsminister. Der Generalinspekteur ist als höchster Soldat verantwortlich für deren Umsetzung. Bei der Planung und Führung ist der Generalinspekteur dem „Konsensprinzip“ unterworfen, das heißt, im Minsterium soll es zwischen der politischen Spitze und militärischen Handwerkern nicht zum Streit kommen. Dieses Prinzip erfordert nach Einschätzung der Arbeitsgruppe „regelmäßig einen nicht unerheblichen Zeitbedarf.“ Zeit, die die Soldaten im Ausland nicht immer hätten.

„Von zentraler Bedeutung für die Führung von Auslands ist (…) [die] Fähigkeit, bei konkurrienden Interessen Führungsentscheidungen zügig fällen (…) zu können.“ Im Klartext: Im Ministerium werde zuviel geredet und zu wenig entschieden.

Tatsächlich klagen Kommandanten im Einsatz immer wieder über quälend lange Befehlswegen und grotesk lebensferne politische Vorgaben. Stehe ein Kabinetts- oder ein Parlamentsbeschluss zu einem Auslandseinsatz an, so hält das Gutachten fest, bleibe wegen mangelnder strategischen Planungsressourcen im Verteidigungsministerium zunächst oft zu wenig Zeit, um die Mission gründlich zu durchdenken. Dies ziehe das „Risiko von Unschärfen und Fehlern“ nach sich. Die Expertise nachgeordneter Kommandoebenen könne „oft nur ,informell’ und damit nicht ausreichend einbezogen“ werden.
„Beispiele hierfür sind zu frühe Festlegungen von Kontingentobergrenzen, die sich (…) als zu niedrig erweisen (…) oder sehr kurze Zeitvorgaben für die Verlegung von Kontingenten und das Herstellen ihrer Einsatzbereitschaft. Beides kann große Risiken für die die Realisierung der Planung und für die Sicherheit des Kontingents selbst verursachen.“

Mit anderen Worten: Auslandseinsätze werden bisweilen gefährlich hektisch übers Knie gebrochen. Das Primat der Politik schlägt dann um in ein heikles Diktat der Politik. Der Bericht nennt als „drastisches Beispiel“ die überstürzte Aufstellung eines Containerlazaretts im Kongo, die „ohne Beteiligung des Sanitätsführungskommandos getroffen“ vonstatten ging. Das medizinische High-Tech-Modul wäre beinahe im Schlamm versunken, weil es an einem „völlig ungeeigneten Ort aufgebaut“ werden sollte. Erst im letzten Moment sei ein „Totalschaden“ verhindert worden.

Dafür setze, sobald die Truppe im Ausland angekommen sei, sofort eine lähmende Bürokratie ein. „Regelungsdichte und Informationsflüsse haben (…) die Grenze des Handhabbaren überschritten“, konstatieren die Generale. Selbst im Stammesland von Afghanistan ist die Bundeswehr gezwungen, deutsche Rechtsstandards einzuhalten, von der Mülltrennung über die Straßenverkehrsordnung bis zur Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an einheimische Mitarbeiter.

Unter dem Stichpunkt „Bürokratie im Einsatz“ halten die Autoren ungläubig fest: „Als Beispiel mag die Weisung zur ,widerruflichen Zahlung eines Fahrkostenzuschusses an die Ortskräfte in Afghanistan’ dienen, die einzustellen sei, sobald die Sicherheitslage es zulasse, da dann ,ein eigener Bus-Shuttle-Verkehr i. S. des Erlasses über Werk-, Schul- und Fürsorgefahrten (VMBl 1990 S. 114) einzurichten und in der Folge die Zahlung des Fahrkostenzuschusses einzustellen’ sei.“
Sobald die Lage ruhig genug ist, muss die Bundeswehr also einen Pendelverkehr für die afghanischen Arbeiter in ihren Feldlagern einrichten. So will es das deutsche Arbeitsrecht.

Selbst wenn Fragen von Leben und Tod betroffen sind, kann es mitunter Jahre dauern, bis Entscheidungen durch die Bürokratie sickern. Der Bericht schildert etwa, wie lange es dauerte, bis Störsender für Bundeswehrkonvois in Afghanistan ankamen. Mit diesen „Jammern“ lässt sich verhindern, dass Terroristen per Mobilfunk Sprengfallen am Straßenrand auslösen – eine Methode, die immer beliebter wird. Die entsprechende Anforderung, hält der Bericht fest, sei bereits 2003 in den „Auswerteprozess eingesteuert“ worden. „Trotz ihrer Dringlichkeit“ sei sie „bis in das Jahr 2006 noch nicht erfüllt“ worden. Die Bundeswehrsoldaten fuhren also geschlagene drei Jahre lang ohne einen einfachen, aber wirkungsvollen elektronischen Schutzschirm am Hindukusch herum.
In der Heimat fehle es währenddessen an Material, um die Soldaten ordentlich auf den Auslandseinsatz vorzubereiten: „Großgeräte stehen für die Ausbildung gar nicht (z.B. Dingo) oder nicht ausreichend (z.B. Füchse) zu Verfügung.“
Bisherige Versuche der Entbürokratisierung, so die Generale, „entmutigen eher“: „Statt einer umfassenden Entfrachtung der Bürokratie wurden mitunter minimale Verbesserungen mit zusätzlichem Überwachungsaufwand ,erkauft’.“

Vollends an der Einsatzzentrale Potsdam vorbei operiert laut dem Bericht das Kommando Spezialkräfte (KSK). Die Elitetruppe werde von einer eigenen Dienststelle, dem Kommando Führung Operation Spezialkräfte (FOSK) befehligt, was bereits „zu deutlichen Koordinations- und Informationsmängeln geführt“ habe. Dieses Eigenleben der KSK berge „große Risiken für die Sicherheit im gesamten Operationsgebiet und für Leib und Leben der dort eingesetzten Soldaten.“ Die Arbeitsgruppe warnt, das KSK polterte mitunter wie eine loose canon durch die Szenerie.

„Ein von der allgemeinen Operationsführung im Einsatzland völlig getrennter, paralleler operativer Führungsstrang des Kommando FOSK in das Einsatzgebiet hinein und die unter großer Geheimhaltung in der Regel mit den Einsatzkontingenten nicht abgestimmten Maßnahmen der Spezialkräfte können (…) Gefahren für die Gesamtoperation, die Kontingente sowie das Ansehen und den Erfolg der Missionen vor Ort selbst erzeugen. Die Risiken dieser aufbauorganisatorischen Lösung sind nach Auffassung der Arbeitsgruppe unvertretbar hoch.“

Dieser Fehler müsse dringend korrigiert werden: „Die Arbeitsgruppe empfiehlt, Spezialkräfte bei den Einsätzen der Bundeswehr im Ausland grundsätzlich wieder aus dem Einsatzführungskommando zu führen.“

Nach ihren Besuchen in den Auslandstützpunkten zeigten sich die Generale überrascht über eine Vielzahl von Verstößen gegen verantwortliche Führung. „Sie sind auf allen Ebenen und in beiden Richtungen zu finden“, was wohl nicht nur etwas mit den bestehenden Befehlsstrukturen zu tun habe:

„Nach intensiver Diskussion hat die Arbeitsgruppe die Überzeugung gewonnen, dass die Defizite im Rollenverständnis und Kooperationsverhalten nur zu einem geringen Teil durch organisatorische Maßnahmen gemindert werden können. Ein nachhaltiger Erfolg bei der Abstellung dieser Defizite muss durch eine Änderung der Mentalität des Führungspersonals erreicht werden.“

Zwischen den vielen an ein einem Auslandseinsatz beteiligten Dienststellen der Bundeswehr fehle es am nötigen Teamgeist: „Anstatt die ihnen zukommenden Rollen zu akzeptieren, sind bei den Kommandos häufig Abgrenzungsdenken, Überschätzung des eigenen Beitrags und auch Führungsfehler feststellbar.“

Zudem sind dem Bericht zufolge allen Diensträngen mehr als die Hälfte aller Stellen mit allenfalls mäßig geeigneten Soldaten besetzt:

„Mit seinem Einsatzcontrolling hat das Einsatzführungskommando eine Quote von bis zu 60 % an nicht forderungsgerecht besetzen Dienstposten ermittelt. Die genannten Beispiele bezogen sich fast ausschließlich auf unerfüllte Einzelkriterien, wie z.B. Sprachleistungsprofil oder Impfstatus.“

Gleichzeitig herrscht im Verteidigungsministerium eine ausgeprägte Panik vor schlechten Schlagzeilen. Der Bericht spricht von einem „Wettlauf mit den Medien“, der dazu führe, dass das Ministerium den Soldaten beständig in ihr Handwerk hineinrede. „Informationen werden mitunter direkt im Einsatzgebiet unter Umgehung des Einsatzführungskommandos abgefragt. Damit besteht – zumindest aus Sicht des Einsatzführungskommandos – beim BMVg die Tendenz, bei Führungsvorgaben und –entscheidungen einen zu hohen, nicht ebenengerechten Detaillierungsgrad zu wählen, der zwangsläufig zu nicht erforderlichen Einschränkungen der operativen Ebene führt.“

Stattdessen fehle es an einer strategischen Planung aller Ministerien, die an Auslandmissionen beteiligt sind, also dem Auswärtigen Amt, dem Entwicklungshilfeministerium, dem Innenministerium und dem BMVg. „Sowohl in Deutschland als auch in den Einsatzgebieten besteht die zwingende Notwendigkeit einer Abstimmung auf allen Ebenen“, schreiben die Gutachter. Insbesondere vermissen sie „Koordinierung und engen Zusammenarbeit verschiedener Ressorts auf der strategischen Ebene (z.B. AA, BMZ, BMVg, BMI).“

Seit gut einem halben Jahr liegt der Heyst-Bericht dem Verteidigungsministerium vor, versehen mit einem „dickel Deckel“, wie es ein Insider formuliert. Selbst der sonst gut informierte Wehrbeauftragte der Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), erfuhr erst durch die Recherchen der ZEIT von dem Papier. „Aus meiner Sicht ist das Gutachten mehr als interessant“, sagt Robbe, nachdem er Auszüge gesichtet hat. „Vieles ist sehr zutreffend beschrieben. Ich hätte manches genauso formuliert.“ Auch ihm seien bei seinen Besuchen an den Einsatzorten immer wieder Defizite bei der langfristigen Planung aufgefallen.

Während Verteidigungsminister Jung und Kanzlerin Merkel bei jedem Truppenbesuch den „comprehensive approach“ der deutschen Streitkräfte loben, also die enge Zusammenarbeit mit Diplomaten, Entwicklungshelfern und Polizeiausbildern, fehlt es zuhause in Berlin an ebenjener Synergie zwischen den Ressort. „Die beklagte fehlende Kohärenz zwischen den Ministerien bildet sich übrigens auch im Parlament ab“, sagt der Wehrbeauftragte Robbe. „Nach meiner Kenntnis hat es bisher keine gemeinsamen Sitzungen zwischen dem Auswärtigen- und dem Verteidigungsausschuss gegeben.“ Im Einsatzland predigen die Verantwortlichen also die Sicherheitspolitik des 21. Jahrhundert, während sie zuhause noch immer mit den Zuständigkeiten der Verteidigungspolitik des 20. Jahrhunderts vor sich hin werkeln.

Daran soll sich nach dem Willen von Minister Jung auch nach dem Bericht der Heyst-Gruppe nichts ändern. Über eine breitere interministerielle Abstimmung wird nach Auskunft seines Hauses ebenso wenig nachgedacht wie über eine neue militärische Spitzengliederung der Bundeswehr. „Wir sind nicht in England und auch nicht in Frankreich“, kontert ein Spitzenbeamter die Idee eines Generalstabes. Eine Folge aber soll der Bericht haben: bis zum Sommer wird im Berliner Ministerium ein neuer „Einsatzführungsstab“ eingerichtet, bestehend aus 90 Dienstposten, die direkt dem Generalinspekteur unterstellt sind. Ziel sei es, eine „flachere Hierarchie“ zu schaffen, die den Anforderungen von Auslandseinsätzen besser gewachsen sei. Wie sich dieses neue Gremium allerdings gegenüber den Kompetenzen der Potsdamer Einsatzzentrale einfügen soll, das scheinen die Beteiligten bisher nicht so recht zu wissen. Nach mehr „Führung aus einer Hand“, wie sie sich die Kommandanten im Ausland wünschen, klingt es jedenfalls nicht.

 

Frag dich schön

Ist die Europäische Union undemokratisch, weil sie die Bürger nicht über den Reformvertrag abstimmen lässt? In der Kommentarspalte zum vorausgegangenen Eintrag hat ein Leser einen interessanten Satz formuliert:

„Als Demokrat kann nur gelten, wer bereit ist zu akzeptieren, daß seine Mitbürger mehrheitlich eine andere Entscheidung treffen als die, die er selbst präferiert.“

Gilt diese Aussage tatsächlich so pauschal? Ist zum Beispiel derjenige keine Demokrat, der das Volk nicht über die Einführung der Todesstrafe abstimmen lassen möchte? Oder über die Höhe der Steuern? Freilich, dies sind altbekannte Beispiele gegen Volksbefragungen. Aber sie taugen noch immer, um zu illustrieren, warum eine Demokratie im wörtlichen Sinne kein Mittel zur Steuerung moderner Massengesellschaften sein kann. Die repräsentative Demokratie fußt auf dem richtigen Gedanken, dass Volkes Wille selten Ausfluss letzter politischer Weisheit ist.

Das gilt schon einleuchtend für ein Gebilde für die Bundesrepublik Deutschland. Die EU nun hat mit ihrer Gründung eine zusätzliche Ebene politische Komplexität über den Nationalstaaten eingezogen. Eine seltsame Hybridform zudem, denn die Kommission ist eine mit Politikern besetzten Behörde. Wo gibt es so etwas sonst? Wäre es angesichts dieser Ausdehnung der Politikzone nicht konsequent, auch unseren Begriff von demokratischer Vertretung auszudehnen?

Nennen wir es testweise das Gesetz der Entfremdung:
Je unüberschaubarer politische Sachverhalte werden, desto umfangreicher muss die Vertretung des Volkswillens durch seine Repräsentaten werden, wenn Entscheidungen sachgerecht getroffen werden sollen. (Die EU-Verfassung ist dafür vielleicht nicht das allerbeste Beispiel, denn so komplex sind ihre Regelungen nun auch wieder nicht, man könnte die Bürger durchaus darüber informieren und befragen.) Gleichwohl, Europa funktioniert schon nach besonders komplexen Regeln, vor allem weil sie mit 27 Länderinteressen multipliziert werden müssen.

In Deutschland mag die Vertretung der Bürger durch die Politiker noch den Charakter einer zeitlich begrenzten Vollmacht haben, erteilt für einen überschaubaren Ereignisraum von jeweils vier Jahren. Europa hingegen trägt den Charakter einer dauerhaften paternalistischen Vertretung. Während die Bürger in den Einzelstaaten Politiker noch immer testweise als Manager einstellen, räumen sie Brüssel in gewisser Weise ein elterliches Sorgerecht für kontinentale Fragen ein. (Die Kommissare, jeweils für fünf Jahre im Amt, werden nicht gewählt, sondern von nationalen Regierungen auf ihre Posten geschachert.)

Europa bewegt sich schließlich zu langsam, in zu unüberschaubaren Trippelschritten und durch zu viele Füße, als dass alle vier Jahre eine Bewertung möglich wäre, geschweige denn eine Zurechnung von bestimmten Entwscheidungen an bestimmte Akteure. Das nationale Thema Jugendkriminalität lässt sich noch einigermaßen befriedigend in einer Talkshow behandeln. Die Begrenzung von Fangquoten zwischen Mittelmeeranrainern oder die Notwendigkeit einer EU-weiten Bodenschutzrichtlinie schon weniger. Seien wir ehrlich: die meisten EU-Themen sind schlicht zu unsexy, als dass der Normalbürger sich überhaupt ansatzweise mit ihnen befassen wollte.

Vielleicht dies auch ein Grund dafür, dass nur 35 Prozent aller Europäer laut einer aktuellen Umfrage glauben, dass ihre Stimme in der Europäischen Union zählt.

Interessanterweise finden sie aber auch, dass das halb so schlimm ist.

Denn gleichzeitig halten 48 % der EU-Bürger die EU-Mitgliedschaft ihres Landes für gut (die meisten in Luxemburg mit 82 %, die wenigsten in Großbritannien mit 34 %). Und 48 % trauen den EU-Institutionen sogar mehr als ihren eigenen Regierungen (34 %). Spricht daraus womöglich die Einschätzung, dass in Brüssel die besseren Experten sitzen, denen man gerade wegen ihrer Entfernung zum Volk und damit zu wahlkämpferischen Polarisierungen die sachgerechteren Lösungen zutraut?

Die Zahlen stammen aus einer Auftragsarbeit für die Kommission. Über seine Generaldirektion Kommunikation lässt der Kommissionspräsident kontinuierlich die Bürger Europas befragten, wie sie mit der Arbeit der EU zufrieden sind. Jedes halbe Jahr gibt es eine allgemeine politische Umfrage über die Union, das so genannte Eurobarometer. Darin messen Meinungsforscher der Institute TNS und Gallup die Befindlichkeiten in allen 27 Mitgliedsstaaten.

Sie fragen unter anderem,

– ob die Menschen glauben, dass sich ihr Leben im Allgemeinen in den nächsten zwölf Monaten verbessern wird (54 % sagen ja, 30 % nein)

– ob sich die wirtschaftliche Lage verbessern wird (24 % ja, 26 % nein)

– was ihre größten Sorgen sind (1. Arbeitslosigkeit/Inflation, 2. Kriminalität, 3. Gesundheitsvorsorge, 4. die wirtschaftliche Lage, 5. Immigration, 6. Renten, 7. Terrorismus, 8. Erziehung/Bildung, 9. Steuern, 10. Wohnungen)

– ob sie der EU-Kommission eher trauen oder nicht (48 % eher nicht)

– ob sie dem EU-Parlament eher trauen oder nicht (55 % eher ja)

– wodurch die EU ihre Rolle stärken kann (Verbrechensbekämpfung 33 %, Umweltfragen 34 %, Zuwanderungsfragen 29 %, Energiefragen 25 %)

– welche Politikbereiche lieber durch die EU statt durch nationale Regierungen geregelt werden sollten (überraschend viele: Terrorismusbekämpfung 81 %, Umweltschutz 69 %, Wissenschaftliche Forschung 71 %, Energie 61 %, Verteidigung und auswärtige Beziehungen 62 %, Verbrechensbekämpfung 60 %, Förderung strukturschwacher Regionen 60 %, Zuwanderung 59 %, Wettbewerb 57 %, Landwirtschaft und Fischerei 50 %, Verbraucherschutz 48 %, Arbeitslosenbekämpfung 39 %, Gesundheits- und Sozialvorsorge 31 %, Erziehungswesen 33 %, Steuern 28 %, Renten 25 %).

Gemessen an den größten Sorgen wollen die Mehrheit der Europäer also, dass die EU sich nur um Kriminalität, Zuwanderung und Terrorismus kümmert. Das ist das Bild Europas als feste Burg gegen Bedrohungen von außen.

Darüber hinaus lassen alle Kommissare ständig Umfragen zu Einzelvorhaben erstellen, um zu erkunden, wie zufrieden die Klientel mit ihnen ist. Ein Vertreter von Gallup Europe schätzt die Anzahl der „Flash Surveys„, die sein Unternehmen jedes Jahr für die Kommission macht, auf 15 bis 20. Mal will die EU wissen, wie ihre Umweltpolitik ankommt, mal, was die Menschen über erneuerbare Energien denken, mal, ob es Unternehmer sinnvoll finden, dass die EU ein Erasmus-Programm für Firmen auflegt. Die EU folgt also gleichsam dem Motto „Frag dich schön“.

„Es gibt drei Arten von Umfragen“, sagt der Experte, „einmal die reine Kommunikation, um zu sehen, wie die EU bei den Bürgern ankommt. Dann Umfragen, die eine politische Idee testen sollen. Und Umfragen, die Einstellungen messen über Ideen, die schon umgesetzt sind.“

Die EU betreibt also intensive Marktforschung für ihre politische Produkte. Und zwar sowohl Image-, Bedarfs- wie auch Bilanzforschung. Ist diese marktwirtschaftliche Art des Politikmachens nicht auch sehr demokratisch – ja, vielleicht sogar präziser demokratisch als eine Vierjahreswahl? Eine Art Schlüssellochdemokratie, die ohne Wahlen erkundet, was den Bürger drückt, was er sich erhofft, und was er ablehnt. Die EU fragt lieber gezielt, statt sich auf einen öffentlichen Diskurs zu verlassen, der wahrscheinlich ohnehin kaum einsetzen dürfte. Das ließ sich die Kommission im vergangenen Jahr 16,5 Millionen Euro kosten.

Der Frage unseres Lesers muss in Hinblick auf das postdemokratische Gebilde EU also eine andere hinzugefügt werden:

Kann auch derjenige als Demokrat gelten, der sich zwar keinen Wahlen stellt, aber die Akzeptanz seines Handeln durch ständige Umfragen am Volkswillen überprüft?

Der Economist zitierte im Februar 2008 einen ungenannten Eurokraten mit der Einschätzung, Meinungsumfragen böten ein quasi-demokratisches Mandat. Die Zahlen würden von seinem Kommissar „selbstverständlich“ genutzt, um zögerliche Regierungen einzuschüchtern, sowohl öffentlich wie auch hinter verschlossenen Türen.

Vielleicht sollte die Kommission gelegentlich eine Umfrage im eigenen Apparat in Auftrag geben: Ob ihre Beamten womöglich zu sehr davon abgelenkt werden, sich beim beim Volk beliebt zu machen.

 

Demokratie war gestern II, oder: Brüssels Doktor Bibbers

Würde die Europäische Union einen Antrag auf Aufnahme in die EU stellen, er dürfte von Brüssel empört abgelehnt werden. Ein System, in dem die Exekutive den Großteil der Gesetze erlässt (siehe den vorausgegangenen Eintrag), widerspricht schließlich den Grundprinzipien der parlamentarischen Demokratie. In einem liberalen Verfassungsstaat haben Gesetze nicht per Ministerabsprache hinter den Kulissen zustande zu kommen, sondern auf der offenen Bühne der Volksvertretung.

Europa indes scheint zu komplex und zu wichtig zu sein, um eben jene Grundsätze im Inneren anzuwenden, die es bannerhaft nach außen trägt.

In dieses Muster passt es, was der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen heute zum Fortgang des Ratifizierungsprozess des Lissabonner Vertrages (ehemals: „Europäische Verfassung“) sagte:

„Eine Kaskade von nationalen Referenden ist die völlig falsche Methode zur Annahme eines Europavertrages. Manchen Befürwortern von nationalen Referenden geht es in Wirklichkeit nicht um Bürgerbeteiligung, sondern um Zerstörung dieser neuen Etappe für die europäische Integration.“

Oder, in den Worten von Aníbal Cavaco Silva, des Staatschefs von Portugal, das sich gestern entschied, das Volk nicht per Referendum über den Lissabonner Vertrag abstimmen zu lassen, weil er etwas gänzlich anderes sei als die Ursprungs-„Verfassung“: „Die Chance des Vertrages von Lissabon zu verschwenden, würde der EU einen extrem hohen Preis abverlangen.“

Eine Bürgerbeteiligung, die sich für weniger europäische Integration (vulgo: weniger Macht für Brüssel) aussprechen würde, wäre also von vornherein keine Bürgerbeteiligung? Das ist ein seltsames Verständnis von Demokratie, trotz aller Gründe aus denen man Volksabstimmungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber stehen darf. Doch es steht allzu symptomatisch für die Brüsseler Angst, dass kleinkarierte Bürger ein großartiges Projekt zerstören könnten.
Und ist daran nicht auch etwas Wahres?

Böse Frage:

Funktioniert die Rechtssetzung und die Politik der EU, diese „Geschäftsführerdemokratie“, wie wir sie nennen wollen, vielleicht nicht trotz all ihrer Legimitätsdefizite erstaunlich gut, sondern genau wegen dieser? Eben weil die EU ein Experten- und Elitenprojekt ist und sein muss, das sich vor populären Meinungsströmen hüten sollte?

Immerhin ist doch zu fragen, woran es liegt, dass sich gegen die ach so entkoppelten und wirklichkeitsblinden Brüsseler Expertokraten bis heute noch kein Volksaufstand erhoben hat, sondern allenfalls habituelles Murren.

Zum einen womöglich an einem Umstand, den ich das „Doktor-Bibber-Phänomen“ nennen möchte. Die in den siebziger Jahren geborenen Leser müssten sich an dieses Spiel noch erinnern. Doktor Bibber bestand aus einem auf einer Metallfolie aufgemalten Patienten, dem vermittels einer verdrahteten Pinzette allerlei morsche Knochen oder faule Organe aus kleinen Öffnungen operiert werden mussten. Berührte die Pinzette die Kanten der Öffnungen, trötete der Patient erschreckt, ließ seine rote Knollnase leuchten, und der jeweilige Doktor Bibber war wegen tödlicher Kunstfehler sein Honorar los.

Die Mehrheit der Politiker und Entscheidungsträger in Brüssel sind Doktor Bibbers, sprich: vorsichtige Operateure im besten Sinne. Ihre Generation besteht im Großen und Ganzen aus überzeugten Demokraten. Sie wissen, dass sie im eigenen Interesse alles vermeiden sollten, das ihren Wählern zu sehr wehtut. Denn springt erst mal der Schmerzalarm an (BILD! Glotze! ZEIT-Blogs!) dann wäre ihre Reputation als Lebensverschönerer ganz schnell dahin. Allen bisweilen kurzsichtigen parteipolitischen Interessen, Profilierungssüchten und populistischen Anfälligkeiten zum Trotz läuft bei der großen Mehrheit der Politiker immer auch eine feine Selbstkontrolle mit, die ihre Eingriffe auf Unverträglich- oder Unzumutbarkeiten prüft. Europas Regierende sind auf good governance programmiert. Das ist vielleicht die größte kulturelle Errungenschaft dieses Kontinents. Die demokratische Konsolidiertheit seiner Menschen und Systeme.

Es gibt – gerade in Demokratien – schwach bis gar nicht demokratisch legitimierte Institutionen, denen die Bürger regelmäßig mehr Vertrauen entgegenbringen, als ihren gewählten Vertretern. In Deutschland wären das Bundesverfassungsgericht oder die Bundesbank Beispiele dafür, in anderen europäischen Ländern die Königshäuser, Greenpeace oder das Militär. Für die Akzeptanz von staatlicher Macht scheint es wichtiger zu sein, dass ihre Inhaber Charakterfestigkeit, Sachkenntnis und vernünftige Urteilsfähigkeit beweisen als die Tatsache, dass sie gewählt wurden.

Wie aber wissen Spezialisten-Politiker, wie weit sie gehen dürfen, bevor ihnen die Befähigung zum Amt abgesprochen wird? Woher wissen sie, welche ihrer Ideen und Entscheidungen massenverträglich sind? Volkes Stimmung ist wechselhaft und zu komplex, als dass die Sensoren eines einzelnen ausreichen würde, sich ein verlässliches Lagebild zu verschafften.

Hier kommt ein zweiter Faktor ins Spiel, der die Geschäftsführerdemokratie der EU in interessante Nähe zum modernem Management bugsiert: die Kundenbefragung.

Mehr dazu aber in der nächsten Folge.

 

Demokratie war gestern

Wieso hat das bloß keiner gemerkt? Schon im Jahr 2005 stellte das Bundesjustizministerium fest, dass Deutschland keine Demokratie mehr ist. Von allen in Deutschland erlassenen Rechtsakten zwischen 1998 und 2004, so das Ministerium, stammten 84 Prozent aus Brüssel. Nur 16 Prozent der Gesetze seien in Berlin gemacht worden.

So jedenfalls wird eine angebliche Studie des BMJ immer wieder zitiert.

Diese Zahlen derart vereinfacht in die Welt zu setzen, ist zwar schlechter Journalismus. Dennoch: ganz falsch ist der Eindruck, den sie vermitteln, nicht.*

Demokratietheoretisch nämlich ist es in der Tat skandalös, wie die EU den Einzelstaaten Vorschriften diktiert. Beschlossen immerhin werden die besagten Brüsseler Rechtsakte nicht etwa von Parlamenten, sondern von den jeweiligen Fachministern der 27 EU-Mitgliedsstaaten. Was sie bei ihren Treffen hinter verschlossenen Türen vereinbaren, müssen die Parlamente zuhause in nationales Recht umsetzen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Sollte der Lissaboner Vertrag (ehemals „Verfassung“) in Kraft treten, werden es die Minister noch leichter haben, denn seine Klauseln ermöglichen mehr einfache Mehrheitsentscheidung als bisher.

Die Exekutive bestimmt also immer öfter, was Gesetz wird, nicht die Legislative. Das ist ein eklatanter Verstoss gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz, wonach die Volksvertretung das Recht setzt, nicht aber die Regierung. Dem Volk indes fällt es nur selten übel auf, wenn wieder einmal ein Gesetz über die Brüsseler Bande in den Bundestag gespielt wird. So war es zum Beispiel beim biometrischen Pass. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) stiehlte die Idee zusammen mit seinen europäischen Ministerkollegen bei einem ihrer Zusammenkünfte unter dem Radarschirm der parlamentarischen Aufsicht in Brüssel ein. Einige Monate später zeigten sich Berliner Abgeordnete kalt überrascht, als ihnen im Bundestag nichts anderes übrigblieb, als die entsprechende Richtlinie in nationales Recht zu gießen. Sie hatten, gaben einige von ihnen zu, schlicht nicht mitbekommen, was sich in der EU-Zentrale anbahnte. „Wissen Sie, offen gesagt haben wir doch gar nicht die Zeit, alles zu lesen, was da an Dokumenten aus Brüssel hereinschwappt“, sagte mir eine Abgeordnete der Grünen damals. Und wohl auch keine Lust.

Eigentlich sollten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments diese Watchdogaufgabe wahrnehmen und bei kritischen Vorhaben des Ministerrates und der Kommission hörbar anschlagen. Doch in der Praxis fehlt es oft schlicht an der nötigen Rückkopplung der EP-Abgeordneten an die nationalen Parteizentralen. Warum, zum Beispiel, haben die FPD-Mitglieder im EP damals nicht lauthals in Berlin Alarm geschlagen, als sie von den Plänen eines biometrischen Passes erfahren haben? Weil, antworten Insider verdruckst, Brüssel und Berlin nun einmal verschiedene parlamentarische Welten seien. Berliner Abgeordnete trauen ihren Brüsseler Kollegen nicht die nötige EU-Skepsis zu, um sich von ihnen sachdienliche Hinweise auf europäische Vergehen zu erhoffen. Brüsseler Abgeordnete halten umgekehrt ihre Berliner Kollegen für zu wenig sachkundig und populismusanfällig, um ihnen schmutzige Details aus dem Bauch des EU-Betriebs zu verraten.

Lassen wir aber das Negativbeispiel Schily & der Biometriepass einmal für einen Moment beiseite. Gehört es dann nicht auch zur Wahrheit, dass demokratiepraktisch das postdemokratische System Europa überraschend gut funktioniert?

Immerhin scheint diese bürgerferne Geschäftsführerdemokratie der Minister, Staatschefs und Kommissare den Wohlfühlgrad im Gehege Europa im Großen und Ganzen seit Jahrzehnten zu erhöhen. Nirgendwo auf der Welt haben Menschen so viele (geschriebene) Rechte wie in Europa. Kein anderer Kontinent verwendet so viel politische Energie darauf, die Lebensqualität seiner Bürger zu verbessern und zu vereinheitlichen, von der Lebensmittelsicherheit, über funktionierende Stromnetze, Rechtsstandards beim Autokauf, im Flugverkehr, beim Arbeitsschutz, bei der sogenannten Anti-Diskriminierung, bis hin zur Badewasserqualitätsbeschreibung, der Handykostenbegrenzung, der Co2-Abgasnorm, dem Nichtraucherschutz, derEnergieeffizienz von Gebäuden oder den Dezibel-Grenzen für MP3-Spieler. Sogar einen Wegweiser durch die verwirrende Vielzahl von Rechten, die der EU-Bürger genießt, bietet Brüssel an.

Wohl nirgendwo sonst ist zugleich die Kultur des Konsenses so entwickelt, das friedliche Zusammenleben der peinlich höchste aller Werte. Liegt die historische Besonderheit dieses Europas also darin, dass es seinen Bürgern im Dschungel der Globalisierung ein Reservat größtmöglicher Sicherheit und Geborgenheit bietet, und zwar ganz bewusst um den Preis althergebrachter demokratischer Prinzipien? Ist dieses Europa eine Diktatur verantwortungsvoller Gutmenschen, die im Grunde ganz gut funktioniert?

Ist Europa in der Welt das, was die Schweiz in Europa in?
Das Beste am Westen?

„Die Europäische Union ist das höchstentwickelte Beispiel eines postmodernen Systems“, glaubt Robert Cooper, britischer Karrierediplomat und heut Europas Chef-Strategiedenker im Dienste des Außenbeauftragten Javier Solana.**
Tatsächlich gibt es noch eine wichtige Besonderheit, die Europas Herrschaftsform zur vielleicht neuzeitlichsten der Welt macht. Aber davon mehr in der nächste Folge.

* Die ausführliche Stellungnahme des Bundesjustizministeriums zu diesen Zahlen lautet:

„Eine Studie des Bundesministeriums der Justiz mit dem Ergebnis, dass 84 % des Rechts aus Brüssel stammen und nur 16 % originär aus Berlin, gibt es nicht.

Anlässlich einer parlamentarischen Frage nach der Gesamtzahl der beschlossenen Rechtsvorschriften hat das Bundesministerium der Justiz anhand schlichter Datenbankabfragen lediglich festgestellt, dass in den Jahren 1998 bis 2004 insgesamt 18167 EU-Verordnungen und 750 EU-Richtlinien erlassen und auf Bundesebene im selben Zeitraum 1195 Gesetze sowie 3055 Rechtsverordnungen verkündet worden sind (Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf eine Frage des Abgeordneten Johannes Singhammer, BT-Drs. 15/5434 v. 6. Mai 2005, Nr. 21). Dabei sind jedoch sämtliche Rechtsakte gezählt worden, ohne zu berücksichtigen, ob es sich um Neu-, Änderungs- oder Aufhebungsrechtsakte handelt, oder welchen Umfang oder welche Bedeutung die einzelnen Rechtsakte haben. Ein Großteil der europäischen Rechtsakte sind Agrarmarktregelungen.

Aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz lassen sich diese Zahlen daher nicht vergleichen und sind außerhalb des damaligen Fragenkontextes wenig aussagekräftig. Sie lassen auch keine Schlussfolgerung darüber zu, wie hoch der Anteil europäischen Rechts ist. Die Frage nach der jeweiligen Zahl der erlassenen Rechtsvorschriften ist zu unterscheiden von der Frage nach dem Anteil der aufgrund von europäischen Rechtsakten erlassenen deutschen Gesetzgebung. Methodische Probleme lassen seriöse quantitative Aussagen kaum zu.“

** Robert Cooper, The Breaking of Nations: Order and Chaos in the Twenty-first Century, London, 2003, S. 36