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Brandstifter und Kremlmänner

Liebe Leser,

angesichts der massiven Empörung über den vorausgegangenen Blogeintrag hier ein paar klärende Worte.

Mit der Verurteilung Russlands ist noch nichts über das Verhalten des georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili gesagt. Das Vorgehen seiner Streitkräfte in Tschinwali erscheint in der Tat kriegsrechtswidrig, wenn nicht kriminell. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich sich die georgische Regierung damit als Nato-Kandidat unmöglich gemacht hat. Sowohl die Nato wie auch Menschenrechtsorganisationen werden den Kriegsablauf hoffentlich bald so präzise wie möglich rekonstruieren. Dann sollte auch Herr Saakaschwili zur Verantwortung gezogen werden.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Verhalten Russlands vor und nach den georgischen Angriffen auf Tschinwali auf eine lange geplante Invasion Georgien hindeutet. Dafür spricht zum einen das Verteilen von russischen Pässen an Südosseten wie auch die ständigen Provokationen durch russische Kampfflugzeuge und „Friedenstruppen“. Und zum

Ja, Saakaschwili ist ein Heißsporn, der sich zu einem Krieg hat provozieren lassen. Aber das Feuer, die er entfacht hat, wirft vor allem ein alarmierendes Licht auf die politische Natur der Kreml-Führung. Das Bild, das sie derzeit abgibt, ist meines Erachtens wesentlich erschreckender als die Fahrlässigkeit des Brandstifters in Tiflis.

Die weitaus größere Bedrohung für den Frieden an den Rändern Europas geht von einem Russland aus, das erklärtermaßen „seine“ Bürger“ im Ausland zurück in seine Grenzen führen will – und zwar durch Ausweitung seiner Grenzen.

Wer diese Gefahr noch immer nicht sieht, oder sie mit Verweisen auf den Irak-Krieg zu relativieren sucht, unterschätzt meines Erachtens eklatant die strategische Bedrohung für die Wahlfreiheit der Nachbarvölker, die von einem nationalistisch wiedererwachten Russland ausgeht.

 

Good bye, Putin

Wenn Russland es erst meint mit seiner außenpolitischen Doktrin, dann hat es in der westlichen Staatengemeinschaft keinen Platz

Hastings Lionel Ismay, der erste Generalsekretär der Nato, hat einmal prägnant formuliert, wozu das westliche Verteidigungsbündnis ursprünglich da war: „To keep the Americans in, to keep the Russians out, and to keep the Germans down.“

Sechzig Jahre später hat sich das Selbstverständnis der Allianz – was den dritten Punkt betrifft – gründlich gewandelt. Die Nato will die Deutschen nicht mehr am Boden halten; im Gegenteil mahnt der Generalsekretär die Bundesrepublik bei jeder Gelegenheit, endlich ihren Verteidigungshaushalt zu erhöhen.

Amerika, ja natürlich, soll Stützpfeiler der transatlantischer Sicherheit bleiben.

Und Russland?

Ihm gegenüber verfolgte die Nato seit Ende des Kalten Krieges eine Politik der offenen Tür. Es ging ihr nicht mehr darum, Russland draußen zu halten. Tatsächlich waren es gerade die Amerikaner, die Russland geradezu einluden, sich dem Bündnis anzuschließen – vorausgesetzt, Moskau erfülle die politischen Eintrittskriterien. Diese haben die Außenminister des Bündnisses heute noch einmal eindringlich wiederholt:

Die Beachtung „der Prinzipien friedlicher Konfliktlösung gemäß der Helsinki Schluss-Akte, der Nato-Russland-Gründungsakte und der Erklärung von Rom.“ All diese Standards, so die Nato heute, habe Russland durch seinen Feldzug gegen Georgien verletzt.

„Wir können nicht so weitermachen, als wäre nichts passiert“, folgerten die 26 Außenminister, unter ihnen auch der deutsche Frank-Walter Steinmeier. Als erstes werde der Nato-Russland-Rat auf Eis gelegt, erklärt Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer. „Solange russische Truppen weite Teile Georgiens praktisch besetzt halten, sehe ich nicht, dass der Rat zusammen treten kann.“

Angesichts der grundsätzlichen Verhaltens Moskaus sind allerdings Zweifel angebracht, ob der Kreml diese Sanktion als auch nur im entferntesten schmerzhaft empfinden wird. Wenn die unmittelbare Antwort des russischen Nato-Botschafter die Haltung seiner Regierung annähernd wiedergibt, dann ist das nicht der Fall. Seine Reaktion auf die Kontaktsperre des Bündnisses lautete ohne Witz: „Die Nato ist jetzt isoliert.“´

Die Rhetorik aus Moskau mag natürlich von Kampfeslust aufgepuscht sein. Aber die Kampfeslust selbst ist echt – und diese Tatsache muss die Nato vor eine größere Frage stellen. Sie lautet, ob es mit diesem Russland noch irgendeine Basis für einen konstruktiven Dialog, geschweigedenn eine Partnerschaft geben kann, ja, ob es noch Sinn hat, diesem Russland die Tür zum Westen offenzuhalten. Oder ob jetzt die Zeit für eine Renaissance des Russians-out gekommen ist.

Die Frage stellt sich in dieser Härte, weil der Kampfgeist aus Moskau aus einer Weltsicht rührt, die mit westlichen Überzeugungen von einem zivilisiertem globalen Miteinander schlicht inkompatibel geworden zu sein scheinen.

Dimitri Rogosin, erwähnter russischer Botschaft bei der Nato, hat zum Krisengipfel einen Artikel in der International Herald Tribune geschrieben, in dem er Amerika und der Nato Heuchelei vorwirft. Die russische Föderation, argumentiert er, habe in Südossetien lediglich ihr Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta wahrgenommen.

Einen solchen Text schreibt der Botschafter nicht ohne Rückendeckung oder Auftrag aus Moskau. Sein Schlüsselsatz lautet:

„Was die Verteidigung von Bürgern außerhalb des Landes betrifft, so wird die Anwendung von Gewalt, um eigene Landsleute zu verteidigen, traditionell als eine Form der Selbstverteidigung betrachtet.“

Wenn diese Annahme tatsächlich die russische Doktrin für die Region zwischen Moskau und Warschau ist, dann sollte sich der Westen keine Illusionen über wahre Denkart der Kreml-Herrscher mehr machen. Dann ist Georgien nur der Auftakt gewesen für eine ganze potenzielle Reihe von russischen Befreiungskriegen, von der Ukraine bis nach Litauen. Dann muss sich Europa fragen, ob die berühmten Worte von Paul-Henri Spaak, dem ersten Vorsitzenden der UN-Generalversammlung, an die damalige sowjetische Delegation nicht immer noch stimmen: „Messieurs, nous avons peur de vous“ (Meine Herren, wir haben Angst vor Ihnen).

Der Nato-Botschafter Rogosin behauptet, auch andere Ländern hätten von Recht auf Verteidigung ihrer Landesleute im Ausland schon Gebrauch gemacht: Die Belgier 1965 im Kongo, die Amerikaner 1983 in Grenada und 1989 in Panama.

Mit diesem Vergleich allerdings liegt Rogosin völlig falsch, und vermutlich weiß er das. In all den genannten Operation haben zwar Spezialkräfte Staatsangehörige dieser Länder evakuiert – im Land verteidigt haben sie sie aber gerade nicht. In der Tat kennt das Völkerrecht die Möglichkeit, in einer punktuellen Nothilfeaktion die Souveränität eines Staates zu durchbrechen, wenn Schaden für Leib und Leben nicht anders abgewendet werden kann. Aber daraus folgt auf keinen Fall das Recht auf langanhaltende Intervention oder gar Besatzung.

Wenn die russische Regierung allen Ernstes versucht, ein Recht auf extraterritoriale Verteidigung eigener Staatsangehöriger herbeizuphantasieren, dann steckt dahinter mehr als völkerrechtliche Ungebildetheit. Es kommt einem Ethno-Imperialismus nahe. Rogosins Worte sind weniger mit der UN-Charta in Einklang zu bringen als mit der Doktrin der aggressiven Selbstverteidigung, die Katharina die Große ausgeprochen haben soll: „Um meine Grenzen zu verteidigen, bleibt mir nur den Weg, sie auszudehnen.“

Wer solch ein Prinzip zur Grundlage seiner Außenpolitik macht, sprengt die Kerngrundsätze, die internationale Völkerregime seit dem Westfälischen Frieden von 1648 geprägt haben. Einer von ihnen lautet, dass die territoriale Integrität von definierten Staaten gefühlten nationalen Vereinigungsgelüsten vorausgeht.

Wenn Russland in allem Ernst glaubt, das pannationale Russentum sei als Zivilisationswert höher einzustufen als die neue Staatlichkeit ihrer ehemaligen Vasallenstaaten, dann hat es in der westlichen Friedensordnung keinen Platz. Gut möglich, dass Russland diese Prinzipien der modernen Weltordnung (sie stammen übrigens von einem Deutschen aus Königsberg) noch nie verstanden hat, denn schließlich war noch nie eine aufgeklärte Demokratie. Gut möglich auch, dass wir Russland noch nicht richtig verstanden haben. Aber dann sollte uns der Ausspruch des britischen Premierministers Nivelle Chamberlaine zu denken geben, der 1938, als Nazi-Deutschland das Sudentenland in der Tschechoslowakei annektierte, das Urteil abgab, dies sei “ein Streit in einem weit entfernten Land zwischen Leuten, über die wir nichts wissen.”

Der Westen sollte für erste aufhören, Putin-Russland wie einen verantwortungsvollen Erwachsenen zu behandeln. Und ihm lieber mit aller angemessenen Autorität des Älteren helfen, seine Pubertät ohne weiteres Blutvergießen zu bewältigen.

 

Zurück in den Kalten Krieg?

Die Spannungen an Russlands Rändern stellen die Nato vor eine Richtungsentscheidung

Zwischen der ukrainischen Hauptstadt Kiew und Georgien hat sich in den vergangenen Tagen eine hektische Pendeldiplomatie entwickelt. Zum einen will die ukrainische Regierung ihrem ebenfalls postsowejtischen Nachbarn im Südosten Solidarität zeigen. Zum anderen sorgt sich die ukrainische Regierung selbst um ihre Sicherheit. Der Ausfallschritt Moskaus in den Ex-Vasallenstaat Georgien muss nicht der einzige bleiben, fürchtet manch einer in Kiews Regierungsstuben. Der Ruf nach einer Nato-Mitgliedschaft wird deshalb immer lauter.

Über die Frage, ob und wann Georgien und die Ukraine in die Allianz aufgenommen werden sollten, entspinnt sich immer wieder Streit zwischen zwei Lagern innerhalb des Bündnisses. Er dürfte durch das aggressive Ausgreifen Russlands in sein „nahes Ausland“ nun befeuert werden.

Amerika und die osteuropäischen Nato-Staaten drängen darauf, die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken so schnell wie möglich aus dem sicherheitspolitischen Niemandsland in den Westen zu ziehen. Deutschland dagegen mahnt zusammen mit anderen Westeuropäern zur Zurückhaltung; das Bündnis solle aufpassen, keine Konflikte mit Russland zu importieren.

Auf dem Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest einigten sich beide Seite einstweilen auf eine Lösung, die alle zufrieden stellen sollte – und keinem wirklich gefiel. Georgien und die Ukraine, so der Beschluss der 26-Nato-Regierungschefs, sollen vorerst zwar nicht in den so genannten Membership Action Plan (MAP), das Beitrittsprogramm zur Nato, aufgenommen werden. Eine Botschaft aber sprachen sie den beiden Anwärtern dennoch aus: „Wir haben uns heute darauf geeinigt, dass diese Länder Mitglieder der Nato werden“ (Org.: We agreed today that these countries will become members of NATO), laute der entscheidende Satz im Abschluss-Communiqué von Bukarest. Im Dezember wollen die Staatschefs nun ihre Außenminister darüber beraten lassen, ob die Zeit reif ist für MAP.

Nach der russischen Aggression gegen das Nato-Patenkind Georgien werden die Spannungen um die Interessen der Allianz zunehmen. Denn beide Lager, die Erweiterungsbefürworter wie ihre Gegner, fühlen sich durch den Krieg im Kaukasus bestätigt.

Russland, so sagen Diplomaten aus Osteuropa, habe den weichen Ausgang des Bukarest-Gipfels als „grünes Licht“ verstanden, Georgien zu attackieren. Hätte die Nato die Nachbarländer fester umarmt, dann hätte sich Moskau diesen Angriff niemals getraut. Aus Amerika mehren sich die Stimmen, die eine „Jetzt erst recht“-Nato-Erweiterung als Gegenmittel zum russischen „Neoimperialismus“ fordern. Mit einer schnellen Aufnahme Makedonien zum Beispiel (es ist schon seit 1999 MAP-Mitglied) könne der Westen Putin und Medwedew beweisen, dass er sich von Ausfallschritten des Kreml nicht einschüchtern lasse.
Es fügt sich ins Bild, dass der polnische Regierungschef Donald Tusk die nunmehr schnelle Einigung mit Amerika über den Bau einer Abschussbasis für Abfangraketen in seinem Land auch als Folge des Georgienkrieges wertet. „Am wichtigsten ist für uns, und das zeigen die Erfahrungen gerade der jüngsten Tage, dass unser Territorium im Falle eines Konflikts von der ersten Stunde an geschützt wird“, sagte Tusk.

Deutschland hingegen, munkeln Nato-Diplomaten in verschiedenen Fluren des Brüsseler Hauptquartiers, werde nach dem Ossetien-Schock wohl „umso mehr auf Partnerschaft und Einbindung gegenüber Moskau machen.“

Kurzum, die Nato steht, pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag (zu dem sie sich ohnehin eine neue Strategie geben will), vor einer Richtungsfrage. Will sie wieder deutlicher als kollektives Verteidigungsbündnis ausrichten, mit dem latenten Feindbild Russland? Sollte Moskau tatsächlich sein Militär einsetzen, um Pipelines und Öl unter seine Kontrolle zu bringen, könnte sich diese Rückentwicklung zum Blockbündnis schneller vollziehen als man es heute ahnt. Auf der anderen Seite steht zwar das starke neue Verständnis der Nato als globale Interventionsallianz.

Aber die Domäne des uniformierten Friedensstifters macht ihr immer mehr die Europäische Union streitig; auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Afrika – kurz, überall dort, wo die Nato als amerikanische Hegemonialtruppe unwillkommen ist. Demnächst vielleicht im Kaukasus?

„Die EU steht bereit, sich zu engagieren“, sagt eine ranghohe EU-Diplomatin. Voraussetzung sei allerdings, dass aus der Waffenruhe in Georgien ein echter Waffenstillstand werde. Wie genau die EU in der Krisenregion aktiv werde könne, sei zwar noch zu früh zu sagen, aber denkbar sei Vieles, sagt die Diplomatin. „Wir könnten Polizisten schicken, eine Beobachtermission – oder eine andere Form von Präsenz zeigen.“ Soldaten aus Brüssel, Abschreckungsrhetorik und Abfangraketen aus Washington – ist das womöglich die neue Doppelnatur westlicher Sicherheitspolitik?

 

Der Kaukasus-Krieg – Wie alles begann

Viel können die georgischen Diplomaten bei der Nato derzeit nicht unternehmen. Ihre winzigen Büros sind in einem Nebengebäude des Nato-Quartiers in Brüssel untergebracht, und auch bündnispolitisch pflegten sie – bisher – eine randständige Existenz. Georgien ist kein Nato-Mitglied, aber es Teil des Partnership for Peace-Programms (PfP) der Allianz. Aber informieren, genauestens informieren, wollen die Georgier nun wenigstens die Nato-Staaten über die Lage in ihrem Land.

Ständig schicken sie Mitteilungen über Truppenbewegungen, Bombardements und Opfer an die Missionen aller 26 Länder im Brüsseler Hauptquartier. Am Donnerstag, dem 7. August 2008 um 22.30 Uhr meldeten sie Alarmierendes. Trotz Waffenruhe, hieß es in einem Communiqué, seien „georgische Zivilisten“ in Südossetien von „separatistischen Rebellen“ angegriffen worden. Hunderte von russischen Soldaten sowie schweres Material seien zudem aus Russland nach Georgien eingerückt.

Das Protokoll der Ereignisse ab dem 6. August, das Georgien in der Nato-Zentrale verteilte, ist diesem Beitrag angehängt (von unten nach oben zu lesen).* Aus der Zeitleiste ergibt sich das Bild hoher Aggressivität von beiden Seiten.

„Für uns ist die Sache ganz klar“, sagt Alexander Maisuradze, der stellvertretende georgische Missionschef bei der Nato, „wir sind Opfer einer großangelegten militärischen Intervention. Die Aktionen des russischen Militärs verstoßen fundamental gegen die euro-atlantischen Werte. Es geht darum, die Regierung des Präsidenten Mikheil Saakashvilis zu stürzen. Georgien selbst ist unmittelbar bedroht.“

Russland stellt die Sache anders da: Zuerst hätten georgische Soldaten der „Friedenstruppe“ für Südossetien russische Soldaten desselben Verbandes getötet.

Im Internationalen Brüsseler Pressezentrum sagte der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogozin am Montag, 18 russische „Friedenssoldaten“ seien getötet worden, 14 würden vermisst, 150 seien verwundet. „Alle Fakten, die von internationalen Medien berichtet werden, sind einseitig und unzutreffend“, so Rogozin. Georgien habe das Feuer in der südossetischen Hauptsstadt Tschinwali eröffnet. Seitdem seien 2500 Zivilisten getötet worden, zudem schössen georgischen Soldaten wahllos auf Zivilisten, überrollten Unschuldige mit Panzern und vergewaltigten Frauen.

Georgien praktiziere in Südossetien „Völkermord oder ethnische Säuberungen“, so Rogozin.

Sowohl Georgien wie auch Russland (es ist ebenfalls Mitglied des PfP) haben für Dienstag eine Sondersitzung der Nato-Botschafter beantragt. Zuerst werden die 26 Abgesandten des Bündnisses wohl mit den Vertretern Georgiens, dann mit denen Russland zusammentreffen.

Rogozin machte klar, dass Russland nicht mit dem georgischen Präsidenten Saakaschwili reden werde. Vielleicht, sagte er, werde man aber erwägen, mit denjenigen georgischen Regierungsvertretern zu reden, die dem Präsidenten kritisch gegenüberstehen. Diese Bermerkung wurde von georgischen Beobachtern als weiterer Beleg für die These gewertet, dass es Moskau in Wahrheit darum gehen, die pro-westliche Regierung in Tiflis zu stürzen.

Zu diesem Eindruck trug allerdings auch bei neutralen Beobachtern ein Satz Rogozins bei, der über die übliche Rauhbeinigkeit des Russen hinausging.

“America’s favourite child“, sagte er über Saakaschwili, „is going to hell right now.”

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* Ablauf der Eskalation laut der georgischen Mission bei der Nato:

6 August

Late on 6 August, separatists opened mortar fire at Georgian populated villages of Eredvi, Prisi, Avnevi, Dvani and Nuli. Georgian government forces fired back in order to defend the positions and civilian population. As a result of intensive cross-fire during the night, two servicemen of the Georgian battalion of the Joint Peacekeeping Forces were injured. Separatist regime also claimed several injured persons on their side. Despite the targeted attacks on peaceful population and villages, as well as on the Georgian police and peacekeeping forces, the central authorities decided not to respond through heavy exchange of fire, in order not to injure the local population.

Temur Yakobashvili, Georgian chief negotiator and state minister for reintegration, said in late night televised remarks on August 6 that it was the position of the Georgian government that only a direct dialogue with Tskinvali authorities would solve the deteriorating security situation. Mr. Yakobashvili also stressed that Ambassador-at-large Yuri Popov would attend the talks as a facilitator. South Ossetian chief negotiator, Boris Chochiev, refused to take part in negotiations.

7 August

During the night and early morning intensive fire came from the Ossetian villages of Khetagurovo, Dmenisi, Sarabuki, and Ubiat. Separatist authorities continued shelling Georgian law enforcers and Peacekeeping units with mortars and artillery. The central authorities responded with limited fire in order to defend the positions.

In the morning interview with Russian news agencies, South Ossetian de facto president Eduard Kokoity declared that if the Georgian government did not withdraw its military forces from the region, he would start “to clean them out.”

President Saakashvili speaking with journalists in the military hospital in Gori, where he visited the two injured Georgian servicemen, said that despite attacks on the Georgian villages, Tbilisi was showing “maximum restraint.” Saakashvili also called on Russia to “to recall its officials” from South Ossetia, who consider themselves as the so-called South Ossetian government.

Temur Yakobashvili, visited the conflict zone in the morning of August 7 to meet with representatives of the separatist government. The State Minister met with Marat Kulakhmetov, commander of the Joint Peacekeeping Forces, in Tskhinvali. But, the separatists refused to negotiate with him.

The chairman of the separatist republic’s Security Council, Anatoly Barankevich threatened that armed groupings of Cossacks from North Ossetia were headed towards South Ossetia to fight against Georgian forces.

The separatists resumed shelling of Georgian villages Nuli and Avnevi by 16:00. Three Georgian servicemen were injured after the South Ossetian separatist forces blew up an infantry combat vehicle belonging to the Georgian peacekeeping battalion in Avnevi. Georgian police responded by firing towards the separatist armed grouping in village Khetagurovo, where two separatist militiamen were killed and two more wounded. Later, the check-point of Georgian peacekeepers was bombed in Avnevi and several Georgian servicemen and civilians were killed.

Georgia has decided to “unilaterally cease fire” in a sign of Tbilisi’s willingness to defuse tensions, Temur Yakobashvili, the Georgian state minister for reintegration, announced at a press conference in Tbilisi at 6:40pm. Yakobashvili said that he was not able to get in touch with the separatist authorities.

President Saakashvili said in a live televised address made at 7:10pm, that he had ordered the Georgian forces to cease fire in South Ossetia. He said there were casualties, both dead and many people wounded. Saakashvili said that he ordered to cease fire “on purpose” to again offer the South Ossetian secessionists to resume talks.

Despite Georgia’s decision not to return fire, the Georgian village of Avnevi again came under fire of the South Ossetian militiamen at about 8:30pm. It can be said that the village was totally destroyed as a result.

The South Ossetian separatist armed groupings fired at the Georgian-controlled village of Prisi at about 10:30 pm. The attack left several people wounded on the Georgian side.

The separatist authorities opened fire at all Georgian positions around the South Ossetian capital Tskhinvali at about 23:30, including the villages of Tamarasheni and Kurta. The police stations in Kurta was destroyed as a result of heavy shelling.

8 August

22:40 According to Ministry of Defense, Russian planes violated Georgian airspace a total of 22 times.
22:15 The type and place of Russian planes taken down during the day not located yet.
21:45 Policemen and reservists who were surrounded in the Znauri school bulding, five kilometers west of Tskinvali, are rescued by government forces.
21:11 The separatist authorities claim to have altogether 1400 people dead and wounded. At the same time, the Russian Ministry of Defense announces that there are 10 dead among Russian “peacekeepers”.
20:30 After severe clashes in Tskinvali, Georgian forces start to withdraw from the center of the town, holding their positions at its southern outskirts. Russian tanks enter the eastern part of Tskinvali.
19:20 2 Russian planes pass over Ambrolauri, which is 170 kilometers northwest of Tbilisi and is outside the conflict zone.
19:18 5 Russian airplanes were shot down during the day. Last one is shot down at approximately 19:00 near Tskhinvali.
18:45 Georgian Gori artillery brigade is bombarded by 5 Russian airplanes.
18:44 A motorcade of Russian tanks, armored vehicles and trucks loaded with different kinds of weapons reach Tskinvali by the Dzara by-pass road, 2 kilometers west of Tskinvali. The Russians opens intensive fire towards Georgian forces located in Tskinvali and on the neighboring heights. A second motorcade, which also came from Russia via the Roki tunnel, is stopped near the Georgian government controlled area of Dmenisi, 7 kilometers north of Tskinvali, and Russians open heavy fire toward Georgian forces.
18:32 Frone gorge, northeat of Tskinvali, is under intensive artillery fire by Russian forces. Villages Avnevi and Phrisi, in the Tskinvali region, are bombarded by Russian military aircraft.
17:35 Marneuli military airbase, 20 kilometers south of Tbilisi and outside the conflict zone, is bombed for the third time resulting in 1 death and 4 injured. As a result of three bombings, three grounded AN-2 type planes and military vehicles stationed there are destroyed.
17:00 Marneuli military airbase is bombed for the second time causing casualties.
16.30 Russian aviation bombs Marneuli and Bolnisi military airbases, 20 kilometers and 35 kilometers south of Tbilisi respectively. Two aircrafts were destroyed on ground. Also several buildings were destroyed and there are casualties.
16:03 Two Russian planes enter Georgian airspace from the North. One more flies over Djava. Two more fly across the border near Chechnya.
By 16:00 about 40 officers of Criminal Police and Reservists are trapped in Znauri school.
15:30 Ossetian separatists destroyed 3 Georgian tanks at Dzari by-pass road.
15:05 Russian military plane enters Georgia from the direction of Tedzami, just south of Gori, and drop two bombs on the Vaziani military airport and turned back.
14.30 Almost 100% of Tskhinvali is controlled by Georgian forces. Just several small groupings are still resisting.
14.15 Georgian government announces a ceasefire from 15.00 till 18.00 to let civilian population leave Tskhinvali. Separatists are also offered amnesty and humanitarian aid if they surrender.
13:00 Part of Thskinvali is controlled by Georgian army and fighting continues in the center. The civilian population does not resist. They are ordered to stay inside their houses.
12.05 One Su-24 enters Georgian air space from Russia and remained over Tskhinvali till 12.15.
By 12.00 Eight Georgians (6 military and 2 civilians) have died and 87 are injured. 1 military truck with ammunition was destroyed.
11:45 Emergency Service of Civil Aviation report receiving a signal from a crashed flying object (presumably Russian fighter plane) near Iuri range, 17 km south from Gori.
11.45: Four Su-24 Russian jet enter Georgia from the direction of Stepantsminda (Kazbeg), northeast of the Roki tunnel and outside of the conflict zone. Two of them pass Tbilisi and make two circles around Marneuli. The other two make a circle above Gudauri.
10:57: Two of the six Russian aircraft drop three bombs in Gori. One of these fell near the stadium, the second near Gorijvari slope and third near a artillery brigade.
10.50: Six Su-24 fighter planes enter from the Roki pass.
10.30 Russian Su-24 bombs the village of Variani in the Kareli district, 75 kilometers west of Tbilisi and outside the conflict zone. Seven civilians were injured as a result.
9.45: A Russian military fighter plane drops about 3-5 bombs near the village of Shavshvebi, on the highway between Poti and Tbilisi and is 300-500 meters from Georgian military radar.
By 9:00 Georgian Forces control the villages of Gromi, Artsevi, Tsinagara, Znauri, Sarabuki, Khetagurovo, Atotsi, Kvemo Okuna, Dmenisi, Muguti and Didmukha.
8:00: First group of Russian troops together with Gufta Bridge are destroyed by a Georgian aerial bombardment. Later two more groups of Russian troops enter South Ossetia through the Roki tunnel, which connects Russia and Georgia, but could not cross the Gufta Bridge which was destroyed and moved by the Geri-Dmenisi road.
5:30: First Russian troops enter through Roki tunnel South Ossetia, passed Java, crossed Gufta bridge and moved by Dzara road towards Tskhinvali.

 

Amerika hilf! – Die Träume Saakaschwilis von der Nato-Unterstützung

Wer in diesen Stunden im Nato-Hauptquartier in Brüssel anruft, hört im Hintergrund manch einer Ländermission hektische Schritte und Rufe auf den Fluren. Der plötzliche Krieg zwischen Georgien und Russland hat die Diplomaten der Allianz aus der Sommerlethargie gerissen. „Hier wird eine Menge geredet im Moment“, lässt sich eine Vertreterin der Vereinigten Staaten vernehmen. „Aber auch viel zugehört.“

Entsprechend gelassen wird man denn wohl auch den Aufruf von Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili zur Kenntnis nehmen, die USA sollten in den Krieg eintreten. Es sei im Interesse der USA, seinem Land zu helfen, sagte Saakaschwili dem Nachrichtensender CNN. „Es geht nicht mehr nur um Georgien. Es geht um Amerika und seine Werte. Wir sind ein Freiheit liebendes Land, das derzeit angegriffen wird.“ Russland führe auf georgischem Boden Krieg gegen sein Land.

Saakaschwili pflegt seit Studienzeiten in den neunziger Jahren enge persönliche und politische Verbindungen nach Washington. Er wurde nicht nur von Amerikanern außenpolitisch beraten, sondern auch als Protegé auf dem Kaukasus gehätschelt.

Gerade erst hat das US-Militär zusammen mit seinen georgischen „Verbündeten“ das Manöver Immediate Response 08 abgehalten.

Allerdings scheint Saakaschwili die Strahlkraft dieser Freundschaft regelmäßig zu überschätzten. Während des jüngsten Nato-Gipfels im April in Bukarest konnten ausländische Beobachter erleben, wie der 40-Jährige jede Contenance verlor, als sich abzeichnete, dass die Nato seinem Land trotz amerikanischer Unterstützung nicht den Nato-Kandidatenstatus gewähren wollte.

Georgien ist bis heute weder Mitgliedsstaat der Nato noch Teilnehmer des sogenannten Membership Action Plan (MAP), also des Nato-Beitrittsprozesses. Vor allem Deutschland hatte im April Vorbehalte gegen eine MAP-Eröffnung gehabt; zuerst, so die Position Merkels damals, müsse Georgien seine Regionalkonflikte lösen – damit genau dies nicht geschehe, was nun seit gestern Nacht geschieht. Beobachter munkelten schon damals, Saakaschwili, der als überspannt gilt, erstrebe nur deshalb die Nähe der Nato, um unter dem westlichen Sicherheitsschirm Streit mit Russland anzetteln zu können.

Eine Beistandspflicht des Bündnisses gegenüber Georgien gibt es im derzeitigen Konflikt also nicht.

Auch sei bisher, heißt es aus dem Nato-Hauptquartier, noch unklar, wer die Aggressionen in Südossetien tatsächlich begonnen habe. Aber was, wenn die Auseinandersetzung in der Region Ausmaße annimmt, die das Nato-Territorium betreffen könnten? Das sei unwahrscheinlich, heißt es aus dem Hauptquartier. Georgien grenzt zwar im Süden an das Nato-Mitglied Türkei, aber dass die georgisch-russischen Kämpfe um Südossetien auf der anderen Seite des Landes dorthin übergreifen, scheint ausgeschlossen.

Und auch über eine Friedenstruppe nachzudenken, ist derzeit noch viel zu früh. Offiziell bleibt dem Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer deshalb nichts anderes übrig, als zu sagen, er sei über die „Ereignisse in der georgischen Region Südossetien ernsthaft besorgt, und die Allianz wird die Situation genau verfolgen.“

Wie sich der Konflikt in den nächsten Tagen auch immer entwickeln wird – eines seiner Ergebnisse steht wohl schon heute fest. Saakaschwili wird seine Träume einer Nato-Aufnahme einstweilen beerdigen können.

 

Locker bleiben, Westen!

Zwei kurze Thesen zu der derzeitigen Aufregung um die „Menschenrechtssituation“ in China

1. Wir, der Westen, regen uns auch deshalb nicht nur deshalb so lautstark über Tibet und die Internetzensur auf, weil die Olympischen Spiele eröffnet werden. Nein, die besonders helle Empörung, die seit Tagen aus den Fernsehern in jedem europäischen Wohnzimmer schreit, ist auch aus einer unterschwelligen Angst geboren. Denn unausgesprochen fürchten wir nicht anderes, als dass Chinas Aufstieg eine westliche Lebenslüge entlarven könnte.

Die nämlich, dass nur Liberalität und Demokratie auf Dauer Wohlstand versprechen. Chinas Wolkenkratzer und glitzernden Olympiabauten verursachen im westlichen Denkschema eine schwindelerregende Bildstörung. Wenn Reichtum, technischer Fortschritt und Innovation auch in einer Diktatur möglich sind, wenn sie dort noch dazu rasanter und effizienter zu haben sind als in langatmigen Demokratien, was ist denn dann eigentlich der globale Wettbewerbsvorteil des westlichen Systems?

2. Keine Sorge. China leuchtet gar nicht. Nur seine Großstädte glitzern. Deshalb sollten nicht wir, sondern Chinas Kapital-Kommunisten sich Sorgen machen. Denn der Reichtum, den wir im Fernsehen sehen, spiegelt nur die oberste, dünne Schicht der chinesischen Gesellschaft wieder. Sicher, China mag immer reicher werden. Aber wenn das Riesenreich gleichzeitig nicht auch gerechter wird, könnte der Führung dieser Reichtum zum Fluch werden. Denn: Kann ein Volk von 1,3 Milliarden sozial stabil bleiben, wenn eine oder zwei Millionen Menschen in ihm reich werden, ein großer Rest dagegen weiter hungert? Noch dazu, wenn Maos neues China (das es ja kulturell immer noch ist) bis in die letzten Provinzen auf das Versprechen gebaut wurde, nach dem elenden Feudalismus vergangener Jahrhunderte endlich gerechte Lebensverhältnis herzustellen?

Henning Mankell, der schwedische Krimi-Autor, hat die gesellschaftliche Zerreißprobe, vor der China momentan steht, in einer Dialogszene seines neuen Romans Der Chinese anschaulich zusammengefasst.

“Ich verstehe das nicht”, sagt Brigitta Roslin, die schwedische Richter und Heldin des Buches, zu Ho, einer gemäßigten Reformkommunistin. “China ist eine Diktatur. Die Freiheit ist ständig eingeschränkt, die Rechtssicherheit schwach. Was wollen Sie eigentlich verteidigen?”

“China ist ein armes Land“, antwortet Ho. „Die wirtschaftliche Entwicklung, von der alle reden, kommt nur einem begrenzten Teil der Bevölkerung zugute. Wenn dieser Weg, China in die Zukunft zu führen, mit einer Kluft, die sich ständig erweitert, wenn dieser Weg weiter beschritten wird, muss er in eine Katastrophe führen. China wird in ein hoffnungsloses Chaos zurückgeworfen werden. Oder es wird zur Ausbildung starker faschistischer Strukturen kommen. Wir verteidigen die Hunderte von Millionen Bauern, die trotz allem jene sind, die mit ihrer Arbeit die Entwicklung tragen. Eine Entwicklung, an der sie selbst immer weniger teilhaben. (…) In dem Machtkampf, der in China im Gange ist, geht es ums Leben und Tod. Arm gegen Reich, Machtlos gegen Mächtig. Es geht um Menschen, die mit wachsender Wut sehen, wie all das, wofür sie gekampft haben, wieder zunichtegemacht wird, und es geht um jene anderen, die nur die Möglichkeit sehen, eigene Reichtümer und Machtpositionen zu erwerben, von denen sie früher nicht einmal träumen konnten. Dann sterben Menschen.”

Statt bei Mankell könnte Chinas KP auch bei George Orwell nachschlagen. Womöglich nämlich befindet sich China jetzt in jener Animal-Farm-Phase, in der die Schweine noch glauben, den Schafen, Hühnern und Pferden weiszumachen zu können, es gebe Tiere, die gleicher seien als andere.

Bevor wir also allzu viel Angst davor entwickeln, Chinas Erfolge könnten die Reichweite und Strahlkraft liberareler Gesellschaftsordnungen Lügen strafen, erinnern wir uns, was anderen Großmächten, etwa 1789 in Europa, zum Verhängnis wurde. Die unterschätzte Sprengkraft, die die Sehnsucht eines Volkes nach Gerechtigkeit birgt.

 

Wissenswertes über den Krieg

Das Soldaten-Handbuch über Afghanistan gehört in jede Politiker-Hosentasche

Vor allem der letzte Vers des Gedichts hat sich herumgesprochen in den afghanischen Feldlagern der Bundeswehr. Jeder Soldat hat die Zeilen im Marschgepäck, wenn er an den Hindukusch aufbricht. Sie stehen in einem kleinen blauen Büchlein, das ihm die Bundesregierung in der Heimat reicht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

„Afghanistan – Wegweiser zur Geschichte“, so heißt das kleine blaue Büchlein, und herausgegeben hat es das Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr (es bietet den Band sogar zum kostenlosen Download an).

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Das 200-Seiten-Paperback soll die 3500 Bundeswehrsoldaten bei ihrer Mission in Kabul, Kundus oder Faisabad politisch und kulturell trittsicher machen. Doch leider schafft es mehr als das. Denn was die Soldaten da zur Lektüre bekommen, ist kein „Hurra“-rufender Armee-Reiseführer. Nein, der Band sammelt das wohl genaueste Wissen, das sich in deutscher Sprache über Afghanistan auftreiben lässt. Die Autoren sind sämtlich Akademiker und Asienkenner von Rang, sie schreiben frei von politisch korrekter Zielsetzung, und sie schreiben auch noch verständlich.

Genau in dieser hohen Qualität liegt zugleich der Kollateralschaden des Buches. Denn je länger man liest, desto größer werden die Zweifel. Die Zweifel daran, ob gelingen kann, woran sich die Bundeswehr seit sechs Jahren abmüht. Politiker und Nato-Diplomaten mögen es ja noch so werbesprachlich umschreiben; das Ziel der insgesamt 52 000 Isaf-Soldaten ist es letztlich, eine neue Gesellschaft(sordnung) in Afghanistan aufzubauen.

Ein solches Vorhaben wäre schon in einem Land ehrgeizig, das über eine nationale Identität, eine funktionierende Zentralregierung und über eine Perspektive auf Wohlstand verfügt. Afghanistan besitzt das alles nicht, schildert das Buch mit manchmal entwaffnender Nüchternheit. „Es ist unmöglich zu sagen, wie viele ethnische Gruppen es in Afghanistan gibt. Schätzungen schwanken zwischen 50 und 200“, heißt es im Abschnitt Strukuren und Lebenswelt – wobei die Zugehörigkeit zu einer Volkszugehörigkeiten je nach „Nützlichkeitserwägungen“ durchaus kurzfristig wechseln könne.

„Die Grenzen zwischen Freund und Feind verlaufen durch schwer erkennbare und unbeständige Allianzen, Koalitionen und Verhaltensmuster“, lehrt das Kapitel Zur Sicherheitslage, und „die Verdienstmöglichkeiten durch Drogenhandel oder Schmuggel liegen um ein Vielfaches höher als die Gehälter der durch die Internationale Gemeinschaft unterstützten Regierung.“

Der deutsche Verteidigungs- der Außenminister, die Kanzlerin und die Fraktionschefs im Bundestag werden das in erster Auflage 2006 erschiene Buch bestimmt gelesen haben. Sie entscheiden schließlich darüber, welche Art von Engagement der Bundeswehr in Afghanistan weiterhin sinnvoll und notwendig ist.

Denn eine Konstante, so dämmert es dem Leser mit leichtem Schauder, zeichnet die Historie Afghanistans schon immer aus: die stets aufs Neue eindrucksvolle Abstoßung fremder Mächte. Schon im 19. Jahrhundert bezahlten Russen und Engländer entsetzliche Preise für ihr imperiales „Great Game“ um den Hindukusch. „Am 6. Januar 1842 verließen etwa 17 000 britische Soldaten und Zivilpersonen Kabul in Richtung Dschlalabad“, notiert der Bundeswehr-Wegweiser unter der Rubrik Historische Entwicklungen. „Der Marsch des Konvois endete mit dem größten Debakel der britischen Kolonialgeschichte. Nach der gängigen Überlieferung töteten afghanische Krieger alle Angehörigen des Trosses bis auf einen Militärarzt.“ Die berühmte dichterische Verarbeitung des Massakers von Theodor Fontane (siehe oben) ist in dem Büchlein gleich mit abgedruckt.

Am geografischen und gesellschaftlichen Zuschnitt des Landes hat sich, jedenfalls außerhalb der Städte, in den vergangenen 150 Jahren kaum etwas geändert. Afghanistan ist – nach allen europäischen Maßstäben – unbeherrschbar geblieben. Bergketten durchziehen das Land wie Festungszinnen, und immer noch kann hinter jeder ein anderer Kriegsfürst lauern. „Greifen ausländische Kräfte in die Machtstrukuren ein, laufen sie selbst Gefahr, Ziel von Angriffen zu werden“, warnt der Bundeswehr-Führer.

Es mag zynisch klingen, aber die nahezu ununterbrochene Folge kolonialer (bis 1919), kommunistischer (1979 – 88) und islamistischer (bis heute) Eroberungszüge hat viele Afghanen eben nicht nur gelehrt, mit dem Krieg, sondern auch vom Krieg zu leben. „Afghanistan bleibt ein Land, in dem ein erheblicher Anteil der männlichen Bevölkerung keinen anderen Beruf gelernt hat als den des Kriegers. (…) Schätzungen gehen von 1800 illegalen bewaffneten Gruppen mit einer Gesamtstärke von bis zu 130 000 Kämpfern aus.“

Gegen all das, gegen Narko-Warlords, Steinzeitislamisten und korrupte Polizisten, setzt die Bundesregierung einen allmählichen politischen Klimawandel. Zweitausend (seit 2002 gebaute) Schulen, Millionen von Kindern, die Lesen und Schreiben lernen, Asphaltstraßen für Wandel durch Handel, ist das denn keine sehenswerte Bilanz?, fragen Bundeswehr-Generale.

Das ist sie, ohne Zweifel.

Aber wenn der Außenminister das blaue Büchlein doch gelesen hat, warum sagt er dann erst seit vergangener Woche, dass er „mit Sorge auf das Nachbarland Pakistan“ schaut? Es steht immerhin seit zwei Jahren im Bundeswehr-Handbuch, auf Seite 93, aus welcher Richtung all die Erfolge der Bundeswehr-Mission gefährdet werden: Die (Taliban)-„Kommandeure halten sich über längere Zeit in Pakistan oder in Ruheräumen des übrigen Auslands auf, um dann über schlecht gesicherte Grenzen zurückzukehren und Aktionen gegen die Koalitionskräfte zu organisieren. Dabei werden sie fallweise selbst von scheinbar erfolgreich demobilisierten Milizionären oder kriminellen Polizeichefs unterstützt.“

Im Herbst will der Bundestag eintausend weitere Soldaten nach Afghanistan entsenden. Vielleicht sollte die Bundesregierung vorher versuchen, ein paar Antworten auf die wichtigsten Fragen zu geben, die das blaue Büchlein aufwirft.

Wegweiser zur Geschichte – Afghanistan. Herausgegeben von Bernhard Chiari im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Schöningh 2007, ISBN: 978-3-506-75664-0, 14,90 Euro

 

Europäisch, föderal, unkaputtbar

Warum Belgien auch ohne Regierung funktioniert

Harry, der englische Killer mit Sinn für das alte Europa, steht hoch auf dem gotischen Glockenturm und schaut versunken hinunter auf den märchenhaften Marktplatz von Brügge. „Bloß schade, dass das Städtchen in Belgien liegt“, flüstert er – und runzelt die Stirn. „Aber wenn’s nicht in Belgien wäre, wenn’s irgendwo gut gelegen wär’, würden viel zu viele Menschen kommen, um es zu sehen. Und das würde alles versauen.“

Ein herzliches Lachen wogt durch den Brüsseler Kinosaal. Die Belgier wissen schon: Ihr Land gilt als irgendwie dauerbewölkt, politisch wie meteorologisch, und die ausländische Gleichgültigkeit gegenüber dem kleinen Pralinen-Königreich ist nicht nur verzeihlich, weil sie Ralph Fiennes (in der Gangsterschnurre Brügge sehen… und sterben?) so liebevoll ausspricht. Sondern auch, weil viele Belgier sie selber pflegen. Jedenfalls solange es ums politische Theater geht.

Seit über 400 Tagen fehlt dem Land nun schon eine Zentralregierung. Ein Versuch nach dem anderen von Premierminister Yves Leterme, die flämischen Parteien im Norden mit den frankophonen Wallonen im Süden unter neuen föderalen Regeln zusammenzuschweißen, schlug fehl. König Albert II. sieht einstweilen keinen anderen Ausweg, als Leterme ans Amt zu ketten und einen Weisenrat einzuberufen. Dem gemeinen Untertanen indes scheint die Lage kaum Sorge zu bereiten. Warum auch, alle staatlichen Vitalfunktionen zeigen schließlich Normalwerte. Der Müll wird abgeholt. Die Polizeiautos haben Sprit. Die Züge fahren, die Banken haben geöffnet, und die Beamten geben sich gelassen wie immer. Die Staatskrise, mit einem Wort, wirkt ziemlich theoretisch.

Um zu verstehen, warum Belgien trotz fehlender Führung partout nicht herunterkommen will, stellt man sich das Land am besten als dicken Blätterteig vor, mit einer hauchdünnen Schinkeneinlage in der Mitte. Die Brüsseler Zentralregierung ist – zum einen – weich gebettet auf einen Regionenföderalismus, gegen dessen Vielschichtigkeit das deutsche Modell geradezu unraffiniert erscheint. Und zum anderen wölben sich von oben die Gesetzeskonvolute der EU über das Land. Dazwischen bleibt ein Hauch bundesstaatlicher Kompetenz.

Die Gliedstaaten Flandern, Wallonie, die Hauptstadt Brüssel sowie mehrere Kultur- und Sprachgemeinschaften verfügen über jeweils eigene Parlamente und Regierungen, die weit reichende Eigenregelungen treffen können. Sie reichen von der Bildungs- bis zur (sic!) Außenpolitik. Flamen und Wallonen haben jeweils eigene Diplomaten im Ausland, die sich vor allem um die Handelspolitik kümmern.

Selbst die Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes, sie umfasst gerade einmal 75 000 Menschen, besitzt eine eigene Regierung und ist ermächtigt, im begrenztem Umfang völkerrechtliche Verträge mit anderen Staaten abzuschließen. Ihr Ministerpräsident, der 56jährige Karl-Heinz Lambertz, zählt ein paar auf: Kulturabkommen mit Frankreich, Kooperationsabkommen mit Ungarn, mit NRW… „Wenn in Belgien eine Ebene zuständig ist, ist sie komplett zuständig“, sagt Lambertz. „Hier hängt nicht, wie im deutschen Föderalismus, das eine vom anderen ab. Deswegen kann alles eine Weile lang nebeneinander her laufen.“

Und dann wäre da natürlich noch das Regel-Korsett, das die EU jedem ihrer Mitgliedsländer überzieht. Wie stark die Verordnungen und Richtlinien aus der Brüsseler Kommission die nationalen Rechtsstrukturen mitprägen, ist präzise zwar nicht messbar. Denn während einige Bereiche – etwa die Agrarpolitik – umfassend aus Brüssel gesteuert werden, hat die EU-Zentrale auf anderen Felder – etwa der Steuerpolitik – kaum etwas mitzureden.

Doch im direkten Zahlenverhältnis produziert die Union beeindruckend mehr Rechtsakte als die Nationalstaaten selbst. Zwischen 1998 bis 2004 hat die EU 18167 Verordnungen und 750 EU-Richtlinien erlassen. Zum Vergleich: Der deutsche Bundestag und sämtliche Ministerien verkündeten im selben Zeitraum 1195 Gesetze sowie 3055 Rechtsverordnungen.

Belgien nun benötigt nicht einmal eine Zentralregierung, um sich am Zustandekommen von EU-Gesetzen zu beteiligen. „Im europäischen Ministerrat wird die Vertretung Belgiens oft durch die regionalen Minister wahrgenommen“, berichtet Lambertz Und umgesetzt würden die EU-Akte ohnehin zu einem großen Teil von den Regionalregierungen. Fazit laut Lambertz: „Das läuft schon.“

Wirtschaftlich kommt die stabilisierende Wirkung des Euro hinzu. Rik Coolsaet, ehemaliger Regierungsberater und heute Politikprofessor an der Universität Gent, glaubt, die belgische Volkswirtschaft sei allein deswegen noch nicht in den psychologischen Sog der Krise geraten, weil es die starke europäischen Gemeinschaftswährung gibt. Würde Belgien noch mit dem Franc handeln, ist er sicher, wäre der längst abgeschmiert – und die Politiker hätten echten Grund zur Eile.

„Echte eigene Kompetenzen hat die Zentralregierung ja eigentlich nur noch in der Verteidigungs- und in der Richtungsbestimmung der allgemeinen Außenpolitik“, bilanziert Coolsaet. „Im täglichen Leben fällt es deswegen kaum auf, wenn es sie nicht gibt.“

Das Problem sei allerdings, dass Belgien derzeit weder wichtige Richtungsentscheidungen treffen, noch eine strategische Außenwirtschaftspolitik betreiben könne. Das Land müsse dringend seine Sozialsystem reformieren, wofür es einen Konsens in der Bundesregierung unerlässlich sei. „Außerdem drohen wir handelspolitisch in die Irrelevanz abzugleiten. Holland und Deutschland greifen in den aufsteigenden Ländern von Südamerika bis China gerade die Marktanteile ab, die Belgien haben könnte.“
Ohne Zentralregierung ließe sich im Ausland eben doch nicht jede Tür öffnen. „Vielleicht“, sagt Coolsaet, „bemerken die Leute erst, dass wir in einer Krise stecken, wenn die ersten Jobs im Exportgewerbe verloren gehen.“

 

Zuckersüßes Imperium

Soll sich die EU irgendwann bis in die Ukraine erstrecken?

Immer lauter wird in Brüssel derzeit über dieses Zukunftsszenario gesprochen – vor allem wegen der knappen Güter Gas und – pardon – Fraß. Der Kaukasus ist ein wichtiger Energiekorridor für Europa, quasi der Schlauch, der uns mit dem Gastropf des Kaspischen Meeres verbindet.

„Die Ukraine arbeitet weiter am Ausbau der Odessa-Brody-Ölpipeline nach Danzig in Polen und hat sich mit Georgien, Aserbaidschan, Polen und Litauen darauf geeinigt, bei diesem Projekt zu kooperieren. Dies könnte die Möglichkeit eröffnen, die Ölversorgung aus dem Kaspischen Meer deutlich zu steigern“, heißt es im jüngsten Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Ukraine.

Zudem könnte die Ukraine, ja tatsächlich, geopolitisch wieder als Getreidelieferant wichtig werden. Angesichts einer weltweiten Verknappung von Anbauflächen steigen seit langem die Preise für Weizen. Die gute Ernte von den riesigen Felder der Ukraine führte soeben einer spürbaren Erleichterung an den Börsen. Schon ventiliert Russland Pläne für eine „Getreide-OPEC“ mit dem Nachbarn.

Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy will im Herbst das derzeitige EU-Partnerschaftabkommen mit Kiew zu einem Assoziierungsabkommen aufwerten. Dies würde vor allem Erleichterung beim Handel nach Westen mit sich ziehen. Die ukrainische Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um knapp sieben Prozent gewachsen. Der zweitwichtigste Exportpartner des Land ist Deutschland, die Wachstumsraten betragen hier rund 30 Prozent pro Jahr.

Die osteuropäischen EU-Staaten, vor allem Polen und Tschechien, sehen die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union schon als Vorstufe der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der EU. So illusorisch solche Pläne derzeit seien mögen, so sehr zeigt uns der Nachbar Ukraine, wie – sagen wir ruhig – selbstschöpfend die EU nach außen wirkt.

Denn egal ob man es nun Nachbarschaftspolitik, Partnerschaftsabkommen und EU-Beitrittsprozess nennt – ist nicht der generelle Befund wichtig, der uns die Avancen der Ukraine liefert? Ist es nicht Europas unausgesprochene Mission, sich als zivilisatorischer Standard auszubreiten und sich – vielleicht, letztendlich – in eine reine Idee umzuformen? Eine Idee, die Nachbarn einfach deswegen annehmen, weil sie ihnen richtig erscheint? Vielleicht ist die Vorstellung politischer Pächter am Rande Europas nicht verkehrt; die Ukraine, wie auch Moldawien oder die Türkei, verhalten sich in vielerlei Hinsicht wie Franchise-Nehmer der Marke EU. Sie übernehmen seine Spiel- und Marktregeln und machen sich damit ganz sachte zum Subunternehmer des Konzerns.

Institutionell betrachtet, trägt Europa alle Züge eines klassischen Imperiums: eine starke Zentrale, geteilte Souveränität, einen einheitlichen Rechtsraum, einen mächtigen Kern (die Gründerländer), unterprivilegierte Neumitglieder (diejenigen ohne Euro und mit Arbeitsbeschränkungen in den alten Ländern) und eine Peripherie aus möglichen künftigen Mitgliedern.

Der Unterschied zu klassischen Imperien ist freilich: Europa dehnt sich nicht durch Unterwerfung aus, sondern durch Überzeugung. Haben wir es also womöglich mit einer ganz neuen, unerprobten Art des Imperiums zu tun? Eines liberalen, wohlwollenden Imperiums?

Der Kommissionspräsident Manuel Barroso beantwortet diese Frage klar mit ja (bei 4:10 Minuten im Video).

Die Theorie ist nicht neu, sie stammt aus angelsächsischen Denkschmieden, aber gerade erst hat sie der deutsche Journalist Alan Posener prägnant zusammengefasst.

„Ob die alten Europäer es wollen oder nicht: Die Mitte liegt ostwärts, der Balkan schon lange nicht weit hinten in der Türkei, die Türkei nicht am Ende der Welt. Als geopolitisches Modell hat das Reich Karls des Großen ausgedient.“ (Imperium der Zukunft, S. 107)

Dann stellt sich allerdings Frage, ob ein solches (nichtimperiales) Imperium überhaupt jemals an Überdehnung leiden kann. Oder ob sein ultimativer Zweck nicht darin bestünde, seine Idee zu so weit zu tragen, bis es sich irgendwann in einer relativ gleichmäßig temperierten Welt auflöst.

Wie ein Stück Zucker eben, das den Kaffee etwas süßer gemacht hat.

 

In Freundschaft, vorwärts!

Was ist die neue Mittelmeerunion nun? Eine Friedenskooperative für den Nahen Osten mit europäischem Copyright? Oder ein milliardenschweres Entwicklungsprogramm für Nordafrika und die Levante, das die EU ohne weitere politische Vorbedingungen an eine stattliche Reihe von Diktatoren ausschüttet?

Im pompösen Stil einer Weltverbesserungskonferenz hatte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Gründungsfeier für die neue Allianz zwischen den 27 EU-Mitgliedern und 17 Mittelmeeranrainern von Algerien bis zur Türkei begehen lassen. Mit zwei ausgestreckten Armen empfing er im Pariser Grand Palais zu Beginn Israels Ministerpräsident Ehud Olmert und den Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – und konnte gegen Ende der Zusammenkünfte verkünden, Syrien und der Libanon wollten wieder Botschafter austauschen. Zugreifende Hände, lächelnde Antagonisten, das war das eine Bild des Mittelmeer-Gipfels.

Das andere definierende Motiv ließ sich von Pressefotografen schlecht einfangen; der Winkel war wohl zu groß. Es ist das des syrischen Staatschefs Baschir al-Assad auf der Ehrentribüne der Pariser Militärparade zum 14. Juli. Assad war, wie die anderen Staatsgäste, eingeladen, jenes Défilé auf den Champs Élysée abzunehmen, mit dem sich Frankreich alljährlich als Mutterland der Menschenrechte feiert. In stummer Contenance zogen die Paradesoldaten an dem Syrer vorbei, einschließlich eines Trosses weißer UN-Jeeps von jener Sorte, die im Südlibanon helfen, die von Syrien unterstützte Hisbollah in Schach zu halten.
Assad, mit dunkler Sonnenbrille, lauschte anschließend der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution, die der Schauspielers Kad Merad den Staatsgästen vortrug.

Erst später am Abend meldete sich im französischen Fernsehen ein Armeeveteran zu Wort, der bei einem Terroranschlag im Libanon verletzt worden war. Als unerträglich, sagte er, habe er die Anwesenheit Assads auf dem Ehrenplatz empfunden. Wer weiß, welchen Gefallen Sarkozy der libysche Oberst Muammar al-Ghaddafi am Ende mit seinem Entschluss getan hat, gar nicht erst nach Paris zu reisen. Freilich bleibt auch sein Land eingeladen, sich an der Mittelmeeerunion zu beteiligen.

„Wie kann man Frieden herstellen, wenn man nicht mit Leuten redet, die andere Auffassungen haben?“, rechtfertigte Sarkozy die roten Teppiche für die Autokraten aus dem Süden. Und sprach damit zugleich den Marschbefehl aus, dem nunmehr die gesamte EU folgt. „Frieden“ ist in dieser Formel allerdings als Variable zu lesen. Nicht so sehr für Demokratie, sondern eher für Sicherheit und Wohlstand. Ein Pakt für politische Pädagogik ist diese Mittelmeerunion nämlich gerade nicht mehr. Zu abschreckend verlief dafür die Geschichte des Barcelona-Prozesses, jenes bereits 1995 angestoßenen Partnerschaftsprogramms für das Mittelmeer. Er erwies aus verschiedenen Gründen als Flop (unter anderem wegen eines schmalen Budgets und mangelnder Verankerung in Brüssel), aber auch deshalb, weil sich die arabischen Regierungen nicht von Europas Entwicklungsplanern bevormunden und schon gar nicht schleichend demokratisieren lassen wollten.

Sicher, auch in der Pariser Gipfelerklärung bekennen sich die 43 Staatschefs zur Stärkung des „politischen Pluralismus“ und der Menschenrechte. Die Methode heißt aber nicht politische Einmischung, sondern wirtschaftliche Einbindung. Mit „Barcelona II“ setzt Europa seine Hoffungen unverblümter auf die ordnende Hand des Marktes. Der neue Pakt soll helfen, den Freihandel und die Seetransportwege auszubauen, die Sahara als Solarstromquelle zu erschließen, die Verschmutzung des Mittelmeeres einzudämmen, illegale Migration vorzubeugen und den Akademikeraustausch zu beflügeln. Was die Peripherie stabilisiert, so das Kalkül aller europäischen Nachbarschaftspolitik, nutzt Europa, nutzt ergo langfristig auch der Freiheitsverbreitung.

All das sind richtige, ja angesichts katastrophaler Wirtschaftsdaten und eines enormen „youth bulge“ in den Maghreb-Staaten geradezu zwingende Anstöße. Etwa zwei Drittel der nordafrikanischen Bevölkerung sind unter 30 Jahren alt, ein Viertel von ihnen hat nach Schätzungen der Weltbank keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz.

Der Erfolg der Mittelmeerunion hängt nun vor allem davon ab, ob die neuen Partnerstaaten das Freundschaftsangebot über die Pariser Festtage hinaus mit der gebotenen Weitsicht annehmen. Anlass daran zu zweifeln, besteht unter anderem deshalb, weil sich der Maghreb – anders als die EU – nicht als prinzipiell einige, sondern als prinzipiell uneinige Weltregion präsentiert. Der Streit um die Gebietsansprüche in der Westsahara ist nur ein Destabilisierungsfaktor, die Hebelkraft des militanten Islamismus ein anderer. Laut den Beschlüssen des Pariser Gipfels sollen sich die 43 Mittelmeer-Staatschefs von nun an alle zwei Jahre treffen, um über Fortschritte zu beraten, ihre Außenminister sogar jedes Jahr.

Große Bühnen, Sarkos Carla und Militärparaden werden sie dazu in Zukunft nicht mehr locken – wahrscheinlicher sind Zwecksäle ohne helle Medienausleuchtung. Und auch inhaltlich dürfte es mühsamer zugehen, wenn erst einmal darum gestritten wird, welche Häfen oder Küstenstraßen ausgebaut und wer dafür wie viel Geld bekommt. Vom Pariser Pomp aber könnten sich Europas neue Partner womöglich immerhin eine Einsicht abgeschaut haben. Die, dass in der Contenance ihre große Chance steckt – wenn sie diese zunächst einmal untereinander üben.