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Europas neue Superposten. Ein Brevier

Noch ist der Lissabon-Vertrag (ehemals „Europäische Verfassung“) nicht in Kraft getreten, da treiben die Spekulationen um die Besetzung der beiden neuen Posten in Brüssel bunte Blüten. Die bisher am ernsthaftesten gehandelten Kandidaten für das Amt des Europäischen Präsidenten sind Tony Blair und Jean-Claude Juncker. Die Präsidentschaft des Rates (der Versammlung aller 27 EU-Regierungen) soll künftig nicht mehr per halbjährlicher Rotation an einen der Regierungschefs fallen. Vielmehr soll der Präsident soll zweieinhalb Jahre lang dem politischen Leitgremium der EU vorsitzen.

Er soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen und „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen.

Als Kandidaten in Spiel gebracht werden vom Brüsseler Flurfunk neben Blair und Juncker, der irische Ministerpräsident Bertie Ahern, der dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen, der belgische Ex-Premier Guy Verhofstadt, die ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzáles und José Maria Aznar sowie der ehemalige polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski.

Legalistisch betrachtet wird der neue Dauerpräsident allerdings nicht viel mehr Durchsetzungskraft besitzen als die bisherigen Ratsvorsitzenden. Denn wegen des polnischen Einspruchs gegen Mehrheitsbeschlüsse im Rat wird bis 2014 das Veto nur eines Mitgliedslands ausreichen, um jede noch so gut einfädelte Politik des EU-Präsidenten zu blockieren.

Zugleich sollen die Posten des bisherigen Außenbeauftragten (Javier Solana) und des Außenkommissars (Benita Ferrero-Waldner) zu einem „Hohen Repräsentanten für Außenpolitik“ verschmolzen werden, sprich zu einem europäischen Außenminister. Er soll zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Er wird für seine Aufgaben vom Rat mandatiert werden und einen eigenen diplomatischen Dienst erhalten. Dieser Dienst soll sich aus dem Ratssekretäriat, der Kommission und Abgesandten der Mitgliedsstaaten zusammensetzen.
Momentan gilt als wahrscheinlich, dass Javier Solana das Amt über den 1. Januar 2009 hinaus bis zum 31. Oktober führen wird. Denn zum 1. November 2009 wird die Kommission neu zusammengesetzt.

Neben dem Spanier sind als mögliche Kandidaten für das Chefdiplomaten-Amt unter anderem eine Reihe von derzeit amtierenden Außenministern im Gespräch: Carl Bildt (Schweden), Bernhard Kouchner (Frankreich), Massimo D’Alema (Italien) und Miguel Moratinos (Spanien). Als weibliche Kandidaten werden die irische Präsidenten Mary Robinson und die finnische Staatschefin Tarja Halonen gehandelt. Joschka Fischer, der recht früh ins Gespräch gebracht worden war, hat mittlerweile klar abgesagt; er stehe für politische Ämter nicht mehr zu Verfügung.

Indes ist noch völlig unklar, wie sich die Kompetenzen des neuen Präsidenten von denen des neuen Außenministers abgrenzen lassen werden. Potentiell greifen die Ämter stark ins Revier des jeweils anderen ein. Einigermaßen klar ist hingegen, dass in Zukunft der Posten des Kommissionspräsidenten (derzeit Manuel Barroso) viel von seinem repräsentativen Charakter einbüßen dürfte. Angesichts der Machtfülle der beiden neuen Ämter wird er zurechtgestutzt auf den Leitungssessel einer – wenngleich mit Politikern bestückten – Verwaltungsbehörde.

Bei der Zusammenstellung der neuen Ämter wird der europäische Parteienproporz zu wahren sein. Wird der Präsident ein Sozialist, müsste der Außenbeauftragte eher ein Konservativer werden, beziehungsweise vice versa. Eine „Paketlösung“ wird allerdings dadurch erschwert, dass ein neuer Kommissionspräsident erst nach den Wahlen zum nächsten Europaparlament bestimmt werden kann. Und die finden erst im Juni 2009 statt – ein halbes Jahr, nachdem das Fell von Lissabon verteilt sein muss.

 

Liebesgrüße nach Moskau

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Wann, der Färbung einer Europakarte nach, wäre eigentlich die Nachkriegszeit beendet? Nicht jedenfalls, solange die Ukraine und Georgien Teile einer Grauzone zwischen dem Westen und Russland bilden. So konnte man am Wochenende den Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer verstehen.

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Qua Amt eigentlich ein Moderator, zeigte sich Scheffer auf dem Brussels Forum des German Marshall Fund (GMF) überraschend provokant. „Solange es eine Lücke gibt zwischen den Orten, an denen Länder sind und Orten, nach denen sie sich sehnen, ist die Vereinigung Europas nicht abgeschlossen“, sagte der Niederländer. Und weiter:
„Solange einige Länder das Gefühl haben, dass sie nicht voll und ganz Herr ihres Schicksals sind, nicht zuletzt weil andere ihnen die freie Wahl verwehren, solange ist Europa nicht der Gemeinschaftsraum, der es nach unserem Willen sein soll.“

Klingt wie eine Erinnerung an George H.W. Bushs Schlachtruf aus den späten achtziger Jahren: „Europe whole and free!“ – Und soll es wohl auch sein.

Scheffer nannte die Ukraine und Georgien nicht ausdrücklich, aber der Bezug war klar. Der georgischen Regierung zufolge befürwortet die Mehrheit der Bürger einen Nato-Beitritt ihres Landes, und die ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko hofft auf eine Aufnahme ihres Landes in den so genannten Membership Action Plan (MAP), der den Beitrittsprozess einleiten würde.

Zusammen mit den – bereits offiziellen – Nato-Kandidatenländern Kroatien, Mazedonien und Albanien hoffen die Ukraine und Georgien für den bevorstehenden Nato-Gipfel in Bukarest (2. bis 4. April) auf Willkommensgrüße der Allianz.

Scheffers Rede könnte deshalb darauf gezielt haben, Russland schon vorab klar zu machen, dass die Nato den „neuen“ Osteuropäern die Tür ebenso selbstverständlich offen hält wie den „alten“ Osteuropäern des ehemaligen Warschauer Pakts, die nach 1990 zum Bündnis stießen. Es setzt jedenfalls einen deutlichen Ton gegen Moskau, wenn der Nato-Chef sagt, das Bündnis werde seine Mitglieder nicht allein lassen, wenn sie Opfer von „Cyber-Angriffen“ oder „Energieerpressung“ würden. Bloß, ob solche Präemptivrhetorik die Stimmung eher entspannt oder verschärft?

Wenn es schon in Brüssel knistert, dann könnten in Bukarest die Funken fliegen. Aller Voraussicht nach werden dort zwei Großpräsidenten aufeinandertreffen, die über die geopolitische Zukunft Westeuropas tief zerstritten sind. George Bush, der Erweiterer. Und Wladimir Putin, der Einheger.

Unter Bush II hat die Nato sieben neue Mitglieder aufgenommen, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, Bulgarien und den jetzigen Gipfelgastgeber Rumänien, die allesamt aus der Erbmasse der ehemaligen Sowjetunion stammten. Putins Phantomschmerzen über den Verlust der imperialen Peripherie äußert sich in größtenteils irrationaler Ablehnung der US/Nato-Raketenabwehr für Europa, ebenso wie in ungeschminkter antiwestlicher Stimmungsmache, von München bis nach Mitrovica.
Putin spielt dabei gekonnt mit dem Anti-Amerikanismus vieler, gerade junger Europäer, die kein Gedächtnis mehr an den sozialistischen Totalitarismus in Osteuropa haben – wohl aber an die Bush’sche Kriegslust am Persischen Golf.

„Bushs transatlantisches Vermächtnis ist in Gefahr“, titelte die International Herald Tribune am Wochenende. Und ließ zwei nicht namentlich genannte US-Nato-Diplomaten frotzeln, es seien ausgerechnet wieder die Deutschen, die sich gegen die Erweiterung stemmten. Sie hätten, so die Diplomaten, wohl Angst, Russland zu vergrätzen.

Diese Angst hatten die Deutschen schon bei der ersten Ost-Erweiterungsrunde der Nato. Warum eigentlich?, fragt die Direktorin des Berliner GMF-Büros und geschätzte ehemalige ZEIT-Kollegin Constanze Stelzenmüller.

„Europas Eintreten für die Universalität von Menschenrechten sollte logischer Weise bedeuten, dass es die Rechte und Freiheiten von weißrussischen Dissidenten oder georgischen Journalisten und Richtern ebenso nachdrücklich verteidigt wie die der afghanischen Kriegsgefangenen in Guantánamo Bay.
Andererseits wird Instabilität und Einmischung durch ein zunehmend durchsetzungsstarkes Russland zuerst und am unmittelbarsten in Europa spürbar. Das gilt besonders für die Schwarzmeerregion. Sie bedeutet für Europas Energiesicherheit im 21. Jahrhundert das, was das Fuldatal* für seine territoriale Sicherheit im 20. Jahrhundert bedeutet hat.“

Östlich der EU färbt sich das Gelände nicht mehr rot, so viel steht fest. Aber blau auch noch lange nicht.

Und so könnte das Gipfeltreffen der Nato tatsächlich Anlass für Gefühlsausbrüche bildden. Immerhin treff dort zwei scheidende Großmachtführer aufeinander, von denen der eine, George W. Bush, schon vor dem Treffen klargestellt hat, dass er die Nato gern noch ein Stück weiter nach Osten treiben möchte – quasi als letzten Akt im Drama der
„Demokratieverbreitung“, bevor Bush von der Weltbühne abtritt.

Der US−Präsident, so machte er Anfang der Woche per Interview deutlich, möchte nicht nur die Kandidatenländer Kroatien, Mazedonien und Albanien so schnell wie möglich in die Nato eingliedern. Auch Georgien und die Ukraine sollen nach seinem Willen die Perspektive bekommen, der nordatlantischen Allianz beizutreten. Bei Russlands Präsident Wladimir Putin löst eine solche Neutünchung der eurasischen Landkarte Empörung aus. Er setzt die Ausdehnung der Nato schlicht gleich mit der Ausdehnung der amerikanischen Einflusssphäre auf die einstige Peripherie der Sowjetunion.

„Die Lust an Abschuldigungen im heutigen Russland erinnern an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen sich über das ,Schanddiktat von Versailles‘ erregten, das einem niedergestreckten Deutschland von den Siegermächten aufgedrückt wurde und über die korrupten Politiker, die der Nation den Dolch in den Rücken gestoßen haben“, schreibt Robert Kagan (The Return of History, 2008, S. 16).

Gleichwohl (oder gerade deswegen) hat Putin – zur Überraschung mancher Nato−Diplomaten – die Einladung angenommen, als Gast beim Bukarester Bündnistreffen zu erscheinen. Während Bush schon am Mittwochmorgen eine erste Rede halten wird, kommt der Kreml−Chef allerdings erst gegen Ende des Gipfels am Freitag Mittag zu Wort. Dann werden die Beschlüsse über die Zukunft des Bündnisses bereits getroffen sein. Gleichwohl, dieser Gipfel könnte amerikanisch-russische Differenzen zu Tage fördern, wie es sie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat.

Eine historische Sekunde lang hatte der 11. September 2001 einen Schulterschluss bewirkt zwischen Amerika und Russland. Jedenfalls ideell schienen sich die beiden Mächte einig im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Doch die langfristigen geopolitischen Vermächtnisse, die George Bush und Wladimir Putin
hinterlassen wollen, sie könnten gegensätzlicher kaum sein.

George Bush setzte nach den Al−Qaida−Angriffen auf New York und Washington alles daran, die Nato so rasch wie möglich in ein flexibles Eingreifbündnis zu verwandeln. Der Feind war mobil geworden, also musste es auch das Bündnis werden. Auf dem Prager Gipfel von 2002 drängten die USA ihre Verbündeten, die Nato weg von der Territorial−, hin auf Interessensverteidigung zu trimmen. Als sichtbares Zeichen dieser
strukturellen Mobilmachung wurde in Prag die Aufstellung der Nato Response Force (NRF) beschlossen, eines schnellen Interventionsverbandes, der weltweit zum Einsatz kommen können soll. Zwar hat die NRF bis heute nicht ihre Sollstärke von 20.000 Soldaten erreicht. Doch seit 2002 hat sich die Gestalt der Nato trotzdem stark gewandelt.

Eine Kommandoreform machte die bisher statische und in unzählige Hauptquartiere mit regionaler Verantwortung zerlegte Allianz ab 2002 schlagkräftiger und beweglicher für schnelle Interventionen. Seit Mitte 2006 gilt eine neue Kommandostruktur mit nun nur noch zwei mächtigen strategischen Hauptquartieren. Zeitgleich mit diesem Umbau erweiterte die Nato seit Beginn des neuen Jahrtausends den Kreis der kompatiblen Streitkräfte. Vor allem angesichts manch skeptischer westeuropäischer Partner im „alten
Europa“ (so das auf Deutschland und Frankreich gemünzte Diktum des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld im Irakkriegsjahr 2003) beschleunigte die Bush−Regierung ihre Pläne, die Nato in einer ersten Runde nach Osten auszudehnen.

Viele Menschen in den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten, vor allem in Polen und Tschechien und Rumänien, hegten damals weitaus größere Sympathien für die Intervention im Irak als die meisten Westeuropäer – wussten sie doch aus eigener Erfahrung, was das Leben unter repressiven Unrechtsregimen bedeutet. Sie reihten sich in die „Koalition der Willigen“ ein und schickten Truppen ins Zweistromland, obwohl einige von ihnen damals noch gar keine Nato−Mitglieder waren.

Danach ging es schnell. Während der Amtszeit von Bush II hat die Nato sieben neue Staaten aufgenommen, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, Bulgarien – und eben den jetzigen Gipfelgastgeber Rumänien. Russlands Befindlichkeiten ließ Washington bei dieser Ausdehnung weitgehend außer Acht. Aus Bushs Sicht kann Russland schließlich keine Angst davor haben, dass sich demokratische Staaten seinen Grenzen näherten. Schließlich führten Demokratien keinen Krieg gegeneinander. Doch diesem Frieden traut der russische Präsident nicht.

Im Februar 2007 platzte Wladimir Putin der Kragen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz wütete der Kreml−Chef gegen die aus seiner Sicht amerikanische Imperialpolitik: „Wir sind Zeuge einer ungezügelten Macht, die die grundlegenden Regeln des Völkerrechts missachtet“, dozierte er erregt. In den „militärischen Abenteuern“ Amerikas kämen „Tausende von friedlichen Menschen ums Leben. Wem kann das schon gefallen?“, fragte er, wohlwissend, dass solche Eindämmungsrhetorik vor allem bei der europäischen Linken Zustimmung findet.

Seitdem lässt Putin kaum eine Gelegenheit aus, einen Keil in die Nato zu treiben. Sein Lieblingsthema sind seit geraumer Zeit die US−Pläne, in Tschechien und Polen eine Radar− beziehungsweise Abfangstellung gegen Langstreckenraketen zu errichten, die irgendwann aus Iran oder Nordkorea gen Amerika oder Europa geschossen werden könnten. Der Kreml hat bisher alle amerikanischen Vorschläge einer Kooperation (Inspektionen in den Raketenstützpunkten, Einbeziehung Teile von Russlands in den Schutzschirm, Stationierung der Raketen erst, wenn Iran bedrohlich aufgerüstet hat) zurückgewiesen. Stattdessen versteht es Putin geschickt, in Westeuropa politische Urängste zu wecken: Noch einmal amerikanische Raketen auf eurem Boden, wollt ihr das wirklich?

Doch dies ist freilich nicht der einzige Grund, warum eine Reihe von westeuropäischen Staaten die amerikanischen Ambitionen einer Groß−Nato derzeit ein wenig bremsen. Deutschland, heißt es aus diplomatischen Kreisen, sei schon bei der Haltung zum Kandidatenland Albanien über seinen Schatten gesprungen (ursprünglich wollten die Deutschen eine Nato−Einladung an Tirana ablehnen, nun werden sie ihr voraussichtlich zustimmen). Nun auch noch der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive zu geben, sei verfrüht, heißt es. Schließlich sei die Ukraine in dieser Frage völlig gespalten, und Georgien habe noch immer mit den Regionalkonflikten in Abchasien und Südossetien zu kämpfen. Die beiden Länder in die Allianz einzuschließen hieße vor allem, Probleme zu importieren.

Diese Haltung nehmen dem Vernehmen nach neben Deutschland auch Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg ein. Hingegen unterstützen viele osteuropäische Staaten und Kanada – dort gibt es eine große ukrainische Diaspora – den US−Wunsch, die Ukraine und Georgien in den so genannten Membership Action Plan der Nato, kurz, MAP aufzunehmen. Auch dieses Akronym ist ein recht sprechendes. Denn der Weg jedes Staates, der in den MAP aufgenommen wird, wäre in der Tat wie auf einer Karte vorgezeichnet. Er führt in die Mitgliedschaft – ein anderer Ausweg ist nicht vorgesehen.

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* Während des Kalten Krieges der antizipierte Hauptkampfplatz zwischen den Truppen der Nato und des Warschauers Pakts

 

Coalitions of the willing – jetzt auch in Europa

Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy gab ganz den Rockstar, als er gestern spätabends, nach einer langen Sitzung mit den 27 Staatschefs der Europäischen Union, ins edle Hotel Amigo in Brüssel einkehrte. Eine Hotelbesucherin richtete in der Lobby die Digitalkamera auf den Franzosen, der daraufhin die Dame zu sich heranwinkte, „Jaja, ich bin’s!“ sagte, mit der Zunge schnalzte, eine cowboyhafte Positur einnahm und keck in die Linse lächelte. Klick, blitz. Winken, präsidialer Abgang in den Fahrstuhl.

Man hätte meinen können, der Mann hatte einen guten Tag.

Aber gehörte diese Brüsseler Ratssitzung nicht Angela Merkel? Hat sie es nicht geschafft, Sarkozys Pläne einer Mittelmeerunion zurück in die Bahnen gemeinsamer Außenpolitik mit den südlichen Anrainern der EU zu schieben? Sarkozy hatte vorgeschwebt, von Paris aus eine Art Club Mediterrane zu managen, eine Wirtschaftsförderungszone mit Nordafrika und dem Nahen Osten. Bei dieser Union sollten nach Sarkozys Vorstellung die nördlichen EU-Mitgliedsstaaten, also auch Deutschland, lediglich einen Beobachterstatus einnehmen. Dass der Mann für die Maghrebregion ehrgeizige nationale Exportpläne hat, zeigte zuletzt sein Atomkraftwerksdeal mit Libyens Diktator Ghaddafi.

Die EU hat, nicht zuletzt auf Druck der Kanzlerin, diese Sarkozy-Club-Gründung am Mittwoch gestoppt. Statt einer französischen Entente soll es nun eine EU-gesteuerte „Union für das Mittelmeer“ geben, die Algerien, Tunesien, Marokko, Ägypten, Libyen, Israel, die palästinensische Selbstverwaltung, Jordanien, den Libanon, Syrien und die Türkei einschließt.

Trotzdem, die gute Laune des französischen Präsidenten war nicht unbegründet. Denn Sarkozy hat es letzten Endes geschafft, der EU einen durchaus belebenden Elektroschock zu verpassen.

Die „Union für das Mittelmeer“, die jetzt am 13. Juli in Paris angeblich aus der Taufe gehoben werden soll, ist letztlich nichts anderes als ein neues Label für ein altes Produkt, das nie so richtig durchschlug. 1995 einigten sich die EU-Staaten mit den Mittelmeeranrainern auf den sogenannten Barcelona-Prozess. Darin einigten sich die Staats- und Regierungschefs, dass die Politik gegenüber den südlichen Mittelmeeranrainern die gesamte EU betrifft. Schließlich gehe es um Herausforderungen wie Migration, Extremismus, Klima- und Umweltpolitik oder den Friedensprozess im Nahen Osten.

Bloß, außer einem feierlichen Gründungsakt hat der Barcelona-Prozess nie viel erreicht. Weder gab es politische Diskussionen um die Verwendung der 16 Milliarden Euro, mit denen bis 2013 das Projekt unterstützt werden soll, noch wurden diese Gelder überhaupt in umfänglicher Weise verwendet. Zur Zehn-Jahresfeier des Barcelona-Prozesses, schreibt die Süddeutsche Zeitung, sei 2006 kein einziger Regierungschef aus den Mittelmeeranrainern erschienen.

Kurzum: Die Mittelmeerpolitik war der eingeschlafene Fuß der EU. Sarkozys erster Verdienst war es, kräftig darauf getreten zu haben.

Dieser Vorgang sollte die Europäische Union über den Tag hinaus wachrütteln. Denn Sarkozy ist nicht der Einzige, der unzufrieden ist mit der Art, wie die EU ihre angebliche gemeinsame Außenpolitik verfolgt. Gerade haben Tschechien, Estland und Lettland eigene Visa-Abkommen mit den USA ins Auge gefasst. Die Regierungen dort hatten es schlicht satt, auf entsprechende Initiativen aus Brüssel zu warten.

An solchen Zentrifugalerscheinungen zeigen sich Segen und Fluch der EU zugleich. Natürlich könnte ein Block von 27 Staaten gegenüber auswärtigen Verhandlungspartnern mehr Gewicht haben, wenn er geschlossen auftritt, etwa gegenüber amerikanischen Fluggastdaten-Begehrlichkeiten. Jedoch scheint es dem großen Sternenverbund nicht nur hier an Kohärenz, Effizienz und Nachdrücklichkeit zu mangeln.

Das war in einer EG der Sechs anders, und auch noch in einer EU der Fünfzehn. Nun aber wächst die Ungeduld alter und neuer Mitgliedsländer mit einem aufgeblähten Kommissarsapparat in Brüssel, der zwar immer wieder große Ideen präsentiert, etwa in der Visa- und Nachbarschaftspolitik, dessen tatsächliche Performance aber zu wünschen übrig lässt. Ob der Lissabon-Vertrag („EU-Verfassung“) daran etwas ändern kann oder die Prozesse noch verkompliziert, wird abzuwarten sein.

Womöglich aber gehört die Vorstellung, Frankreich und Deutschland könnten in einem erweiterten Europa von 27 Staaten noch ein Motor sein, bald der Vergangenheit an. In Zukunft, das zeigen die Pariser und Prager Absatzbewegungen, könnte es ganz andere Allianzen geben: coalitions of the willing innerhalb einer allzu multilateralen EU-Welt, wenn man so möchte.

Die Bundesregierung scheint diese Gefahr für den europäischen Zusammenhalt durchaus erkannt zu haben. „Der Impuls, etwas Dynamischeres aus der Mittelmeerunion zu machen, war ja nicht falsch“, ist aus deutschen Regierungskreisen zu hören. Allerdings habe man hier auf keinen Fall eine Präzedenz zulassen dürfen. Schließlich könne es nicht sein, dass sich immer wieder Gruppen zusammenfänden, die glauben, sie könnten die Dinge in Exklusivität schneller und besser regeln – und dafür womöglich auch noch EU-Gelder nutzen.

Der Club-Mediterrane-Streit war, zweiter Verdienst Sarkozys, auch ein echter Fortschritt an Klarheit in den deutsch-französischen Beziehungen. Bisher, so formuliert es ein erfahrener deutscher Diplomat, „war man sich auch einig, sich einig zu sein, wenn man sich nicht einig war. Nach Außen hat man das dann als Einigkeit verkauft.”

Ist es nicht irgendwie angenehm, dass sich das gerade zu ändern scheint?

 

Egal wo – einseinszwo

Die Notrufnummer 112 funktioniert mittlerweile europaweit. Das verkündete kürzlich nicht ohne Stolz die EU-Kommission. Diese beruhigende Nachricht kann ich jedenfalls für Belgien persönlich bestätigen.

Neulich, gegen zwei Uhr nachts, auf dem Heimweg von einem dringenden dienstlichen Termin, öffnete sich in einer schlecht beleuchteten Straße mitten im EU-Viertel plötzlich die Tür eines Bürogebäudes. Ein Betrunkener taumelte heraus, stolperte über die Bordsteinkante, fiel mir direkt vors Fahrrad, den Kopf voran auf den Asphalt, und rührte sich nicht mehr.
Nachdem ich 1. die Atmung überprüft und 2. die stabile Seitenlage hergestellt hatte, dachte ich natürlich 3. sofort an die neuen Regeln der EU-Kommission. Also 112, den nunmehr europaweiten Notruf, gewählt.

„Bonsoir?“
Siehe da, er funktionierte.

Allerdings hält Europa ja viel auf seine nationalen Eigenheiten. Warum also nicht auch im Bereich den vereinheitlichen Notrufwesens?

Nachdem ich dem durchaus aufmerksamen jungen Mann in der Notrufzentrale Situation, Straßenname und Hausnummer mitgeteilt hatte, fragte der mich in sehr selbstverständlichem Ton nach der Postleitzahl.
Ich sagte neinnein, es handele sich nicht um eine Warensendung.
Er sagte, jaja, gewiss, aber er brauche die trotzdem. Das mache es für die Krankenwagenbesatzung leichter, den Ort zu finden.
Ich sagte, ich könne gerade leider nirgendwo eine Postleitzahl entdecken. Ob es der Krankenwagenfahrer nicht vielleicht in Erwägung ziehen wolle, sich auch ohne diesselbe auf den Weg zu wagen?

Durch die mittlerweile erhitzte Diskussion erwachte nun der Gestürzte und erhob sich wacklig vom Asphalt. Ihm gehe es gut, sagte er, indem er sich das Blut von der Wange wischte, er brauche keinen Krankenwagen. Ich sagte, naja, vielleicht besser doch, aber er klopfte mir auf die Schulter und sagte, nein danke wirklich nicht, er gehe dann mal sein Auto suchen.

Ich sagte, das sei nicht gut. Er sagte doch und ich sei ein nice guy und Pfoten weg jetzt! und taumelte seines Weges. Ich dachte kurzzeitig an den europäischen Haftbefehl, wobei der freilich mit der Situation rein gar nichts zu tun hatte.

Ungefähr fünf Minuten lang wartete ich noch auf den Krankenwagen. Dann rief ich die europaweite Notrufnummer noch einmal an und sagte, die Sache habe sich erledigt.

Fazit: Wenn die EU-Kommission demnächst eine europaweite Postleitzahlenansagenummer einrichtet, regen wir uns bitte mal nicht auf über die vermeintliche Brüsseler Regelungswut.

 

Der Gipfel vor dem Gipfel

Man könnte sagen, es geht um die Menufolge für das eigentlich große Ereignis, wenn die Außenminister der 27 Nato-Staaten sich am diesen Donnerstag in Brüssel treffen.

Vom 2. bis 4. April findet in Bukarest ein Nato-Gipfel statt. Er dürfte einerseits so etwas wie eine Schlussbilanz ziehen über eine neokonservative Weltmachtära. Andererseits dürfte er aber auch zu einem Selbstfindungsversuch werden über die Zukunftsaufgaben der 59 Jahre alten transatlantischen Verteidigungsallianz.

Wenn die protokollarischen Signale nicht lügen, dann werden in Bukarest zwei abtretende Präsidenten ihre Vermächtnisse verlesen: George Bush und Wladimir Putin. Der eine – tatsächliche Weltmachtführer – wird noch einmal programmatisch mitreden wollen. Der andere – Möchtegern-Weltmachtführer – soll zum Abschluss des Gipfels sprechen, wenn alle Beschlüsse getroffen sind. Putin ist ja immer noch offiziell russischer Präsident, die Amtsübergabe an seinen Nachfolger findet erst Anfang Mai statt.

Wird Putin noch einmal die Gelegenheit nutzen, einen Keil in die Allianz zu treiben? Ausgerechnet der Feldherr des Tschetschenien−Kriegs schwingt sich immer wieder zum vermeintlich friedliebenden Bändiger vermeintlicher amerikanischer Imperialpolitik auf. Historisch sein Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, wo er Kalte-Kriegs-Szenarien wiederbelebte: “Wir sind Zeuge einer ungezügelten Macht, die die grundlegenden Regeln des Völkerrechts verachtet.” In den “militärischen Abenteuern” Amerikas kämen “Tausende von friedlichen Menschen ums Leben. Anderen Staaten werden Regeln aufgedrängt, die sie nicht wollen. Wem kann das schon gefallen?”

Ein Anlass, die Regierung in Washington der Kriegslust zu bezichtigen, könnte der Hinweis auf deren Raketenabwehrabwehrpläne in Europa sein. Putin nutzt dies, um die Gefahr eines neuen Wettrüstens an die Wand zu malen. Doch wie 10 Abfangraketen (ohne Sprengköpfe), die in Polen stationiert werden sollen, das dreistellige russische Raketenarsenal auch nur annähernd bedrohen können, ist nach allen Regeln des gesunden Menschenverstandes schlicht nicht begreiflich. Zudem hat Putin bisher alle amerikanischen Vorschläge einer Kooperation (Inspektionen in den Raketenstützpunkten, Einbeziehung Teile von Russlands in den Schutzschirm, Stationierung der Raketen erst, wenn Iran bedrohlich aufgerüstet hat) zurückgewiesen. Stattdessen weiß er genau, womit er die europäische öffentliche Meinung in Wallung versetzen kann: Amerikanische Raketen. Das reicht, um tiefste Ängste heraufzubeschwören.

Wird die Nato auf dem Bukarest-Gipfel Klartext mit dem russischen Präsidenten reden? Bei genauerer Betrachtung ist es Putin, der derzeit die Sicherheitsarchitektur in Europa destabilisiert. Er spielt die Kosovo-Frage aus und verhindert damit eine Annäherung des West-Balkans an Europa. Er hat den KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte ausgesetzt, das heißt, Russland kann an seiner Westflanke wieder massiv aufrüsten. Er lässt es zu, dass russische Rüstungsunternehmen den Iran und Syrien mit modernen Luftabwehrrakten und Kampfflugzeugen versorgen. Er lässt strategische Atombomber regelmäßig Nato-Territorium überfliegen, sodass immer wieder Nato-Abfangjäger aufsteigen müssen. Er drosselt den Gasfluss in die Ukraine, weil sich die dortige Regierung unbotmäßig gegenüber seinem Stamokap-Gazprom zeigt.

Aber nein. Wahrscheinlich werden sich die 27 Staats- und Regierungschefs anderen Fragen widmen.

Zum Beispiel, ob die Nato Beitrittseinladungen an die drei Kandidatenländer Kroatien, Albanien und Mazedonien aussprechen soll. Ob sie der Ukraine und Georgien einen Beitrittsprozess in Aussicht stellen soll. Die Regierungen beider Länder drängen ins Bündnis, und während die USA sie gern so schnell wie möglich aufnehmen würden, zeigen sich viele europäische Staaten zögerlich. Georgien hat immerhin mit einem ungelösten inneren Konflikt zu kämpfen. Und mehr Probleme braucht die Nato nun wirklich nicht.

Und natürlich, ob es nicht an der Zeit wäre für eine kohärente Strategie für Afghanistan. Denn, das hätten wir ja fast vergessen, die Nato befindet sich immerhin im Krieg.

 

Brüsseler Entgrenzung

Manchmal lohnt es sich, im Kleingedruckten der Brüsseler Pressemitteilungen zu stöbern. So gab die slowenische Ratspräsidentschaft vor wenigen Tagen bekannt, sie habe vor, Verbalterrorismus hart zu bestrafen.

Es sei, so der slowenische Innenminister, der Wunsch einer Mehrheit der EU-Justizminister, bei der Änderung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung neben der Aufnahme neuer Straftatbestände wie Anwerbung und Ausbildung für terroristische Vorhaben auch bestimmte Äußerungen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu erfassen. Die Präsidentschaft wolle auf der nächsten Ratstagung im April zu einer gemeinsamen Ausrichtung kommen.

Der Rat ist der Teil des Brüsseler Apparats, der verbindliche Beschlüsse für alle Mitgliedsstaaten fasst.

Es gehe darum, „bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeiten mit den Mitteln des Strafrechts“ zu bekämpfen, heißt es in der Mitteilung der Slowenen (Seite 14).

Dieses Vorhaben könnte wieder einmal eins von der Art sein, das die nationalen Parlamente in Aufregung versetzt – falls und wenn sie irgendwann davon Wind bekommen. Man stelle sich einmal vor: Künftig soll auch derjenige unter Terrorismusverdacht geraten, der dumme, ausländerfeindliche Sprüche klopft? Wollen wir das ernsthaft? Wollen wir, dass sich den Staatsanwälten das ganze Arsenal strafprozessualer Möglichkeiten (Telefon- und Videoüberwachung, Observation, siehe Paragraph 100a StPO) eröffnet, welches eine Straftat gegen die öffentliche Ordnung nach sich ziehen kann – nur weil jemand Stuss erzählt hat?

Vor allem aber: Braucht Deutschland eine solche Gesetzgebung? Schon heute ist Beleidigung ebenso strafbar wie die Äußerungen bestimmter Meinungen, sofern sie den öffentlichen Frieden zu gefährden geeignet sind (Volksverhetzung). Wo also ist die Lücke, die es zu stopfen gilt?

Hin und wieder ist es ratsam, Brüsseler Rechtsakte auf einen alten Grundsatz hin zu überprüfen, den niemand gerne in den Mund nimmt, weil er so furchtbar schwierig auszusprechen ist. Er lautet Subsidiarität. Und bedeutet, dass die EU nur das zu regeln hat, was europaeinheitlich geregelt werden muss.

Die Frage ist bloß, wer bestimmt, was am besten europaeinheitlich geregelt werden muss? Die nationalen Parlamente tun jedenfalls nicht viel, um die Definitionshoheit über diese Frage zu behalten. Im Gegenteil. Was richtig und wichtig für die europäische Integration sei, wird zunehmend in Brüssel entschieden.
Dies führt zu einer – sorry für das schwierige Wort – antisubsidiären Eigendynamik. Will sagen: Je vereinheitlichter Europa wird, desto leichter lässt sich jede neue Vereinheitlichung begründen. Argumentationstheoretisch könnte man sagen, dass sich die EU eine immer breitere Prämisse verschafft. Die Tatsache, dass a, b und c europaweit geregelt ist, dient als Rechtfertigung, demnächst auch noch d europaweit zu regeln. Oder, wie es im Umgangsdeutsch heißt, sowas kommt von sowas. Eine solche schleichende Selbstbegründungsbewegung führt das Subsidiaritätsprinzip irgendwann ab absurdum.

(Dazu eine aktuelle Anekdote:
Auf dem gestrigen Brüsseler Wahlkampfauftakt der EVP-Fraktion tauschten sich an einem Bistrotisch zwei britische konservative Europaparlamentarier über die Grundsatzreden aus, die Minuten zuvor ihre Parteiführer vor großem Publikum erläutert hatten.
Der Kommentar des einen lautete: „Wir verkaufen den Leuten mit dieser Verfassung die Illusion eines sicheren Europas. In Wahrheit geht es darum, dass die Nationen immer mehr Hoheitsrechte abtreten sollen.“
Die Antwort seines Parteikollegen: „Ja, natürlich.“
An diesem Punkt gab sich der hinzugetretene Gast als deutscher Journalist zu erkennen.
„Oh. Sie schreiben das hoffentlich nicht, oder?“
Sicher nicht mit Namensnennung, entgegnete ich, zugleich lobend, dass ich diese Offenheit durchaus erfrischend fände.
„Ja, wissen Sie“, sagte der Brite, „zwischen dem was wir in Brüssel sagen können und dem, was von uns an Äußerungen im Wahlkreis erwartet wird, öffnet sich manchmal eine Schere.“
Wenige Sekunden später hatte ich den Bistrotisch für mich allein.)

In der Terrorismusbekämpfung drängt sich längst der Eindruck auf, dass es den europäischen Innenministern nicht mehr um das Notwendige geht, sondern um das Mögliche.

Es gibt viel Sinnvolles, das Brüssel für ganz Europa festlegen sollte, weil es nicht nur um nationale Interessen geht, sondern um übergeordnete, um die des gesamten Kontinents. Dazu gehören Kleinigkeiten wie Wärmedämmvorschriften für Gebäude ebenso wie Größeres, etwa Regeln für freien Wettbewerb im Binnenmarkt.

Die Einschränkung von Bürgerrechten gehört ganz sicher nicht dazu.

 

Ankaras Zweifronten-Krieg

Den verzweifelten Ruf eines britischen Journalisten nach der „Türkei?“ überhörten Javier Solana und Jaap de Hoop Scheffer geflissentlich. Kaum hatten sie ihre gestanzten Botschaften zur EU- und Nato-Zusammenarbeit in Afghanistan, Bosnien und dem Kosovo abgeliefert, traten sie am Montag eilends vom Pressepodium des Brüsseler Ratsgebäudes ab. Der Einmarsch der Türkei, immerhin ein Nato-Partner, immerhin ein EU-Beitrittskandidat, in den Nordirak am Wochenende, er war weder für den EU-Außenbeauftragten noch für den Nato-Generalsekretär ein Thema.

Ein Diplomat, der an dem vorhergehenden Treffen der beiden teilgenommen hatte, bestätigte, die Großoffensive gegen die PKK sei in den Gesprächen nicht behandelt worden. Auch im Hauptquartier der Nato, so ist zu hören, sei die Invasion in keinem Gremium ein Thema gewesen. Solange die Türkei sich weder auf Artikel 4 des Nato-Vertrages (Konsultationen bei Bedrohungen der territorialen Unversehrtheit) noch auf Artikel 5 (Bündnisfall wegen bewaffneten Angriffs) berufe, werde wohl auch niemand ohne Not die Lage ansprechen.

Als ob am Rande Europas, auf dem Boden eines der gefährlichsten Staaten der Welt, nicht gerade ein neuer Krieg anschwellte.

Aber irgendwie gehört die Türkei ja doch nicht so recht zu Europa. Und irgendwie ist sie ja auch ein bisschen Mitschuld an diesem Kurdenproblem. Also ist das Ganze doch eher eine innere Angelegenheit.
So darf man den Subtext der derzeitigen Brüsseler Nicht-Debatte um die Türkei wohl zusammenfassen.

Freilich, auch die PKK steht auf der Liste der 48 Vereinigungen und 54 Personen, die Brüssel als terroristisch einstuft. Deswegen aber gilt sie Europa noch lange nicht als Terrorgruppe erster Güte. In den Köpfen der EU- und Nato-Diplomaten bombt die Kurdische Arbeiterpartei eben nicht in einer Schublade mit einer Gama’a al-Islamiyya oder den Hisbollah-Mudschaheddin. Wenig hilft es, wenn türkische Generale bei der Nato immer wieder versuchen, die PKK unter dem Tagesordnungspunkt „Terrorismus“ in die Runde zu bringen. Auf diese Einsortierung des Kurdenproblems, so ist zu hören, ließen sich Amerika, Großbritannien und Deutschland nur solange ein, wie die Scharmützel auf das „eigene Gebiet“ der Türkei begrenzt blieben.
Gefühlt gehören die anatolischen Underdogs eben eher in die Rubrik Rebellentum. Eher zur Kategorie IRA denn al-Qaida. Zuwenig Islamismus, zu viel Sozialismus, mit anderen Worten, um einen Antiterror-Schulterschluss des Westens zu bewirken. Auch dann nicht, wenn die Guerillas grenzübergreifend zu Felde ziehen.

Die türkische Regierung, scheint’s, muss ihr Selbstverteidigungsrecht – ein bisher weithin anerkanntes Prinzip – zweimal abwägen. Außenpolitisch, nach Osten, und EU-politisch, nach Westen. „Ein militärisches Vorgehen der Türkei im Irak ist mit einem EU-Beitritt nicht vereinbar“, stellt der Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Markus Ferber, fest – und damit zugleich eine ganz neue antimilitaristische Beitrittsbedingung auf.
Denn seltsam: Rumänien und Bulgarien, die seit 2004 militärisch im Irak vorgehen, wurde aus dergleichen 2007 kein EU-Beitrittsverbot gedreht. Und dabei waren diese beiden Länder nicht einmal von Bombenkampagnen gegen ihre Bürger überzogen worden, konnten sich also keineswegs auf ein Selbstverteidigungsrecht berufen.

Nun hat diese Art von Brüsseler Doppelmoral dummerweise einen wahren Kern. Denn die Türkei hat in der Vergangenheit zu wenig getan, um der PKK ihre politische Legitimationsgrundlage zu entziehen. Zuletzt hat sie ihren Anführer, Abdullah Öcalan, nicht hingerichtet. Das war zwar gut, kostete aber wenig moralische und innenpolitische Energie. Die EU erwartet zu Recht einen kraftvolleren Schutz der kurdischen Minderheit. Im ihrem letzten Fortschrittsbericht über die Türkei vom November 2007 heißt es:
„Die Türkei hat im Bereich der kulturellen Rechte keine Fortschritte erzielt. Umfangreiche weitere Anstrengungen sind erforderlich, insbesondere im Hinblick auf die Verwendung anderer Sprachen als Türkisch im Rundfunk, im politischen Leben und bei der Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen.“

Derweil zeigt sich der für die Türkei zuständige Erweiterungskommissar flexibel. Mitte Dezember, nach den ersten Luftangriffen der türkischen Armee auf PKK-Stellungen, war aus dem Umfeld des Finnen Olli Rehn noch zu hören, jede Reaktion auf kurdische Terrorangriffe müsse angemessen sein; vereinzelte Luftschläge seien dies wohl gerade noch. Nicht aber eine großangelegte Bodenoffensive. Nun äußert Rehns Sprecherin doch Verständnis für die Invasion. Schwere Tage, wackliger Boden für die Türkeifreunde in Brüssel.

Ankara hat am Wochenende einen Zweifrontenkrieg begonnen. Für jeden Schuss, den er nach Osten abfeuert, sollte Ministerpräsident Erdogan jetzt eine Botschaft nach Westen schmettern. Darüber, wie er gedenkt, den Kurdenkonflikt in Zukunft politisch beizulegen. Ansonsten dürfte er in Europa, besonders und Deutschland, bald abgeschrieben sein. Als der große Desintegrierer. Erst von Köln, und jetzt auch noch von Kirkuk.

 

Europa scannt seine Illegalen

Im Keller des Hauses einer Bekannten hier in Brüssel, in einem kleinen, fensterlosen Kabuff neben der Waschküche, lebt eine Südamerikanerin. Ihr Name steht nicht an der Haustür. Sie bügelt Hemden für einige der Nachbarn, bei anderen putzt sie. Für 10 Euro die Stunde. „Eigentlich ganz schön teuer für eine Illegale“, belehrte eine Mitbewohnerin meine Bekannte kurz nach dem Einzug.

Im belgischen RTL-Fernsehen trat unlängst ein Mann namens „Alex“ auf, der sich als Sprecher des Kommites für illegale Einwanderer zu erkennen gab. Er gab zu, ein Schwarzarbeiter zu sein. Der Moderator wollte von ihm wissen, ob er sein Chef Steuern und Sozialabgaben für ihn abführen würde, wenn er einen Aufenthaltstitel besitzen würde.

„Alex“ wirkte daraufhin etwas perplex. „Nein“, sagte er dann. „Ich bin mein eigener Chef. Ich habe sieben Angestellte.“

Unter anderen um solche Schattenwirtschaft künftig zu unterbinden, will Europas Sicherheitskommissar Franco Frattini jetzt allen Nicht-EU-Bürgern bei der Einreise in den Schengenraum biometrische Daten abnehmen.

In dieser Woche stellt Frattini seine Vorschläge zur verbesserten Einreisekontrolle vor. Er reagiert damit auf die Kehrstehe der inneuropäischen Reisefreiheit. Da die Grenzkontrollen zwischen den mittlerweile 22 Ländern des Schengenabkommens von 1995 weggefallen sind, haben die Behörden kaum noch eine Chance nachzuvollziehen, wo – und vor allem wie lange – sich Nicht-EU-Bürger in Europa aufhalten.

Bis 2015, schlägt Frattini nun vor, soll ein Einreiseregister erstellt werden, in dem Finger- und Gesichtsabdruckdaten von allen Einreisenden aus Drittstaaten gespeichert werden könnten.
Die Idee des Kommissars klingt erst einmal böse.
Biometrische Erfassung? Mit so etwas quälen doch nur terrorhysterische Amerikaner unschuldige Europäer!

In dieser Tonlage jedenfalls reagierten umgehend die europäischen Grünen. Die „massive Anhäufung von Daten nach dem Vorbild der USA“ werfe schwere bürgerrechtliche Bedenken auf und stehe in keinem Verhältnis zu ihrem Ertrag. „Um zu wissen, wie viele legal eingereiste Besucher illegal in der EU bleiben, reicht auch ein Papierformular“, schreiben die Grünen in einer Pressemitteilung. Als würden die Betreffenden dergleichen ausfüllen. Zudem geht es nicht darum zu wissen, wie viele Menschen illegal in der EU bleiben. Sondern darum, diese Zahl zu senken.

Hat Europa – gerade wenn es seine Reisefreiheit im Inneren aufrechterhalten will – schließlich nicht ein berechtigtes Interesse daran, kontrollieren zu können, wer sich in seinen Grenzen aufhält? Wenn Einreisende künftigt Fingerabdrücke hinterlassen müssten, gäbe dies den Behörden immerhin die Möglichkeit, notfalls auch ohne Personaldokumente überprüfen zu können, ob der Aufenthalt von Zugereisten (noch) legal ist.
Die große Mehrheitsmeinung aller euopäischen Regierungen ist es, Zuwanderung nur dann zuzulassen, wenn es entweder um hochqualifizierte Manager oder Facharbeitskräfte handelt, um echte Asylsuchende oder es darum geht, Familien zusammen zu führen.

Einmal in den Schengenraum eingereist können illegale Einwanderer oder Kriminelle bisher, wenn sie es denn darauf anlegen, trefflich verstecken spielen mit den Sicherheitsbehörden. Droht ihr dreimonatiges Visum für ein Mitgliedsland der EU abzulaufen, können sie sich unbemerkt in ein Nachbarland absetzen, wo sie dann untertauchen oder schwarz arbeiten. „Overstayers“ heißen diese Kandidaten im Behördenjargon. Die Süddeutsche Zeitung zitiert heute Schätzungen, wonach sowohl in Amerika wie auch in Europa 40 bis 50 Prozent aller illegalen Einwanderer auf diese Weise unerlaubt im Land bleiben.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass dies im Jahr 2006 etwa 8 Millionen Menschen waren, 80 Prozent davon im Schengen-Raum. „Uns geht es wie dem Hotelmanager, der zwar sieht, wie seine Gäste einchecken, aber nicht mitkriegt, ob sie auch wieder ausreisen“, zitiert die SZ weiter Frank Paul, der bei der EU-Kommission zuständig ist für die technische Grenzkontrolle.
Die EU will bis 2013 170 Millionen Euro ausgeben, um ihre 91 000 km langen Land- und Seegrenzen dichter zu kontrollieren.

Möglich ist natürlich auch, dass Einwanderer später einfach den Pass wegwerfen, mit dem sie eingereist sind. Dann ist für die Behörden nicht nachvollziehbar, wann sie eingereist sind und wie lange sie sich schon – wie etwa so manche Kellerbewohnerin in Brüssel – in Europa aufhalten.

Oder aber sie sind – die bedenklichste Variante, wenn sie weniger harmlosen Beschäftigungen nachgehen wollen als Hemdenbügeln – schon mit gefälschten Dokumenten eingereist. Auch dann können sie sich ungestört von Madrid bis Warschau bewegen. Schengen ist eben auch für dunkle Geschäftsmänner ein Geschenk.
„Die einzigen, die vom Binnenmarkt in vollem Umfang profitieren, sind die Gangster und Banditen. Die haben verstanden, dass sie ihr Gewerbe über ganz Europa ungehindert ausdehnen können“, sagt selbst Mr. Maastricht, der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker.

Deswegen sollte es nicht gleich sämtliche vorhersehbaren Abwehrreflexe auslösen, wenn Frattini ein „Entry-Exit-System“ fordert.

Die Frage ist aber in der Tat, ob seine Ideen verhältnismäßig sind.

Sämtlichen Einreisenden Fingerabdrücke abzunehmen, auch solchen, die kein Visum benötigen, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Bürgerrechte und öffnet zahlreichenden Missbrauchsmöglichkeiten die Tür (siehe die treffende Argumentation von Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den „ePass“). Kann die EU wirklich sicher stellen, dass die Fingerabdrücke nicht in die falschen Hände geraten? Gibt es keine mildere Mitteln, um denselben Effekt zu erzielen? Zum Beispiel, Einreisende einfach zu fotografieren und sie eine Schriftprobe abgeben zu lassen? Könnte es womöglich auch helfen, wenn die EU sich – darauf weisen die Grünen heute zu Recht hin – konzertierter mit einer vernünftigen Einwanderungspolitik beschäftigen würde?

Mit seiner Idee einer Bluecard für Europa stieß Frattini allerdings im Herbst vergangenen Jahres auf den geballten Widerstand der großen Mitgliedsstaaten.

Die Frage ist also: Wie repressiv darf die EU gegenüber Nicht-Europäern auftreten, um ihre innere Freiheit zu schützen?
Diese Frage stellen wir beständig Richtung Amerika.
Warum stellen wir sie zur Abwechslung nicht einmal uns selber?

Schließlich sind, wie die belgische Ministerin für Migration, Annemarie Turtelboom am 30.Mai 2008 in der IHT feststellte, „in den vergangenen Jahren mehr Einwanderer nach Europa gekommen als in die USA und nach Kanada zusammen. Es halten sich derzeit schätzungsweise acht Millionen illegale Einwanderer auf dem Kontinent auf, etwa zwei Drittel mehr als in Nordamerika.“ Für das, was sie hier oft erwartet, findet die Ministerin drastische Worte: „Wenn ein Sohn Afrikas Europa erreicht, wird er meist eine illegale Unterkunft von Dickenscher Verkommenheit finden, die gewöhnlich von einem skrupellosen Immigranten unterhalten wird, der viele Jahre hergekommen ist. Für seine Arneit wird er zwischen 2 und 3 Euro erhalten, zumeist in irgend einer dreckigen, illegalen Fabrik. Um ihre Kinder zu ernähren, müssen sich Frauen um einen Job als Haushaltshilfe bemühen oder sich sogar der Prostitution zuwenden.“

Über Frattinis Vorschlag müssen übrigens die Innenminister aller EU-Länder entscheiden, und zwar mit Einstimmigkeit. Sollten die nationalen Parlamente etwas gegen die Pläne haben, dann sollten sie sich also ganz schnell zu Wort melden.

Die belgische Ministerin hat einen Vorschlag für eine klare Priorität: „Wir sollten als erstes dafür sorgen, dass die Anzahl der legalen Einwanderer höher wird als die der illegalen.“

 

Heute mal die Zukunft in Ordnung bringen

Wenigstens da waren sich Amerikaner und Europäer einig: Die Nato hat ein Verkaufsproblem. Wer weiß schon noch, warum deutsche Soldaten in Afghanistan stehen? Wie, wenn überhaupt, lässt sich dem Souverän noch klar machen, dass es seine Sicherheit ist, die da am fernen Hindukusch verteidigt wird? So lautet die klamme Bilanz des ersten Tages der 44. Münchner Sicherheitskonferenz.
Was die verteidigungspolitische Prominenz des Nato-Westens im edlen Hotel Bayerischer Hof abhielt, war vor allem eine Vergewisserungsveranstaltung über die eigene Ungewissheit.

Allen lauten amerikanischen Rufen nach deutschen Soldaten für den Süden Afghanistans zum Trotz, predigte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) das Konzept der “vernetzten Zusammenarbeit”. Unverdrossen betete er das Gebet von der „selbsttragenden Sicherheit“ herunter, welche es in Afghanistan herstellen gelte, und zwar vor allem durch Ausbildung einheimischer Kräfte.
Einig war sich Jung mit seinen amerikanischen Counterparts immerhin über die mangelnde Unterstützung durch die Heimatfront. Es werde in der Öffentlichkeit „zu wenig dargestellt“, so Jung, dass immerhin 28 Millionen Afghanen von der Terrorherrschaft der Taliban befreit worden seien, knapp sieben Millionen Kinder wieder zur Schule gehen könnten und schon 4,7 Millionen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt seien, weil sie die Lage mittlerweile für hoffnungsvoll und sicher genug hielten.

Leider ahnt man, warum die Kommunikation zwischen Verteidigungsministerium und Wahlvolk trotzdem krankt. Dann nämlich, wenn Jung unelegant doziert, der „kombrehensiff abrootsch“ sei entscheidend „im Hinblick auf einen positiven Prozess in Afghanistan.“ So redet man niemanden heiß.

Wie sich ein Publikum rhetorisch packen lässt, führte kurz darauf der republikanische US-Senator Lindsey Graham aus South Carolina vor. Er war anstelle des erfolgsverhinderten Präsidentschaftskandidaten John McCain auf das Münchner Podium gekommen.
„Gewinnen wir in Afghanistan?“, fragte er schlicht. Und antwortete einfach: „Ich bin mir nicht so sicher.“ Da wurde es schon still im Saal. Regelrechte Andächtigkeit produzierte Graham in der Folge mit einer Reihe von selbstkritischen Bekenntnissen.

„Es geht in Afghanistan auch um einen Krieg der Ideen“, sagte er. Und: „Wenn wir Fehler machen wie Guantánamo, laufen wir Gefahr, diesen Kampf zu verlieren. Denn mit so etwas verlieren wir unseren moralischen Vorsprung. Wir haben ganz einfach eine Reihe von Fehlern gemacht seit dem 11. September 2001.“ Ihm, so Graham, wäre viel wohler, wenn Terrorverdächtige, die in Afghanistan festgenommen würden, vor ordentliche Gerichte gestellt würden, wo ihnen „unter den Augen der Welt“ ein fairer Prozess gemacht werden könne.

Das war Salbe auf die transatlantische Seele.

In solchen Momenten zeigte diese 44. Sicherheitskonferenz mit aller Deutlichkeit: Amerikas Falken sind müde. Zwar mag erst Ende nächsten Jahres eine Regierung der Demokratischen Partei die Ära Bush II beenden. Doch der neokonservative Moment der Washingtoner Außenpolitik ist schon heute vorbei. Da mögen die Amerikaner noch so entschieden nach gerechter Lastenteilung im Bündnis rufen – von den Methoden der soft power Europa zeigen sie sich mittlerweile erstaunlich beeindruckt.

„Ihr Deutschen stellt 3000 Soldaten und leistet damit den drittgrößten Beitrag in Afghanistan“, sagt die amerikanische Nato-Botschafterin Victoria Nuland gegenüber der ZEIT. „Was Deutschland gerade leistet, und zwar nicht nur für die Zukunft Afghanistans, sondern auch bei der Entwicklung eines weltweiten Beitrags Deutschlands zu Frieden und Sicherheit, ist extrem wertvoll. Bei der Nato sprechen wir von ,vernetzter Sicherheit’. Es geht dabei nicht nur ums Militär, sondern auch um Regierungsfähigkeit, Entwicklung, Drogenbekämpfung – alle diese Aspekte eben, die zusammen gedacht werden müssen.“ – Plötzlich sind wir alle Nation Builder.

Ein wie großes Umdenken derartige Statements beweisen, wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass vor nicht langer Zeit die US-Regierung Nation Building im Wesentlichen mit Regime Change gleichsetzte. George Bush, Richard Cheney und Donald Rumsfeld dachte noch am Vorabend des Irakkrieges, die Iraker würden die amerikanischen Soldaten mit Blumen begrüßen und sofort selbst mit dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beginnen, sobald Saddam Hussein gestürtzt sei. Als Präsidentschaftskandidat sagte Bush noch über sein Bild der US-Armee:
„Ich glaube nicht, dass unsere Soldaten für etwas eingesetzt werden sollten, was als Nation-Building bezeichnet wird. Meiner Meinung nach sollten unsere Soldaten dafür eingesetzt werden, einen Krieg zu führen und zu gewinnen.“
(zitiert nach Francis Fukuyama, Scheitert Amerika?, List 2007, S. 55)

Zwei Kriege später haben er und seine Regierung offenkundig eine Menge dazugelernt.

Aber gilt das auch für die Europäer?

Es hat etwas Geducktes, Verdruckstes und furchtbar Verlegenes, wenn Franz Josef Jung Sätze sagt wie: „Allein militärisch werden wir diesen Prozess nicht gewinnen“ Denn allein nicht-militärisch dürfte man diesen Prozess (gemeint ist die dauerhafte Befriedigung Afghanistans) noch viel weniger gewinnen.

Daran erinnerte der selbstkritische Senator Graham die Europäer. „Der Kampf ist im Süden“, sagte er mit Blick auf die regelrechten Schlachten, die sich Amerikaner, Kanadier und Briten dort täglich mit Taliban-Verbänden liefern. Neben Deutschland geraten immer wieder Spanien, Italien und Frankreich wegen weitreichender Einsatzbeschränkungen (der so genannten caveats) in die Kritik.

Den wahrscheinlich nachhaltigsten Beweis zur Verunsicherung der europäischen Nato-Partner lieferte indes der französische Verteidigungsminister Hervé Morin. In einer länglichen, erschreckend uninspirierten Rede reihte der 47jährige eine beachtliche Anzahl sicherheitspolitischer Plattitüden („Wir müssen global denken!“) und Alltagsfragen („Soll die Nato ein globales Stabilisierungsinstrument werden?“) aneinander, bekannte sowohl seine Freundschaft für die Nato („Europa muss mehr für die Lastenteilung im Bündnis tun. Europa muss erwachsen werden!“) wie auch für Europäische Verteidigungsgemeinschaft („Europäische Kräfte müssen zuerst für das das eingesetzt werden, was die EU betrifft“), bis er das Publikum plötzlich mit einem – in der Tat nicht für Afghanistan höchst treffenden – Zitat von Antoine de Saint-Exupéry aufweckte: „Die Zukunft ist immer nur die Gegenwart, die es in Ordnung zu bringen gilt.“ So weit, so literarisch.

Für die Generationenaufgabe in Afghanistan gilt vielleicht noch präziser eine Weisheit von Theodore Roosevelt: „We cannot always build a future for our youth. But we can always build our youth for the future.“

In München bleibt der versammelten Verteidigungselite für die globale Aufräumarbeit noch der Sonntag. Er beginnt mit einer Rede des amerikanischen Verteidigungsministers Robert Gates, die mit Spannung erwartet. Gates immerhin gehört zu jenen Republikanern, die sich mehr echte Kooperation mit Europa wünschen.
Aber vielleicht hat sein jüngster Brief an die Nato-Kollegen gezeigt, dass es für Europa nicht unbedingt ein Grund zur Freude muss, wenn Amerika in absehbarer Zeit ein bisschen europäischer, sprich: multilateraler wird?

Denn immerhin, auch ein Weltmachtführer mit Namen John McCain, Barack Obama oder Hillary Clinton wird sich um ein paar der verbleibenden Probleme des Planeten kümmern müssen. Und deren Zahl nimmt eher zu denn ab. Neben Irak und Afghanistan werden immer mehr Staaten zu Wackelkandidaten, von denen entweder Bürgerkrieg, Terror- und Atomwaffenexport oder gleich alles zusammen droht. Kosovo, Somalia, Libanon, Palästina, Syrien, Iran, Nordkorea. Um nur die Liste mit Stand vom Wochenende zu nennen.

 

„Wirkung in der Welt erzielen“

Zwischen den Nato-Staaten droht ein handfester Konflikt um die eine gerechte Lastenverteilung in Afghanistan. In der vergangenen Woche schrieb der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates Briefe an alle 25 Verbündeten, mit der dringenden Bitte, ihre Truppen am Hindukusch aufzustocken. Bis zu 7000 weitere Soldaten, so Nato-Berechnungen, fehlen in Afghanistan. Minister Franz Josef Jung hat das Ansinnen bereits zurückgewiesen.
Doch die eigentliche Solidaritäts-Kampagne der Amerikaner könnte noch bevorstehen. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz am Wochenende und beim Nato-Gipfel Anfang April in Bukarest dürften sich die Europäer deutliche Worte anhören.

Jochen Bittner fragte vorab die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei der Nato, Victoria Nuland, wie sie den Zustand des Bündnisses und die Lage in Afghanistan einschätzt.

English version of the interview

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Frau Botschafterin, eine Testfrage zur Nato-Bündnisfestigkeit: Können Sie sich noch vorstellen, dass ein amerikanischer Soldat für deutsche Sicherheitsinteressen stirbt?

Victoria Nuland: Absolut. Keine Frage. Das ist der Kern unserer Bündnisverpflichtung untereinander und entspricht seit 60 Jahren dem Wesen der Allianz.

Das deutsche Engagement in Afghanistan ist in der vergangenen Wochen aus Washington heftig kritisiert worden. Wie beurteilen Sie die Lastenverteilung am Hindukusch? Vermissen Sie nicht umgekehrt Solidarität in der Allianz?

Nuland: Ihr Deutschen stellt 3000 Soldaten und leistet damit den drittgrößten Beitrag dort. Ihr deckt ein enormes Gebiet in Nordafghanistan ab. Ihr habt die Tornado-Aufklärungsflugzeuge gestellt. Ihr tragt zur Drogenbekämpfung bei. Was Deutschland gerade leistet, und zwar nicht nur für die Zukunft Afghanistans, sondern auch bei der Entwicklung eines weltweiten Beitrags Deutschlands zu Frieden und Sicherheit, ist extrem wertvoll, und die Deutschen sollten stolz darauf sein.
Es geht um Afghanistan, aber es geht auch um Deutschland und die Sicherheit des Bündnisses. Natürlich werden wir während des Nato-Gipfels in Bukarest alle unsere Verbündeten auffordern, noch mehr zu tun, besonders im Lichte der amerikanischen Entscheidung, im Frühjahr 3200 Marines zusätzlich nach Afghanistan zu schicken.

Die Wahrnehmung in Deutschland ist etwas anders. Die meisten Menschen erkennen nicht mehr den tieferen Sinn hinter der Hindukusch-Mission.

Nuland: Wir müssen aufstehen und mehr über die grundlegenderen Anforderungen sprechen, die es braucht, um demokratische Werte zu verteidigen, um die demokratische Gemeinschaft zu verteidigen und auszuweiten. Die Beiträge zu Nato-Missionen sind Teil davon. Diplomatie gegenüber dem Iran – sowohl mit Zuckerbrot wie auch mit Peitsche – ist Teil davon. Terrorismusbekämpfung ist Teil davon. Eine Einwanderungspolitik, die fair und integrativ ist, ist Teil davon. Wir müssen Gesamtkonzepte diskutieren, um heute unsere Sicherheit zu verteidigen.

Sehen Sie einen deutschen Politiker, der diese Botschaft so klar aussprechen würden?

Nuland: Es freut uns zu sehen, wenn Kanzlerin Merkel Afghanistan besucht, so wie es vergangenen Herbst getan hat. Sie ist ein kraftvoller kommunikativer Mensch. Sie kann den Deutschen helfen, Stolz zu entwickeln auf das, was sie an Beiträgen zur globalen Sicherheit leisten.

Können Sie eine gemeinsame Strategie der Allianz erkennen, sowohl in Afghanistan wie auch für die gesamte Nato? Die unterscheidlichen Mentalitäten der Amerikaner und der Europäer prallen ständig aufeinander. Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass es angesichts der Verwerfungen eine gemeinsame Zukunft für die Nato gibt?

Nuland: Ich denke, wir hatten oft Meinungsverschiedenheiten über taktische Fragen im Bündnis. Bei den strategischen Herausforderung stimmen wir aber generell überein. Wir müssten in den vergangenen sieben Jahren die Umwandlung der Nato mit Lichtgeschwindigkeit betreiben, um uns in Lage zu versetzen, mit einer völlig neuen Bedrohung fertig zu werden: Terrorismus und Massenvernichtungswaffen. Es hat eine völlig andere militärische Struktur gebraucht, um 4000 Meilen von den Grenzen des Bündnisgebietes entfernt eingreifen zu können, und zwar nicht nur mit allen Teilstreitkräften – Luft-, Boden- und Spezialkräften -, sondern auch in multilateraler Weise. Wir (die Nato, Anm. JB) haben bisher noch nie eine Bodenschlacht oder eine Aufstandsniederschlagung zusammen durchgemacht, wie wir es jetzt in Afghanistan tun. Jetzt kämpfen wir Seite an Seite mit 14 Nicht-Nato-Partnern und Afghanen – und trainieren nebenbei noch die Einheimischen.

Nun ja, die amerikanischen Truppen im Süden kämpfen verbissen gegen die Taliban. Die Deutschen im Norden dagegen bauen Schulen und graben Brunnen. Sehen Sie da wirklich einen gemeinsamen Ansatz?

Nuland: Hier, bei der Nato, sprechen wir von ,vernetzter Sicherheit‘. Es geht dabei nicht nur ums Militär, sondern auch um Regierungsfähigkeit, Entwicklung, Drogenbekämpfung – alle diese Aspekte eben, die zusammen gedacht werden müssen. Das ist eine völlig neuartige Weise, Sicherheit zu schaffen, und sie erfordert völlig neue Werkzeuge. Reden wir nicht nur über Afghanistan. Es gibt ja noch die Nato Response Force oder die Operation Active Endeavor im Mittelmeer. Wir bilden irakische Sicherheitskräfte aus; wir bilden innerhalb der Afrikanischen Union aus und helfen bei deren Darfur-Mission. Es hat gewaltige Veränderungen gegeben bei dem, was wir als Allianz tun und damit auch bei den Instrumenten. Wir müssen uns schleunigst daran anpassen.

Bei all dem: Hat die Nato noch eine klare Mission?

Nuland: Wenn Sie mich fragen, liefert die Allianz heute handfeste Beiträge gegen gemeinsame Bedrohungen. Sie ist ist ein Instrument, dass sich politische Führer auch weiterhin zur Hilfe holen werden. Sie fragen ja nach immer mehr Nato, und für uns ist sie die beste Einrichtung, um Wirkung in der Welt zu erzielen, sei es, wenn es darum geht, der Afrikanischen Union zu helfen, den Balkan zu stabilisieren und ihn in Europa zu integrieren, oder um Afghanistan zu unterstützen. Wie es der Bündnisvertrag von 1949 sagt: Interessen, Sicherheit und Werte verteidigen. Wir dies heute mehr – sowohl militärisch wie politisch – als jemals zuvor.

Und hier die Langfassung des Artikels
Gibt es die Nato noch?
aus der Print-Ausgabe der ZEIT vom 7. Februar 2008:

Der Einberufungsbefehl, den der amerikanischen Verteidigungsminister vergangene Woche an die deutsche Bundeswehr schrieb, dürfte erst der Anfang gewesen sein eines großen, nunmehr öffentlichen Zerrens um einen gerechten Blutzoll in Afghanistan. „Wir werden unsere Verbündeten auf dem Nato-Gipfel in Bukarest erneut herausfordern, mit uns gleichzuziehen, Soldat für Soldat, Euro für Dollar“, kündigte die amerikanische Nato-Botschafterin Victoria Nuland soeben in der Washington Post an.
Bis zum Gipfel im April wird die Frau nicht warten müssen. Schon Ende dieser Woche dürfte beim Verteidigungsministertreffen in Vilnius und erst recht bei der hochkarätig besetzten Sicherheitskonferenz in München weiterer Unmut explodieren über die Schein-Solidarität, die aus Sicht der Amerikaner, Kanadier und Briten seit Jahren im Bündnis herrscht.

Die Nato gibt sich politisch noch immer gern als gemeinsame Benutzeroberfläche derer, die sich „Westen“ nennen. Doch je mehr Kugeln und Raketen in Afghanistan fliegen, je mehr Soldaten in der Mission sterben, desto gnadenloser fördert sie die gewaltigen Mentalitätsunterschiede zwischen den Nato-Staaten zutage, über die die Allianz seit 1990 selbstvergessen hinwegsah. Doch jetzt hat, das zeigen solche Depeschen wie die von Robert Gates und Victoria Nuland, die Geduld der angelsächsischen Krieger mit den europäischen Brunnenbohr-Brüdern allmählich ein Ende.
Der aktuelle Streit steht für mehr als ein Tauziehen um Anti-Taliban-Bataillone in Nord- und Südafghanistan. Auf dem Gefechtsfeld ist vielmehr ein grundlegender Bruch des Nato-Westens selbst zu besichtigen. Bei nüchterner Betrachtung nämlich plagen das 59 Jahre alte transatlantische Verteidigungsbündnis aus 26 Staaten schon seit einiger Zeit drei größere Probleme. Erstens, ist es noch transatlantisch? Zweitens, dient es noch der Verteidigung? Drittens, ist es noch ein Bündnis?

Diese bescheidenen Fragen spricht bisher im Brüsseler Hauptquartier allerdings kaum jemand laut an. Noch schließlich ließen sich offene Konflikte innerhalb der Allianz vordergründig auf Personen abwälzen. Man reibe sich ja keineswegs an Amerika, bekräftigten die von Donald Rumsfeld als „alt“ gestempelten Europäer wie Deutschland und Frankreich seit der Irak-Krise 2003 – sondern doch nur am Stil eines George Bush. Gegenüber der nächsten, vermutlich europafreundlicheren US-Regierung wird dieses Abwehrargument nicht mehr ziehen.

Für die Nato nach Bush ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen darüber, ob es mehr gibt, was sie zusammenhält oder mehr, was sie trennt. Zwar hat der 11. September 2001 ihr noch einmal einen Solidaritäts-Schock verpasst. Doch schon der nächste echte Belastungstest könnte die Allianz mit einer unangenehme Wahrheit konfrontieren: Dass sie womöglich längst ein politischer Zombie ist, eine lediglich gut geschminkte Untote aus dem Kalten Krieg.
Immerhin, auch ein neuer Weltmachtführer mit Namen Barack Obama oder Hillary Clinton oder John McCain wird sich um ein paar der verbleibenden Probleme des Planeten kümmern müssen. Und derer gibt es mehr denn je. Neben Irak und Afghanistan geraten immer mehr Staaten auf die Liste der Wackelkandidaten, von denen entweder Bürgerkrieg, Terror- und Atomwaffenexport oder gleich alles zusammen droht. Kosovo, Somalia, Libanon, Palästina, Syrien, Iran, Nordkorea, um nur die aktuelle Liste zu nennen.

Zugleich wird eine erste Inventur von Amerikas Kraftpotenzial nach der Hybris der Bush-Jahre eher ernüchternd ausfallen. Das 1,2 Millionen Soldaten starke US-Militär – überdehnt, ausgelaugt und interventionsmüde. Die mythische moralische Überlegenheit der „Führungsnation der freien Welt“ – perforiert im Kugelhagel von Bagdad und Falludscha, angefault in den Fluren von Guantánamo und Abu Ghraib.
Der neue Mieter im Weißen Haus dürfte daher, sobald er an globale Ordnungspolitik denkt, sehr schnell sehr freundlich Richtung Europa lächeln. Doch wenn Amerikaner an Europa denken, kommt ihnen ein anderes Kürzel in den Sinn als den Europäern. Washington denkt nicht zuerst EU. Washington denkt zuerst Nato. Schließlich ist das nordatlantische Verteidigungsbündnis jener Club, in dem die amerikanische Regierung Sitz und Stimme hat. Den seltsamen Verein Europäische Union betrachtet die US-Regierung eher mit einem soziologischen Interesse.

Im Ost-West-Konflikt ergab sich der gegenseitige Beistand der Nato-Mitglieder notwendig aus der Schlachtfeldlogik einer zweigeteilten Welt. Gegenüber dem lebensbedrohlichen Panzer- und Raketenarsenal des Warschauer Pakts waren die Sicherheitsinteressen des einen die Sicherheitsinteressen aller anderen.
Knapp zwanzig Jahre nach der Wende von 1989 ist anstelle dieses Solidaritätsgefühl ein, jedenfalls in der öffentlichen Meinung, regelrechter West-West-Konflikt getreten. Amerika, einstiger Hauptgarant europäischer Sicherheit, erscheint mittlerweile vielen Europäern als globaler Gefährder Nummer eins. Laut einer im März 2007 vom stern veröffentlichten Forsa-Umfrage halten 48 Prozent der Deutschen die USA für die größere Bedrohung des Weltfriedens als den Iran. Nur 31 Prozent sehen es umgekehrt. Die aktuelle „Transatlantic Trends“-Umfrage des German Marshall Fund ergibt, das 58 Prozent der Europäer eine führende Rolle Amerikas in der Weltpolitik für „nicht wünschenswert“ halten. Laut derselben Untersuchung glauben nur noch 55 Prozent der Deutschen, die Nato spiele eine wesentliche Rolle bei der Gewährung nationaler Sicherheit (2002 waren es noch 74 Prozent). Und während 74 Prozent aller Amerikaner glauben, es könne Umstände geben, unter denen ein Krieg gerecht sei, sagen dies nur 32 Prozent aller Europäer (gar nur 25 Prozent der Deutschen). Hinter vorgehaltener Hand schimpfen US-Militärs ihre deutschen Pendants längst Feiglinge. Und deutsche Nato-Diplomaten müssen zugeben, dass es bei der Bundeswehr schon „diese Schutz- und Versorgungsmentalität“ gebe.

Hinter all diesen Entfremdungen, steckt ein, wenn man so will, Nato-interner Clash of Civilisations, ein Zusammenprall der Sicherheitsphilosophien. Amerikas Strategie seit dem 11. September 2001 ist im Grunde einfach. Die USA wollen Demokratie exportieren, um Sicherheit zu importieren. In der europäischen Wahrnehmung erscheint die Umsetzung allerdings ziemlich misslungen. Zugespitzt etwa so: Amerika exportiert Krieg und importiert Unsicherheit, vor allem nach Europa.

Beispiel Antiterrorkampf. Amerika befindet sich offiziell im „Krieg“ gegen den Terrorismus, im Global War On Terrorism (GWOT), wie die ersten Sätze der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2006 noch einmal bekräftigen. Der Kampf gegen al-Qaida ist für die USA daher vor allem eine militärische und externe Herausforderung. Die Europäer betrachten den Terrorismus hingegen vor allem als kriminelles und daher internes Problem, dem mit Geheimdienst-, Polizei- und Sozialarbeit begegnet werden müsse. „Homegrown“, also hausgemachte Islamisten wie die jüngst festgenommenen aus dem Sauerland, lassen sich durch Militäreinsätze in Afghanistan in der Tat schwerlich von ihrem anti-westlichen Fanatismus abbringen. Im Gegenteil, jede neue Auslandsmission, sei es im Libanon, sei es im Tschad, bestätigt die Dschihadisten in ihrem Wahn von einem Weltbürgerkrieg Westen gegen Muslime. „Der Begriff des Krieges gegen den Terrorismus dürfte auf die Allianz dauerhaft eher verunsichernd als inspirierend wirken“, resümierte soeben eine amerikanisch-französische Expertengruppe des renommierten International Institute for Strategic Studies (IISS).

Beispiel Irak-Krieg. Der Feldzug von 2003 und seine Folgen haben Europa de facto unsicherer gemacht. Islamistischer Terrorismus und Extremismus entflammen von London über Wien bis Istanbul, irakische Flüchtlinge strömen zu Tausenden nach Norden. Und an der Südostflanke der Nato erheben sich kurdische Rebellen gegen die Türkei – ohne dass das amerikanische Militär viel dagegen ausrichtete. „Während des Kalten Krieges waren wir die Guten“, ärgert sich ein türkischer Regierungspolitiker. „Wer sind wir eigentlich jetzt? Wo ist die Nato, wenn wir sie brauchen?“

Beispiel Iran-Konflikt. Trotz des neuesten US-Geheimdienstberichtes vom Dezember, wonach Iran sein Kernwaffenprogramm 2003 eingefroren habe, bleibt aus amerikanischer Sicht nur eines, was am Ende schlimmer wäre als eine Bombardierung iranischer Atomanlagen: Eine iranische Atombombe.. Sprengköpfe in den Händen der Mullahs, heißt es, würden unweigerlich zu Krieg und Erpressung in der Region führen. Die europäische Bewertung ist, wenn auch nicht klar ausgesprochen, die umgekehrte: Nichts wäre verheerender als ein US-Militärschlag gegen Teherans Nuklearanlagen. Denn dann werde es Krieg geben in der Region. „Mit den Amerikanern“, sagt eine EU-Diplomatin, „können wir uns vielleicht noch darauf einigen, das Iran-Problem nicht als Nagel zu betrachten, sondern als Schraube.“ Nicht ganz sicher ist sie sich indes, ob USA und EU die Schraube letztlich in die gleiche Richtung drehen.

Beispiel Raketenabwehr. Während die Amerikaner Langstreckenraketen aus dem Iran für eine der ernstesten Bedrohung der Zukunft halten und deshalb so schnell wie möglich in Osteuropa Abfangraketen stationieren wollen, bitten die europäischen Nato-Staaten für eine abschließende Bewertung um Geduld. „Im Moment sind wir noch nicht sicher, ob die amerikanische Raketenabwehr Europa mehr Sicherheit oder mehr Unsicherheit bringt“, sagt ein westeuropäischer Nato-Diplomat. Vor einem „neuen Wettrüsten“ warnt gar Europas Linke. Hinzu kommt, dass Europas Verteidigungsminister chronisch knapp bei Kasse sind und eine Beteiligung an dem milliardenschweren High-Tech-Vorhaben scheuen. Die US-Regierung hat allein im laufenden Jahr 10 Milliarden Dollar für das Projekt ausgegeben, das entspricht fast einem Drittel des gesamten deutschen Bundeswehrhaushalts.

Ein paar weitere Zahlen zum Ungleichgewicht der Allianzschatullen: Für 2008 hat das Pentagon ein Bugdet von 623 Milliarden Dollar beantragt – das ist mehr als die Verteidigungsausgaben der gesamten übrigen Welt (etwa 500 Milliarden Dollar). Die 27 EU-Staaten geben zusammen nur 170 Milliarden Euro für ihre Armeen aus.

Beispiel Strategie. Die amerikanische Sicherheitsstrategie von 2002 rechtfertigt ausdrücklich Präemptionsschläge, also einem potentiellen Angreifer in den Arm zu fallen, ohne selbst angegriffen worden zu sein.. Die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 schließt sie aus, um das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen nicht zu untergraben. Aus Angst, in den Ruch amerikanischen Interventionismus zu geraten, bemühen sich die Europäer seit dem Irak-Krieg zudem, möglichst viele Missionen unter dem Label „EU“ oder „UN“ statt „Nato“ laufen zu lassen. Der im Sommer 2006 verstärkte (und im Wesentlichen europäische) Friedenseinsatz im Libanon wäre unter Nato-Flagge undenkbar, ebenso die geplante Hilfsmission im Tschad. „Seien wir ehrlich“, sagt ein südeuropäischer Nato-Diplomat, „die Prioritätenliste der USA für ihre Missionen lautet: Erst eine Koalition der Willigen, dann die Nato, dann EU-Truppen. Die Europäer möchten es umgekehrt: Wann immer möglich EU-Truppen, dann die Nato, und nur im Notfall freie Koalitionen.“ Konsequenterweise drängt Amerika darauf, immer mehr Länder in die Nato aufzunehmen, um den Pool kompatibler Streitkräfte zu erweitern. Als Washingtons Kandidaten für eine „Globale Nato“ gelten unter anderem Australien, Neuseeland, Japan, Süd-Korea, Brasilien, Georgien und die Ukraine. Vor allem gegenüber den beiden letzten hegen europäischer Außenpolitiker große Skepsis – wäre ihre Mitgliedschaft doch geeignet, den kränkungsempfindlichen Energie-Lieferanten Russland zu vergrätzen.

Was also hält die Nato überhaupt noch zusammen? Die amerikanische Nato-Botschafterin in Brüssel, Victoria Nuland, schaut verblüfft angesichts dieser Frage. „Gemeinsame Werte“, sagt sie völlig selbstverständlich. „Wir müssen wieder mehr darüber reden, demokratische Werte zu verteidigen, die Gemeinschaft demokratischer Staaten als solche. Die Ziele des Nato-Vertrag von 1949 – Interessen, Sicherheit und Werte zu verteidigen – gelten heute mehr denn je, und wir verfolgen sie entschlossener denn je, sowohl militärisch als auch politisch.“
Guantánamo, folterähnliche Verhörmethoden und CIA-Entführungen mögen dieses hübsche Bild aus europäischer Sicht noch so sehr trüben – für Washington bleiben derlei Exzesse Peanuts. Aus Sicht von Botschafterin Nuland herrschen im Bündnis keinerlei Fliehkräfte in die eine oder andere Richtung.

Glaubt sie wirklich, amerikanische Soldaten seien bis heute bereit, für deutsche Sicherheitsinteressen zu sterben? „Absolut“, antwortet sie mit festem Blick. „Absolut.“

Ähnlich aus der Zeit gefallen erscheint eine Liebeserklärung ausgerechnet des französischen Präsidenten an die Nato. Im Sommer überraschte Nicolas Sarkozy mit der Andeutung, sein Land könne in die Befehlsstrukturen des Bündnisses zurückkehren. Charles de Gaulles hatte sie 1966 verlassen, weil er seine Streitkräfte nicht unter amerikanischen Oberbefehl stellen wollte. Sarkozy nun strebt nach eigenem Bekenntnis zweierlei an: eine „unabhängige Europäische Verteidigung“ und eine „erneuerte Nato“, in der Frankreich wieder „eine vollwertige Rolle spielen“ soll.

Wie beides, transatlantischer und europäischer Muskelaufbau, zusammen gehen soll, darüber rätseln indes nicht nur Sarkozys eigene Diplomaten. In Brüssel wird bezweifelt, ob es dem Präsident überhaupt um eine Stärkung der Nato geht, sondern nicht vielmehr um die der Grande Nation. Schließlich hat Sarkozy einer Nato-Integration die Bedingung vorangestellt, dass französische Generale Bündnis-Posten „der höchsten Ebene“ bekommen müssten. Genauer betrachtet klingt also auch das nicht nach der großen neuen Nato-Vision. Eher nach Neo-Napoleonismus.

Welche Ideen also bleiben der Nato, um sich neues Leben einzuhauchen? Vor allem zwei Schlagworte machen derzeit machen die Runde in den Fluren des Hauptquartiers. Energiesicherheit und Cyberterrormismus. Allen voran die neuen osteuropäischen Nato-Staaten wie Polen und die baltischen Republiken sorgen sich, Russland könne sein Gas und das Internet als unkonventionelle Waffen einsetzen. Nach ihrer Auffassung ist Energiesicherheit eine „Frage der Menschenrechte.“ Man stelle sich, so ihr Argument, nur einmal vor, welche humanitäre Katastrophe es auslösen würde, wenn mitten im Winterfrost in einem Land sämtliche Heizungen ausfielen. Die Nato, heißt es, sollte daher prüfen, ob sie notfalls genügend Ölschiffe und Tanklaster aufbringen könne, um ein abgekapptes Land komplett zu versorgen. Das klingt zwar schon irgendwie militärisch. Doch Grundvoraussetzung für eine solche „Energie-Nato“ wären vor allem entsprechende Lagerbestände in sicheren Drittländern. Solche Vorräte allerdings sind jetzt schon knapp und teuer – und würden in Krisenzeiten vermutlich viel eher zu nationalen Schätzen als zu Nato-Spendenmasse.

Auch der neue Progammpunkt „Cyber Defense“ eher wie ein Vorschlag aus dem sicherheitspolitischen Hobby-Keller. Seit die estnische Regierung im Mai Opfer eines massiven Hacker-Angriffs wurde, grübelt die Nato über künftige Hilfs- und Gegenmaßnahmen. Beim Verteidigungsministertreffen in Vilnius könnten dem Vernehmen nach wichtige Beschlüsse zur „Cyber Defense“ fallen. Doch selbst wenn da Bündnis beschlösse, seine IT-Abteilung aufzurüsten – eine erfüllende Zukunftsaufgabe für Europas zwei Millionen Soldaten erwächst daraus ebenso wenig wie ein neuer transatlantischer Zusammenhalt.

Es sieht es also aus, als bliebe die schizophrene Neigung der Nato bis auf Weiteres unbehandelt. Die Europäer arbeiten vielmehr mit Kräften daran, ihre eigene Friedens- und Sicherheitspolitik zu organisieren. Ganz anders als Amerika trimmt Europa seine Soldaten dabei aufs Hebammenhandwerk. Rechtsstaatsförderung, Entwicklungshilfe, Polizeiausbildung und Ingenieursarbeit zählen von Afghanistan über den Tschad bis in den Kosovo zu den Hauptaufgaben der Nation Builder in Flecktarn. Offiziell finden US-Vertreter diese Neuausrichtung ganz großartig. Europas neue Zivilmacht lasse sich doch prächtig mit Amerikas traditioneller Feuerkraft kombinieren, sagen sie.

Doch was, wenn sich herausstellt, dass diese zwei Säulen der Nato in Wahrheit kein gemeinsames Dach mehr haben? Wenn Europa in Wahrheit vom Ehrgeiz getrieben ist, sich vom großen, halbstarken Bruder USA zu emanzipieren? „Eigentlich“, findet ein Mitarbeiter des EU-Außenbeauftragten Javier Solana, „sollten wir gar keine Verteidigungsminister mehr ernennen. Sondern lieber aus den Außen- und Entwicklungshilfeministern Sicherheitsminister machen.“ Alles andere – das Amerikanische mit anderen Worten – sei doch ein Festhalten an der Machtpolitik vergangener Jahrhunderte. Das mag sein. Aber wenn es so ist, dann wird ein neuer Name allein der Nato kaum übers 21. Jahrhundert hinaus helfen.