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Sturm im Champagnerglas

Nach dem glamorösen Gipfel von Paris bleiben Zweifel. Wie lange wird die neue Mittelmeerunion wohl halten?

Der Mann ist nicht nur ein Macher. Er ist auch ein Poet. „,Gestalten’ ist neben ‚lieben’ eines der schönsten Worte überhaupt“, dichtet der französische Präsident Sarkozy in seinem Programmbuch „Bekenntnisse“. Und fährt fort: „Schon immer brach ich leidenschaftlich gern mit alten Gewohnheiten, um das Unmögliche möglich zu machen (…) und das auszuüben, was wir gemeinhin Macht nennen.“

Am Wochenende nun hat Sarkozy in seiner neuen Rolle als EU-Präsidentschaftsinhaber gewaltig gestaltend gewirkt. Die Europäische Union ist um einen Peripherie-Ring reicher. In Paris hoben 43 Staatschefs aus Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika die Mittelmeerunion aus der Taufe. Der Pakt soll helfen, die Sahara als Solarstromquelle zu erschließen, die Verschmutzung des Mittelmeeres einzudämmen, illegale Migration zu verhindern sowie den Handel und den Studentenaustausch zu fördern. Vierzehn Tage nach Beginn seiner Ratspräsidentschaft hat Sarkozy sein Prestige-Projekt unter Dach und Fach gekriegt.

Seinen besonderen Reiz gewinnt das Abkommen freilich aus der Tatsache, dass Europa es auch mit dem Schmuddelstaat Syrien schließt. Darüber toben nicht nur die Menschenrechtler von amnesty international. Die Regierung in Damaskus beherbergt immerhin Exilführer der Hamas, unterstützt die Hisbollah, wird beschuldigt, hinter dem Mord an dem früheren libanesischen Premierminister Rafik Hariri zu stecken und befindet sich offiziell noch immer im Krieg mit Israel. Zusammen mit dem syrischen Staatschefs Basher al-Assad in einem Konferenzraum im Grand Palais an der Champs Elýsèe fotografiert zu werden, dürfte dem israelischen Premier einige Überwindung gekostet haben.

Und wie Assad reagierte, als er – als Ehrengast auf der Tribüne – bei der Militärparade zum 14. Juli ebensolche französische UN-Jeeps an sich vorbeifahren sah, die im Libanon helfen, die Hisbollah in Schach zu halten, ist bisher nicht überliefert.

Derart gespannte Contenance werden die Staatschefs aus der Mittelmeerunion künftig regelmäßig aufbringen müssen. Laut den Beschlüssen des Pariser Gipfels sollen sie sich von nun an alle zwei Jahre treffen, ihre Außenminister sogar jedes Jahr.

Drei Fragen sind nach dem pompösen Parisauflauf deshalb berechtigt: Wie lange wird die Lust der „Club Med“-Mitglieder anhalten, diesen Rhythmus einzuhalten? Wer wird der Motor hinter der Initiave sein, nachdem Nicolas Sarkozy den EU-Ratsvorsitz abgegeben oder einen neuen Spielplatz gefunden hat? Wie, drittens und kurzgefasst, nachhaltig ist das Projekt Mittelmeerunion?

PGV, Président à Grande Vitesse, nennen die Franzosen ihren Staatschefs in Anlehnung an den heimischen Hochgeschwindigkeitszug. „Sarko ist gewohnt zu bekommen, was er will“, sagt ein französischer Diplomat. „Mit zehn Jahren hat er sich vorgenommen, Präsident zu werden, und er ist es geworden. Er ist niemand, der sich von Strukturen oder einem zähen Bürokratismus aufhalten lässt, wenn er ein Ziel vor Augen hat.“

Er ist aber auch einer, der schnelle Schnitte liebt. Seine Neigung zum PR-wirksamen Einzelgängertum hat er bereits vor der Brüsseler Amtsübernahme eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Den Sturm im Champagnerglas weiß der Franzose hervorragend zu inszenieren.

Im vergangenen Jahr ließ er seine (Ex-)Frau Cécilia vor laufenden Fernsehkameras in Libyen die bulgarischen Krankenschwestern „befreien“, die der Diktator Ghaddafi als Geiseln gehalten hatte. Er staubte damit den Erfolg jahrelanger, zäher EU-Diplomatie ab und fädelte bei derselben Gelegenheit gleich ein Abkommen für die Lieferung von französischer Nukleartechnik an Ghaddafi ein.
Im Januar „kündigte“ Sarkozy unilateral die Fischereiquoten der EU auf (was unilateral nicht geht). Anfang Februar sagte er, Frankreich werde dem bedrohten Stahlkonzern Mittal mit Geld aus der Staatskasse unter die Arme greifen (was gegen die EU-Subventionsregeln verstößt). Ende Februar sagte er kurzfristig zwei deutsch-französische Regierungstreffen ab, weil Wichtigeres dazwischen gekommen war (und anderem ein Kommunalwahlkampfauftritt seiner Finanzministerin).
Und noch im März wollte er die Mittelmeerunion noch zu einer eigenen Mini-EU unter französischer Führung machen (bevor ihn Angela Merkel wieder einfing und das Projekt zurück in Brüsseler Bahnen lenkte). Sarkozy hätte gerne einen politischen Club Mediterrane unter Geschäftsführung der Mittelmeeranrainer hochgezogen. Geht nicht, beschied ihm nun die EU-Kommission. Außenpolitische Projekte unterliegen der jeweiligen Ratspräsidentschaft. Anfang 2009 wird Sarkozy seinen Prestigeverbund deshalb wieder los, Copyright hin oder her.

Der selbsternannte Président de la rupture, des „Bruchs“, ist bisher also nicht gerade durch langen Atem aufgefallen. Zwar mag seine energetische Art einem Europa, das nach der Lähmung durch das irische Nein auf Standby-Betrieb läuft, voerst gut tun. Aber reicht ein neuer Stil?

„Elektroschocks müssen ja nicht übel sein“, räumt eine hohe EU-Kommissionsbeamtin ein. „Aber sie alleine reichen nicht. Bei Sarkozys Vorschlägen fragt man sich ständig: Where is the beef? Er scheint doch eher von seinem Ego getrieben als von Ideen.“

In der Tat leiden viele von Sarkozys so genannten „neuen Politiken“ unter mangelnder Produktreife. Mal erklärt er sich zum „Präsidenten der Menschenrechte“, mal schmeichelt er in Richtung der Moskauer Autokraten („Wladimir Putin ist es gelungen, Russland in die Demokratie zu führen“), mal fordert er mehr Klartext gegenüber Chinas KP.

Und kaum ist die Mittelmeerunion beschlossen, träumt Sarkozy schon von einer neuen starken EU-Flanke. Diesmal im Osten. Während einer Konferenz in Jalta forderte er kürzlich eine „besondere Beziehung“ der Ukraine zur EU. Schon beim nächsten Gipfel am 9. September in Evian hoffe er, ein neues Abkommen für die „europäische Zukunft“ der Ukraine abschließen zu können, das die Zusammenarbeit und den „freien Handel“ stärken solle.*

Und wie verlässlich sind die neuen Partner seines „neuen Europas“? Sarkozys Handelspartner Ghaddafi blieb der Mittelmeer-Gründungsfeier fern. Er wolle, hieß es, keinen französischen „Neokolonialismus“ unterstützen. Aus libyschen Diplomatenkreisen ist etwas anderes zu hören. Ghaddafi, heißt es dort, müsse derzeit Rücksicht auf die Volksmeinung nehmen – und die fordere zunächst einmal, dass Europa das Palästina-Problem löse. Was auch immer stimmen mag – das Beispiel zeigt, wie schnell sich die Partner im Süden ihre Partnerschaft anders überlegen können.

* Die Pläne Sarkozys für eine neue „historische“ Partnerschaft Europas mit der Ukraine im Wortlaut:

Ukraine is a country of strategic importance to Europe. From the very moment of assuming office, I have wanted to be the advocate of a special relationship between the European Union and Ukraine.
For several months, France has been pleading the case before its partners in the European Union and the European Commission for negotiations on a new, strengthened, agreement between the Union and Ukraine with the aim of reaching the most ambitious result. It is our ardent hope that, on the occasion of the Evian Summit meeting on September 9, the European Union and Ukraine will be able to conclude an historic political agreement on the principles, the objectives, the scope and the constituent elements of this partnership, for the years to come and for the European future of Ukraine. The Evian Summit must give a decisive impetus to the negotiation of the new agreement, which can then be rapidly finalised and signed at the beginning of 2009. This is the ambition for the French Presidency of the European Union.
The new agreement, which will succeed the 1994 agreement for partnership and cooperation, will mark a new era in the development of relations between the European Union and Ukraine. It will permit strengthened cooperation in all areas of common interest: political dialogue, foreign and security policy, economic and energy cooperation, cooperation in the areas of freedom, security and justice – including the issue of visas – and the consolidation of our common institutional framework. The agreement will also include the establishment of a free-trade area between the European Union and Ukraine, which will considerably boost our economic integration.
Our goal is to encourage and support your efforts for political and economic modernisation. With this new agreement, the rapprochement between the European Union and Ukraine will further develop, fully taking into account the European identity and Ukraine’s European choice.

 

Schneller Medien-Service – Auf dem Brüsseler Leitstrahl

Wie überlebenswichtig es für Journalisten in Brüssel ist, ihre Handys genauestens im Blick zu haben, zeigte sich kürzlich wieder beim Ratstreffen der EU-Regierungschefs. Pling! machte die SMS aus der Zentrale der slowenischen Ratspräsidentschaft.

European Council – Gifts for the journalist – from 9:30 to 11:30 – Floor 01, under Council Press Room (www.eu2008.si)

Ach, wie dumm. Um das Gastgeber-Geschenk abzugreifen, ist keine Zeit, andere Termine drängen. Doch, pling!, wie schön, schon eine Stunde später simsen die netten Slowenen noch einmal.

European Council – Come and taste potica and Slovenian wine, Slovenian stand, Atrium, from 11:30 to 13:30

Hm… Gut gemeint, die Geste. Aber nein. Welcher verantwortungsvolle Berichterstatter beschwert sich schon des Mittags mit Hefekuchen und Wein?

Und überhaupt, eigentlich ist der Korrespondent von den Kurzmitteilungen der EU-Führer etwas mehr operativen Wert und etwas weniger Werbung gewohnt. Wer, was, wann, wo, darüber informiert der Schnelle Medien-Service in aller Regel.

Pling!

Accession conference with Turkey – Press conference NOW

Aha. Schon interessanter.

Pling!

Presidency off-the-record briefing today at 19:15 (Council Press Room)

Na also, geht doch.

Eingeführt hat diese benutzerfreundliche Journalisten-Fernbedienung Finnland (das Land rund um die Nokia-Werke), als es ab Mitte 2006 die europäische Ratspräsidentschaft innehatte. Während die Skandinavier allerdings noch zögerlich mit dem neuen Medienleitmedium umgingen, griffen ihre Nachfolger das System nach dem Anlauferfolg ehrgeizig auf.

„Wir haben das Ganze zur Perfektion getrieben“, berichtet ein deutscher Diplomat von der germanischen Ratspräsidentschaft 2007. 100 000 SMSe habe ein Computer in der deutschen EU-Botschaft in sechs Monaten verschickt, an 450 Journalisten, die in seiner Datenbank verzeichnet waren.

„Man kann sich dadurch einfach Hunderte von Anfragen ersparen“, sagt ein Presseattaché, „die Kunst dabei ist bloß, mit 160 Zeichen das Wichtigste rüberzubringen.“ Als die Deutschen die Ratspräsidentschaft vor einem Jahr abgaben, hatte sich der Ton schon gelockert.

Le roi est mort, vive le roi!, hieß es augenzwickernd in der Abschieds-SMS der Deutschen, bevor Portugal den EU-Thron (und die SMS-Software) übernahm.

Recht lebensnah hielt die deutsche EU-Botschaft übrigens das deutsche Pressecorps beim jüngsten Ratstreffen auf dem Laufenden. Spät am Gipfelabend, so viel war klar, wollte die Bundeskanzlerin die Presse noch zum Hintergrundgespräch empfangen. Bloß wann genau, blieb lange unklar.

ER – Abendessen:, beschied eine SMS live aus dem Speisesaal der 27 Regierungschefs gegen 22.30 Uhr, Der Nachtisch wird jetzt serviert.

Die Journalisten schmunzelten – und gossen sich entspannt noch einen Rotwein ein.

Eine der ersten Fragen an Angela Merkel betraf schließlich den Fußball. Wie sie denn während der langen Krisen-Verhandlungen den Spielstand Deutschland gegen Portugal verfolgt habe, wollte ein Kollege wissen.

„Der kam per SMS“, antwortete die Kanzlerin.

Und damit unterbricht
Planet in Progress seinen Sendebetrieb
bis zum 15. Juli.
Allen Lesern schöne Sommertage!

 

Nach dem EU-Unfall: Kollektives Wegschauen

Drei Fragen und Gegenfragen zu Europa

Die EU sei nicht bürgernah, schallt es nach dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag aus vielen Ecken. Das mag sein. Aber das ist auch nicht Zweck einer supranationale Organisation. Aufgabe der EU ist es vor allem, Sachpolitik mit Staaten zu machen, keine Gefallpolitik für den Bürger.

„Das Raumschiff Brüssel wird nie landen“, formuliert es der Pressesprecher der FDP im Europaparlament, Axel Heyer. „Es muss schließlich die Übersicht über 27 Länder behalten. Wir brauchen diesen, wenn man so will, Supercomputer, damit das schöne und bunte Europa, das der 27 Flaggen, funktioniert. Dass so ein Raumschiff nicht menschelt, ist doch klar. Es muss allerdings besuchbar bleiben. Und die Journalisten müssen seinen Funkverkehr abhören können.“

Das ist sicher alles sehr zutreffend. Und trotzdem: Es gibt ein Entfremdungsproblem. Uns sogar eines, das mit „mangelnder Bürgernähe“ nur unzureichend beschrieben ist. Das Bild von Europa, an dem die Eurokraten in Brüssel hängen, erscheint gefährlich abgehoben von der Wahrnehmung vieler europäischer Bürger. Besonders augenfällig öffnet sich diese Schere soeben in der Nachlese der irischen Referendums gegen den Lissabon-Vertrag.

Es ist beeindruckend, wie frei sich ein Großteil der europäischen Führungselite nach dem französischen, niederländischen (2005) und irischem Nein noch immer von jedem Selbstzweifel gibt. Die Analysen, die nach dem „No“ aus Dublin in Brüsseler Runden angestellt werden, drohen deswegen in eine Richtung zu gehen, die die Distanz der EU vom Bürger eher noch vergrößern dürfte.

Vollkommen unbeirrrt von der Meinungsäußerung der Iren zeigte sich etwa der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok. In seinen Augen erscheinen Kritiker schlicht als „Europagegner“. Im Europäischen Parlament sagte er gestern: „Mit dem Hinweis auf Schwächen, die aus dem Vertrag von Lissabon resultieren sollen, wollen Europagegner die demokratischen Fortschritte des EU-Reformvertrags verhindern.“ Und: „Mit Lügen versuchten diese Kräfte es, die Bürger zu irritieren.“

Die Iren sind also keine mündigen Bürger, sondern Bauernopfer europafeindlicher Propagandisten. Diese paternalistische Attitüde zieht sich leider quer durch die europäische Führungsetagen. Beispielhaft seien hier drei weitere Zitate wiedergegeben, die in den vergangenen drei Wochen in mein Notizblock wanderten. Sie sollen hier einmal – Achtung: ohne eingebaute Europafeindschaft! – hinterfragt werden.

1. „Wenn 27 Regierungen sich jahrelang Gedanken um den Lissabon-Vertrag gemacht haben und er von vielen Experten ausgearbeitet wurde, dann, finde ich, sollten Sie davon ausgehen, dass die Sache schon in Ordnung ist.“
Deutsche Diplomatin in Dublin

Dazu die Gegenfrage: Könnte man nicht auch genau das Gegenteil für wahrscheinlich halten? Bisweilen fällt es schließlich schon einzelnen Regierungen schwer, Gesetze zu erlassen, die handwerklich sauber und interessengerecht gestaltet sind. Sicher, angesichts des Flickenteppichs, den die EU darstellt, ist es schon eine enorme Errungenschaft, dass sich 27 Nationalstaaten überhaupt auf einen Vertragstext einigen können. Aber haben sich die Regierungen wirklich auf das Bestmögliche geeinigt? Oder waren sie nicht auch von dem Wunsch getrieben, die neue europäische Bedienungsleitung möglichst schnell und störungsfrei durch ihre Parlament zu bekommen – um bloß keine Grundsatzdiskussionen über Europa aufkommen zu lassen?

2. „Das Nein der Iren ist kein Anlass zu Depression. Politik braucht eben auch Führungsstärke. Oder glauben Sie, die Leute hätten dem Gesundheitsfond, der Abschaffung der Pendlerpauschale oder der Einführung des Euro zugestimmt, wenn darüber in Referenden abgestimmt worden wäre?“
Erfahrener EU-Politiker

Gegenfrage: Natürlich ist es richtig, dass es in der repräsentativen Demokratie die gewählten Volksvertreter übernehmen sollen, komplexe Sachverhalte zu durchleuten und anschließend die ihrer Meinung nach richtige Entscheidung zu treffen. Dafür sollte der Wähler den Experten im Parlament in aller Regel sogar dankbar sein. Es gibt nämlich durchaus so etwas wie „rationale Ignoranz“, wie es Meinungsforscher nennen. Sprich: Für den Bürger macht es keinen Sinn, sich mit bestimmten komplexen Fragen auseinanderzusetzen, wenn ihm letztlich Zeit oder Expertise fehlen, sie bis zur Urteilsreife zu durchdringen. Dann ist es besser, sich auf bewährte Sachwalter zu verlassen.
Die Frage ist bloß, ob im Falle das Lissabon-Vertrages (beziehungsweise von Europa-Fragen insgesamt) die repräsentative Demokratie in dieser gewohnten Form funktioniert. Zur Gesundheitsreform oder zum Steuerrecht gibt es Fachleute in jeder Bundestagsfraktion, die sich akribisch mit den Detailfragen der entsprechenden Gesetzgebung auseinander setzen – und die ihre Meinungen gegenüber der Öffentlichkeit kontrovers zum Ausdruck bringen.

Wo aber sind die streitlustigen Fraktionsfachleute für EU-Fragen? Wo sind die Abgeordneten, die sich eingehend mit dem Lissabon-Vertrag auseinander gesetzt und ihre Haltung der Kritik oder Zustimmung aus anderen Fraktionen entgegengesetzt hätten? Wann gab es zuletzt eine Sonntag-Abend-Talkshow über Sinn und Grenzen europäischer Integration – mit (man stelle sich einmal vor!) unterschiedlichen Positionen?

Abgesehen von der Linkspartei (deren Interpretationen des Lissabon-Vertrages schlicht hanebüchen sind) und dem CSU-Abgeordneten Gauweiler (der eher als Outlaw denn als Experte gilt), sind keine Parlamentarier in Erscheinung getreten, die mehr als den üblichen Werbetext über den Lissabon-Vertrag („Mehr Demokratie, mehr Effizienz, mehr Transparenz“) zum Besten gegeben hätten.
Wenn der Bundestag sich also bestenfalls oberflächlich mit wichtigen EU-Grundsatzfragen beschäftigt, ist es dann ein Wunder, wenn viele Bürger den Eindruck gewinnen, das Europäische werde an ihren Sorgen und Interessen vorbei entschieden?

Das Schlimme daran ist, dass die Unlust von Redaktionen und Parlamenten, sich mit dem Lissabon-Vertrag genauer auseinander zu setzen, in gewisser Weise sogar verständlich ist. Schließlich fließt die Meinung des Bundestags letztlich nur in einen Pool von 27 Parlamentsmeinungen ein, ebenso wie ein deutscher Zeitungskommentar nur einen Bruchteil der europäischen Öffentlichkeit erreicht. Brüsseler Angelegenheiten gelten, mit anderen Worten, schon als fait accompli, sobald sie gesetzgeberische Frühreife erreicht haben. Das führt dazu, dass sich jeder einzelne Mitgliedsstaat machtlos wähnt gegenüber dem antizipierten Übergewicht der 26 anderen. Oder sich zumindest nicht in der Pflicht sieht, Widerspruch zu äußern.

Die Verantwortlichkeit für den Lissabon-Vertrag lag, mit anderen Worten, gefühlt nie beim Bundestag. Sondern in der geteilten Verantwortung aller EU-Clubmitglieder. Das ist demokratisch ungesund. In der Sozialpsychologie gibt es ein verwandtes Phänomen, das „kollektive Wegschauen“. Sobald eine größere Menge von potentiell Verantwortlichen bereitsteht (etwa als Helfer bei einem Überfall in der U-Bahn), greift niemand ein, weil jeder denkt, es sei an anderen, etwas zu unternehmen. Experten erklären solche Untätigkeit mit dem „Bystander-Effekt“. Dem Unglück wird nicht abgeholfen, wenn es zu viele potentielle Retter gibt. Wenn sich niemand persönlich gefordert wird, und keiner auf Notsignale reagiert, setzt sich die Einschätzung durch, es liege kein Notfall vor.

Also: Wäre es nicht heilsam, wenn die nationalen Parlamente sich mehr Zivilcourage erlauben würden, um die Anonymität der Veranstaltung EU zu durchbrechen? Sicher, prinzipiell ist die EU ein gutes Projekt. Aber wenn sie als politisch heilig gilt, führt das zu einem gefährlichem Kontroll- und Akzeptanzverlust. Als „verselbständigte Macht der Exekutivgewalt“ hat Karl Marx 1852 den Bonapartismus unter Napoleon III. bezeichnet. Die EU scheint auf dem Weg, eben diese Dynamik zu entfalten.

3. „Auf dem Ratstreffen haben wir uns darauf geeinigt, dass die Betroffenen, die Iren, selbst noch einmal nachdenken sollen.“
Der deutsche EU-Botschafter Edmund Duckwitz

Gegenfrage: Wer sind die Betroffenen des irischen Neins? Bei nüchterner Betrachtung sind es nicht nur die Iren, sondern vor allem die europäischen Staatschefs. Anders gefragt: Müssen wirklich die Iren nachdenken, ob sie etwa falsch gemacht haben? Oder muss nicht zumindest auch das institutionalisierte Europa nachdenken, was es falsch gemacht hat?
Ja, was wäre am Ende, wenn die Iren nicht Nein gesagt haben, weil sie so schlecht über den Vertrag informiert waren, sondern obwohl sie besser als die meisten Kontinenaleuropäer über seine Inhalte Bescheid wussten? Falls es so war, werden sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich auch in einem zweiten Referendum mit „Nein“ stimmen. Wer das nicht möchte, der sollte baldmöglichst eine wirklich wichtige Grundsatzfrage zulassen: Kann man ein überzeugter Europäer sein, ohne vom neuen EU-Vertrag überzeugt zu sein?

 

Warum die Iren „Nein“ gesagt haben

Eine statistisch-individuelle Betrachtung

Bis zum Oktober, so das Ergebnis des EU-Gipfels von vergangener Woche, soll die irische Regierung in sich gehen. Dann, beim nächsten EU-Ratstreffen, soll sie sich und dem Rest von Europa erklären können, warum ihr Volk so versagt hat. Vor allem Deutschland und Frankreich nämlich gilt das irische Nein zum Lissabon-Vertrag als dummer Fehltritt, der korrigiert werden müsse. „Streng genommen muss man ja nur vier Prozent umstimmen“, sagt ein erfahrener deutscher EU-Politiker.

Dabei ist schon heute ziemlich klar, warum 53 % der Iren mit Nein gestimmt haben. Eine Umfrage des Gallup-Institutes im Auftrag der EU-Kommission liefert recht präzise Auskünfte über die Motive der EU-Verweigerer.
Was zeigen sie? Vor allem eins: Die Gründe für die Skepsis gegenüber der Brüsseler Zentralgewalt sind tiefgreifender, als es der Großteil der EU-Führer wahrhaben möchte. Jedenfalls scheinen sie nicht binnen weniger Monate oder durch kleinliche Zugeständnisse an die Iren „heilbar“ zu sein.

Ergänzend zu der Analyse von Gallup sei an dieser Stelle ein Leserbrief dokumentiert, der die ZEIT aus Dublin erreichte. Der Internet-Unternehmer John Ring schildert darin in sachlichem, unaufgeregtem Ton dreizehn Gründe für die Ablehnung des Lissabon-Vertrags. Sein Brief ist geeignet, tiefes Nachdenken auszulösen.
John Rings erster Grund für die Ablehnung von Lissabon lautet:

1 – Gebildete, intelligente Menschen konnten den Vertrag nicht lesen oder verstehen.

Dieser persönliche Befund deckt sich mit dem statistischen Hauptgrund für die Ablehnung in Irland. 22 % der Befragten sagten, sie hätten „nicht genug über den Vertrag gewusst und wollten nicht über etwas abstimmen, was ich nicht verstehe“.

Unser Leser fährt fort:

2 – Lissabon sollte die EU „demokratischer“ machen. Dennoch hat nur Irland mit 1% der EU Bevölkerung seine Bürger nach deren Meinung gefragt – und dies auch nur weil unsere Regierung dazu verpflichtet war.

Die Frage, für wie demokratisch die Iren die EU halten, taucht in der Gallup-Umfrage nicht auf. Aus ihr geht aber hervor, dass die Iren keineswegs EU-feindlich eingestellt sind. Nur fünf Prozent gaben als Grund für ihre Nein-Stimme an, sie seien „gegen die Idee eines vereinten Europas.“ Das zweitwichtigste Motiv für die Ablehnung (12 %) lautete allerdings, „die irische Identität schützen“ zu wollen.

Interessanter – und für die EU-Führer vermutlich schockierender – ist allerdings der Befund, dass die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag abnimmt, je jünger die Befragten sind. Die meisten Nein-Sager (65 %) gab es in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Die höchste Zustimmung (58 %) bei den über 55jährigen.

Nach der Undurschaubarkeit des Vertrages und der Angst um die nationale Identität gab es vier drittwichtigste Gründe (je 6 %) für die Nein-Sager: „Die irische Neutralität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen aufrechtzuerhalten“, „Ich traue unseren Politikern nicht“, „Wir werden das Recht auf einen Kommissar in jeder Kommission verlieren“ und „Unser Steuersystem muss beschützt werden.“

In den Worten von John Ring:

3 – Die meisten irischen Politiker und Parlamentsmitglieder, sowie viele ihrer EU Kollegen, wollten eine „Ja“-Stimme – jedoch hatten nach eigenem Zugeständnis nur wenige den Vertrag gelesen oder seine Auswirkungen bedacht.

4 – Die Franzosen und Holländer haben gegen die EU-Verfassung gestimmt. Dies ist dasselbe Dokument mit geringfügigen Änderungen.

5 – Extremisten, die ein „Nein“ befürworten, haben viele Lügen erzählt, welche keine vernünftige Person glauben würde. Dennoch waren sie die einzigen, die diese Fragen besprochen haben. Die Ja-Leute sagten „vertraut uns“. Ich vertraue ihnen nicht, was die Kommentare von vielen EU-Politikern nach dem Resultat bekräftigen, die sagen „Lissabon ist nicht tot“, obwohl wir im Voraus gewarnt wurden, dass es jedes Land ratifizieren muss.

6 – Lissabon befürwortet eine gemeinsame EU-Außenpolitik. Wenn wir den März 2003 vor der Irak-Krise bedenken, hätte es hier für Frankreich, Deutschland und Großbritannien wirklich eine einheitliche EU-Irak-Politik geben können? Für die meisten ernsten Probleme unserer Zeit scheinen die derzeitigen EU-Strukturen ausreichend.

7 – Jedes Land sollte hauptamtliche Kommissar(e) haben und ja, ein einfacher Mechanismus sollte gefunden werden, welcher es ermöglicht einstimmig zu verhandeln, zum Beispiel bei Energie-Gesprächen mit Russland. Aber ich will nicht, dass ein nicht gewählter (von der Bevölkerung) EU-Präsident mein Land auf andere Art repräsentiert, als es gegenwärtig der Fall ist.

8 – Ich will keine EU-Armee, trotz der Tatsache, dass Krieg leider manchmal notwendig ist. Obwohl eine Nation durch dieses Abkommen – bisher – nicht gezwungen wird einen Verteidigungsfond zu akzeptieren oder einen Beitrag dazu zu leisten, weist es doch in diese Richtung, und ich bin damit keinesfalls einverstanden.

9 – Obwohl wir mit EU-Ländern zusammen arbeiten, diktiert der globale Handel, dass wir auch mit diesen konkurrieren. Ich benötige einen 100 % garantierten, eindeutig formulierten Vorbehalt, dass unsere Körperschaftssteuersatz weder jetzt noch in Zukunft jemals geändert wird, es sei denn es wurde von der irischen Regierung gefordert.

10 – Einige Aspekte des Abkommens werden „zu einem späteren Zeitpunkt“ erläutert. Dafür kann ich nicht stimmen.

11 – Rechtsexperten, die Lissabon studiert haben, denken (sind sich aber nicht sicher), dass wir niemals wieder die Gelegenheit haben werden über bedeutende Fragen im Bezug auf die EU abzustimmen. Ist das wahr? Niemand scheint dies mit Sicherheit sagen zu können.

12 – Die positiven und sehr wichtigen Fragen des Lissabon-Abkommens, wie Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung usw., sollten sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Warum werden die offensichtlich guten Dinge mit den umstrittenen vermengt?

13 – Das Veto eines jeden Landes wird durch eine „qualifizierte Mehrheitsabstimmung“ bei wichtigen Fragen ersetzt, was voraussichtlich für viele EU Nationen ernsthafte unvorhergesehene Auswirkungen haben wird. Gerade erst haben Sie den Wert eines Vetos erlebt.

Auch diese Eindrücke unseres irischen ZEIT-Lesers decken sich denen der Allgemeinheit. Eine große Mehrheit der Iren (68 %) sagte, dass die „Nein“-Kampagne überzeugender gewesen sei als die „Ja“-Kampagne. Sogar die Mehrheit der Ja-Sager (57 %) sah dies so. Nur ein Prozent der Nein-Sagen allerdings finden, wie John Ring, dass die EU eigentlich ganz gut funktioniert.

So gut wie keine Rolle spielte laut der Gallup-Umfrage indes, dass aufgrund von EU-Recht möglicher Weise die Schwulen-Ehe, Abtreibung oder Sterbehilfe in Irland erlaubt werden könne. Diese Sorge geben nur 2 % der Nein-Sager als ihr Motiv an. Auch für John Ring waren diese Aspekte kein Thema.

Die Drohungen von EU-Politikern, deren Arroganz und vorherige Weigerung, auf zwei „nein“-Stimmen zu hören, die Kredit-Krise, Immigration, Abtreibung, Arbeiter-Rechte, Ölpreise, Inflation, Arbeitsplatz-Verluste, EU-Recht und örtliche politische Fragen haben meine Stimme in keinster Weise beeinflusst.

Was jetzt tun?, fragt John Ring. Schließlich will er nicht als EU-Gegner gelten, bloß weil er gegen den Lissabon-Vertrag war. Auch diese Sorge deckt sich wohl mit der vieler anderer Iren.

Ich will engere politische Verbindungen und tiefer gehende Integration innerhalb von Europa. Ich wollte nicht „Nein“ stimmen, da ich sowie die meisten Iren die ich kenne, sehr für Europa eingestellt bin. Wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt.

Was soll Brüssel jetzt tun? Die oben genannten Punkte korrigieren, alle EU Bewohner bitten darüber abzustimmen (statt 27 gefügige Regierungen dazu zu bringen es zu ratifizieren ohne es zu lesen), uns nicht auf zu fordern einfach zu glauben, dass eine neue Verfassung – Entschuldigung „ein neues Abkommen“ – das wir nicht verstehen, in Ordnung ist und ja, ich werde dafür stimmen. Anderenfalls bin ich mit den Dingen zufrieden so wie sie jetzt sind.

Jenen, die durch unsere „Nein“-Stimme frustriert sind, möchte ich respektvoll nahe legen, dass deren Bevölkerung, wenn sie gefragt würde, möglicherweise dasselbe sagen würde.

John Ring

GEC, Taylor’s Lane, Dublin 8, Irland

 

Die Legende von Lissabon

Da wäre sie also, die Lösung der Iren-Krise. Bis zum 15. Oktober wollen die 27 Staatschefs der Europäischen Union den Iren Zeit geben, über die Gründe und Folgen des Neins zu Lissabon nachzudenken. Dann soll der Dubliner Ministerpräsident Brian Cowen einen „Bericht“ vorlegen. Über den soll dann noch einmal beraten werden. Einstweilen jedenfalls sollen die übrigen Staaten den Reformvertrag weiter ratifizieren. Soweit die Schlussfolgerungen des Brüsseler „Krisen“-EU-Gipfels.

Die unausgesprochene Hoffnung bei all dem lautet, dass sich die EU-Rebellen schon wieder einfangen lassen. Jeder, so ist hinter vorgehaltener Hand auf den Fluren des Brüsseler Ratsgebäudes zu hören, dürfe sich schließlich mal einen Fehltritt leisten. Hauptsache, er kommt irgendwann wieder zur Vernunft.

Zum Lissabon-Vertrag, das machte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, gebe es keine Alternative. „Lissabon ist besser geeignet, den Sorgen der Menschen über Europa Rechnung zu tragen“, sagte sie. Und meinte die legendäre Brüsseler Bürokratie sowie das gefühlte Demokratiedefizit der Union. Die Europäische Union, so die leidenschaftliche Überzeugung der Kanzlerin, werde mit Lissabon „demokratischer, effizienter und transparenter“, gerade von Europaskeptikern müsse er dem bisherigen, sperrigen Nizza-Vertrag vorgezogen werden. „Der Lissabonner Vertrag ist einfach viel näher am Bürger“, so die Kanzlerin.

Dann aber sagte Merkel etwas, das über den Krisentag hinaus nachdenklich werden lässt. Nachdenklich darüber, ob die Effizienz Europas tatsächlich von seinen Rechtsgrundlagen abhängt. Oder ob es nicht vielmehr auf die Entschlossenheit seiner Staatschefs ankäme, den Kontinent zu bewegen.

Sie stimme, sagte die Kanzlerin, dem französischen Präsidenten Sarkozy darin zu, dass es ohne den Lissabon-Vertrag keine Erweiterung der Europäischen Union geben könne. Weder die Türkei, noch Kroatien, das auf einen Beitritt 2010 hofft, könnten ohne die neuen Spielregeln dem Club beitreten.

„Ich stimme dem [Sarkozys Statement] zu, weil der Vertrag von Nizza die Union in der Tat auf eine Mitgliedschaft von 27 Mitgliedern beschränkt.“

Das ist schlicht falsch. Der Vertrag von Nizza, also die jetzt gültige Rechtsgrundlage für die Europäische Union, lässt Erweiterungen durchaus zu. Dazu müssten zwar entsprechende Erweiterungsverträge von sämtlichen 27 Mitgliedsstaaten abgesegnet sowie die Stimm- und Abgeordnetengewichte in Rat und im Parlament angepasst werden.
Das alles wäre mühsam, sicher. Aber weder rechtlich verboten noch unmöglich. Rumänien und Bulgarien sind schließlich 2007 auch auf Nizza-Grundlage in die vergrößerte Union aufgenommen worden, als 26. und 27. Mitglied.

Im Irish Independent sagte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk: „The Irish vote should in no way be related to the enlargement. Enlargement is definitely not impossible without the Lisbon Treaty. Some leaders state this as condition but we don’t see it that way.“ Ihm pflichtet der britische Schatten-Europaminister Mark Francois bei. Es sei, sagt er, „völlig klar“, dass die Erweiterung auch ohne Lissabon-Vertrag weitergehen könne.

Manch einem Beobachter in Brüssel drängt sich der Eindruck auf, dass die Diskussionen um eine neue Bedienungsanleitung für Europa bisweilen als willkommene Entschuldigung dienen, nicht mehr politische Energie in diejenigen Projekte zu stecken, die Europa auch ohne Lissabon-Vertrag weiterbringen könnten.

Der Vergleich mag ungewöhnlich scheinen, aber warum klagt eigentlich die Nato nicht über Effizienzprobleme? Sie besteht aus fast so vielen Mitglieder wie die EU (26), und um Beschlüsse zu fassen, ist auch in ihren Gremien Einstimmigkeit erforderlich. Sicher, die Verteidigungsallianz plagt sich mit vielen Problemen, aber mit mangelnder Entschlossenheit nicht gerade. Liegt das womöglich daran, dass es in dieser Staatenfamilien ein starke Führungsmacht, die USA, gibt, die offensiv versucht, die Richtung vorzugeben? Und wenn ja, könnte die EU von dieser Methode nicht vielleicht etwas lernen?

Für eine kohärente Energieaußenpolitik gegenüber Russland beispielsweise braucht es keinen neuen EU-Vertrag. Es wäre bloß der gemeinsame europäische Wille nötig, sich von Gasprom nicht durch 27 dividieren zu lassen. Sprich, auch Durchsetzungsvermögen gegenüber den Kreml-Chefs und nationalen Energieriesen.

Für die Umsteuerung der EU-Subventionsfluten wäre kein neuer Vertrag nötig. Sondern bloß die handlungsleitende Erkenntnis, dass es Wahnsinn ist, die Landwirte Europas jedes Jahr mit 40 Milliarden Euro zu unterstützen, während in Europas Universitäten Geld für Professoren, Bibliotheken und Computer fehlt.

Um gemeinsam Druck auf Iran auszuüben, die Urananreicherung für Waffen sein zu lassen, benötigt Europa keinen Vertrag.

Auch für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik braucht es kein weiteres Papierwerk. Sondern vielmehr die Führungsstärke, den Europäern zu erklären, dass wir alle an den Verteidigungsausgaben sparen können, wenn die Länder ihre Rüstungsbeschaffung koordinieren würden, um die überflüssige Dopplung von Fähigkeiten zu vermeiden.

Vielleicht sollten die europäischen Staatschefs aus dem Debakel von Irland diese Lektion lernen:

Fragt nicht, was der Vertrag für euch tun kann. Fragt, was ihr (auch ohne Vertrag) für Europa tun könnt!

Überzeugt durch Performance, nicht durch Prozessdebatten. Dann klappt’s vielleicht auch mit den Referenden.

 

Durchgebrannt – Brüssel am Rande des Nervenzusammenbruchs

Eine Kurzreportage zum EU-Krisengipfel

Es sind Possen wie diese, die nicht nur viele Iren an Europa verzweifeln lassen. Ausgerechnet am Tag des großen Brüsseler Krisengipfels, bei dem die 27 Staatschefs der EU beraten wollen, wie es nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag weitergehen soll, brennen bei der Kommission ein paar Drähte durch.

Die Glühbirne in Europa wird bis 2015 abgeschafft, verkündet der EU-Energiekommissar, der Lette Andris Piebalgs. Die Menschen sollen Energiesparlampen benutzen, um das Klima zu retten.

Das ist genau die zündende Zukunftsidee, auf die Europa so dringend gewartet hat. Der Kontinent wird gedimmt.

„Das ist nur ein sehr kleiner Beitrag zum Klimaschutz“, erläutert die Leiterin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, in der FAZ, „aber nicht ganz zu vernachlässigen.“

Nicht ganz zu vernachlässigen dürften viele Europa vor allem die Frage finden, was es die EU angeht, welche Leuchtmittel sie sich zuhause in die Sockel schrauben. Der CDU-Europaparlamentarier Werner Langen ahnt den Zorn der Basis. Schnell schießt er am Morgen eine Pressemitteilung hinaus:

„Wir lassen die Köpfe rauchen, wie das Projekt EU bei den Bürgern wieder mehr Zustimmung bekommt, und die Kommission hat nichts Besseres zu tun, als die Abschaffung der Glühbirne zu fordern. Einige Kommissare haben offenbar nichts verstanden“, wütet der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament.

Und feuert, gut gezielt auf die Volksseele, noch einmal nach:

„Ein solcher Vorschlag ist genau der Dirigismus, der die Menschen gegen Europa aufbringt. Es ist einfach schockierend, dass sich an der Denke in den Amtsstuben der Kommission nicht ändert. Wir müssen endlich weg von der Beglückungsideologie und dem verordneten Gutmenschentum.“

Gut gebrüllt, möchte man meinen. Peinlich bloß, was gegen Mittag Langens Fraktionskollege Peter Liese per Rundmail klarstellt. Das Europaparlament habe die „Stromfresserrichtlinie“ selbst abgesegnet, erinnert er. Die Initiative der Kommission, Glühbirnen zu verbieten, sei schließlich Bestandteil des EU-Klimaschutzpaketes.

„Ich lege großen Wert darauf, dass die Europäische Kommission diese und ähnliche Maßnahmen nicht deshalb verabschieden kann, weil einige Beamten dies für richtig halten, sondern weil das Europäische Parlament (EP) und die Regierungen der Mitgliedstaaten es so wollen und die entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen haben.“

Um eines mal klarzustellen: „In Europa herrscht Demokratie.“

Nur, wie genau diese Demokratie funktioniert, scheinen nicht einmal die Akteure selbst immer zu wissen.

Ein paar Schritte vom Kommissionsgebäude entfernt, sonnt sich derweil die irische EU-Rebellin Mary Lou McDonald im extrem klimaschädlichen Scheinwerferlicht des Internationalen Pressezentrums, vor sich etwa fünf Mikrofone. „Der Lissabon-Vertrag ist tot“, sagt die Europaabgeordnete der Linksnationalistenpartei Sinn Féin. Sie hat sich einzige Dubliner Parlamentensfraktion für ein Nein stark gemacht. Und gesiegt, wie sie es sieht.
Die Staatschefs der EU, sagt McDonald, sollten jetzt ja nicht versuchen, der Vertrag auf irgendeine krumme Weise wiederbeleben zu wollen.

„Das Demokratiedefizit der Union wird durch den Lissabon-Vertrag nicht beseitigt“, sagt sie. „Wir brauchen eine neue Grundsatzdiskussion, neue Verhandlungen, einen neuen Vertrag!“ Links und rechts von ihr nicken je ein französischer und ein niederländischer Sozialist tief solidarisch.

Aber was, Frau McDonald, wenn die Europäer eine neue zermürbende Vertragsdebatte noch abstoßender finden als den Lissabon-Vertrag?

„Es wird Widerstand gegen einen neuen Vertrag geben, das ist mir schon klar. Aber wir Politiker sollten und immer daran erinnern, dass wir die Diener des Willens des Volkes sind – nicht dessen Herren.“

Der Wille des Brüsseler Journalistenvolkes ist indes auf eine möglichst kurze Krise gerichtet. Schön wäre, finden viele, wenn sie heute gegen 20.45 Uhr erledigt wäre. Denn dann beginnt des Fußballspiel Deutschland gegen Portugal. „Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll“, sagt ein Kollege tief besorgt mit Blick auf den Gipfelterminkalendar. Der sagt nämlich Folgendes:

Ab 20.15 Uhr soll der irische Premierminister Brian Cowen seinen 26 Kollegen beim Abendessen erklären, was auf der Insel schiefgelaufen ist und wie er gedenkt, Europa aus diesem Schlamassel herauszuholen. Gegen 22 Uhr wollen die Staatschefs dann noch einmal vor die Presse treten. Zwischendurch allerdings, so hat Bundeskanzlerin Merkel schon in einem Fernsehinterview nach dem letzten EM-Spiel angekündigt, wolle sie mit ihrem portugiesischen Kollegen „ab und zu mal um die Ecke gehen“, um das Viertelfinale im TV zu verfolgen.

Für die Lösung der EU-Krise sind am ersten Gipfeltag, mit anderen Worten, ziemlich genau 90-EM-Minuten eingeplant.

Wenn das keine volksnahe Lösung ist.

 

Europa nach dem Irland-Schock. Fünf Fragen und Antworten

1. Die Iren haben Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt. Stürzt Europa jetzt in eine neue Krise?

Brandgeruch lösen dieser Tage in Brüssel nur ein paar flammenden Pressemitteilungen aus dem EU-Parlament aus. Europa stecke in einer „existenzbedrohenden Krise“, versuchen Europa-Abgeordnete klarzumachen, ja, in einer „politischen Krise mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann.“

Merkwürdiger Weise aber scheint diese große Krise nicht richtig in Gang zu kommen. Die EU-Maschinerie surrt nach dem Nein der Iren seltsam unbeeindruckt auf Routine-Drehzahl. In der allmittäglichen Pressekonferenz spricht der Vizepräsident der EU-Kommission über die Entwicklung der europäischen Asylpolitik. Der Hohe Außenbeauftragte Javier Solana weilt im Iran, um einen Vorschlag zur zivilen Zusammenarbeit in Nuklearfragen zu überbringen. Und der Europäische Rat drückt tiefe Sorge aus. Über? Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Sudan.

Es sind diesmal eben nur 862 415 Iren, die Nein zum EU-Vertrag gesagt haben. Anders als 2005, als Franzosen und Niederländer dem damals noch „Verfassung“ genannten Reformwerk eine Abfuhr erteilten, führt der Dubliner Ausrutscher nicht zum gefühlten Totalschaden Europas. Er gilt eher als Panne, die sich ausbeulen lässt.

Mit dieser Grundstimmung jedenfalls versuchten am Montag nach dem Nein die 27 Außenminister der EU in Luxemburg, einen Plan B zu schmieden. Die Rettungsstrategie soll rechtzeitig für den EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel skizziert sein. Jener Plan B muss jetzt her, der laut Kommissionspräsident Manuel Barroso und dem irischen Premierminister Brian Cowen undenkbar war. Jedenfalls haben sie das den Iren vor der Abstimmung gesagt.
Bis zum vergangenen Freitag gab es eine klare Regelung im Lissabon-Vertrag. Sie besagte, dass sämtliche 27 Staaten der EU dem Reformwerk zustimmen müssen, damit es in Kraft treten kann. Jetzt gibt es die politische Wirklichkeit. Unmittelbar nach dem Nein schlägt Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor, Irland solle „für eine Zeitlang den Weg frei machen für einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. In die Sprache der Zeit übersetzt: Übles Foul, Ire. Für dich ist das Turnier gelaufen.

Dass es so nicht läuft in der EU-Arena, machten die übrigen Außenminister dem Deutschen allerdings schnell klar. Sie einigten stattdessen darauf, den Iren auf andere Art Disziplin beizubringen. Durch, nennen wir es, die europäisierende Kraft des Faktischen. Alle anderen 26 Staaten sollen den Vertrag ungerührt ratifizieren, lautet das Signal des Luxemburger Treffens. Im Angesichte dieser Phalanx, so das Kalkül, könnten die Iren am Ende unmöglich bei ihrem Nein bleiben. Es trifft sich, dass nicht einmal mehr London zickt; gerade haben die notorischen Brüsselmuffel im Oberhaus den Lissabon-Vertrag abgesegnet. Zwar gibt die slowenische Ratspräsidentschaft zusammen mit der irische Regierung zu bedenken, man brauche jetzt ein wenig Bedenkzeit. Aber zu mehr als einer Pietätspause für die Iren scheint sich die Krise nicht auszuwachsen.

Gäbe es gibt da nicht noch eine unbehagliche juristische Instanz. Sowohl in Deutschland wie auch in Tschechien liegen Klagen gegen den Lissabon-Vertrag bei den Verfassungsgerichten. Ob deren Richter vor der Wucht von 26 Parlamentsentscheidungen erzittern werden, weiß noch niemand.

2. Welche Alternativen gibt es zum Lissabon-Vertrag?

Europa hat jetzt die Wahl zwischen vier mehr oder minder großen Übeln. Es könnte, falls die Ratifizierungsstrategie nicht aufgehen sollte, eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal so zu überarbeiten, dass am Ende auch die Iren zustimmen. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten, vor allem aber die Europäer weiter mit technischer Selbstbezogenheit zu langweilen, statt Politik zu machen. Nicht einmal Verwaltungsjuristen aus EU-Referaten finden diese Option prickelnd. Hier eine offizielle Auflistung der Arbeitsstunden, die bisher in der Vertragsverhandlungen verbrannt worden sind.

Europa könnte, zweitens, die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und erst einmal weiter auf der Grundlage des Vertrages von Nizza weitermachen. Zwar haben Europapolitiker immer wieder gewarnt, einer Union der 27 Mitgliedsstaaten drohe der Kollaps, wenn die Institutionen und Entscheidungsprozesse nicht gestrafft würden. Doch die Praxis sieht anders aus. Seit der großen Osterweiterung von 2004 und 2007 ist die Gesetzgebung in Brüssel mitnichten erlahmt. Sicher, sie holpert bisweilen, aber wo tut sie das nicht?

Eine Studie der Trans European Policy Studies Association (Tepsa) listet auf, dass zwischen 1999 und 2003 jährlich durchschnittlich 195 Rechtsakte in Brüssel erlassen wurden. Nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Neulingen waren es 2005 noch 130. Und 197 im Jahr 2006, also nicht weniger als im vorherigen Durchschnitt.

Europa könnte also den Iren-Schock konstruktiv verarbeiten und erst einmal klären, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde mit weit reichender Harmonisierung der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit lediglich hinreichenden Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die Gemeinschaftsgeist verdienen, zum Beispiel in der Immigrations- und Energiepolitik?

Und wie wäre es, drittens, mit einem Kerneuropa, also einem Nukleus von Staaten, die mit tieferer Integration voranschreiten und dem sich andere Clubmitglieder Schritt für Schritt anschließen könnten? Allein das Stichwort ließ die versammelten Außenminister in Luxemburg zusammenzucken. Nein danke, sagten vor allem die Vertreter der kleineren Staaten.

Nicht einmal mehr der einstige Schöpfer der Idee, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, spricht von der Kernthese. Er wirft stattdessen die Idee in die Runde, ob nicht vielleicht künftig der EU-Präsident direkt von den Europäern gewählt werden könnte. Damit würde Europa zumindest jenen Superposten bekommen, dessen Inhaber es nach außen repräsentieren und im Inneren steuern solle. Ähnliches schwebt den Grünen im EU-Parlament vor. Um wenigstens die Grundrechtecharta und die erweiterten Rechte für das Parlament zu retten, wollen sie Wahl im nächsten Juni zusammen mit der Europa-Wahl ein europaweites Referendum über ein „Demokratie-Gesetz“ abhalten.

Für solche Volksentscheidungen müsste allerdings ebenfalls der EU-Vertrag geändert werden. Und auch das würde bedeuten, dass ihn sämtliche Regierungen, die ihn bisher ratifiziert haben lassen (19 von 27), ihn noch einmal durch die Parlamente boxen müssten.
Im Gespräch sind nun zusätzliche „Souveränitätsgarantien“ für Irland, etwa im Steuerrecht, in der Verteidigungspolitik und beim Familienrecht. Diese vierte Option dürfte die wahrscheinlichste sein. Aber was passiert, wenn die Iren trotz dieser Extrawürste noch einmal Nein sagen?

3. Welche Hoffnungen hängen am Lissabon-Vertrag?

Nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Neuerungen nicht geben, die wahrscheinlich sogar viele irische Nein-Sager begrüßt hätten. Jedenfalls können diese wohl nicht mehr, wie geplant, zum 1. Januar 2009 in Kraft treten. Die Verkleinerung der Kommission gehört dazu. Sie sollte von derzeit 27 auf 18 Kommissare schrumpfen. Die Parlamente in den Einzelstaaten sollten zudem die Möglichkeit erhalten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen, also der Brüsseler Regelungswut Einhalt zu gebieten.

Auch die Krönungsfeierlichkeiten für den ersten ständigen EU-Präsidenten sowie den Europäischen „Außenminister“ dürften sich verschieben. Die Hoffnungen, die sich mit den beiden künftigen Spitzenposten für die europäische Außenwirkung verbinden, mögen zwar überzogen sein, denn beiden Ämtern droht wegen unklarer Kompetenzzuschnitte ein eher schwammiges Profil. Gleichwohl, das Ausbleiben neuer Lichtgestalten dürfte auf Brüssels grauen Fluren einen tiefen Blues auslösen. Rein rechtlich übrigens könnte die Staatschefs niemand daran hindern, sich einen permanenten EU-Präsidenten zu wählen. Und auch ein Europäischer Diplomatischer Dienst ließe sich ohne Lissabon-Vertrag installieren. Die Frage ist bloß, ob sich dafür ohne Vertragskontext der politische Wille findet.

Ebenso wenig muss der Erweiterungsprozess gestoppt werden. Um den nächsten Kandidaten, Kroatien, 2010 in die EU aufzunehmen, braucht es zwar einen Beitrittsvertrag, den alle 27 Mitglieder absegnen müssen. Aber der ließe sich notfalls unabhängig von Lissabon abschließen.

Passé sind indes erst einmal die erweiterten Mitbestimmungsrechte für das Europäische Parlament. Sie sollten sicherstellen, dass die künftige Gesetzgebung aus Brüssel im Regelfall mit einer höheren demokratischen Legitimation versehen sind.

4. Warum haben die Iren Nein gesagt?

Der Hauptgrund für das Nein der Iren dürfte ein simpler Beweggrund gewesen sein, der auf Englisch besser klingt als auf Deutsch: „If you don’t know, vote no.“ Man unterschreibt nichts, was man nicht versteht, schon gar nicht, wenn es über 400 Seiten dick ist. Von einer „unabsichtliche Unlesbarkeit des Vertragstextes“ spricht mittlerweile sogar der grüne EU-Dombaumeister Daniel Cohn-Bendit. Die Unverständlichkeit des Lissabon-Vertrages stand den Iren stellvertretend für das ganze Konstrukt EU. Undurchsichtig, technokratisch und elitär – diese Kritik an Brüssel üben die Iren wiederum stellvertretend für viele Europäer.

Sicher, die meisten Iren waren nach wochenlangen Pro- und Contradebatten mit erheblich mehr Lissabon-Wissen überschüttet worden, als es sich je ein Festlandeuropäer freiwillig antun würde. Aber das, was sie erfuhren – oder zu erfahren glaubten -, hat viele eher verängstigt denn überzeugt. Die einen Agitatoren behaupteten, Brüssel werde durch die Hintertür irgendwann auf die die irische Steuergesetzgebung zugreifen können.

Konservative Katholiken fürchteten, durch die Grundrechtecharta werde Abtreibung und Schwulenehe legalisiert. Und viele Iren, denen die traditionelle Neutralität der Insel am Herzen liegt, hatten Sorge, ihr Land werde durch den Lissabon-Vertrag in ein Nato-ähnliches EU-Militärbündnis hineingesogen. Hinzu kam schlicht eine gewisse Lust an der Rebellion, gerade bei jüngeren Iren. „Es war irgendwie trendy, Nein zu stimmen“, sagt eine Schülerin.

Im irischen Votum zeigte aber auch, dass die Europäische Union keine klare Idee mehr von sich selbst ausstrahlt. Das Gründungsargument, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens, war und ist Iren kein Argument; auf der Insel wird der Nationalstolz sorgsam gepflegt, nicht eingehegt. Die furchtsame Skepsis vor eigener Größe, die das deutsche Selbstbíld auszeichnet, ist ihnen, wie vielen anderen Europäern auch, gänzlich fremd.

5. Was kann und muss Nicolas Sarkozy als nächster EU-Ratspräsident nun tun?

Koordinieren, moderieren und reparieren. All das, mit anderen Worten, was der französische Präsident sich für seine Zeit in Brüssel nicht vorgenommen hatte. Am 1. Juli übernimmt Sarkozy die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Die Wunschziele, die der Hyper-Präsident bereits hat verlauten lassen, strotzen nur so vor politischem Testosteron. Eine Renaissance der Nuklearenergie wollte er Europa bescheren. Eine Kräftigung der Europäischen Verteidigung. Und eine härtere Hand gegen illegale Einwanderung. Jetzt aber braucht die EU kein napoleonisches Ego mehr, sondern einen pan-nationalen Teamplayer.
Sarkozy muss vor allem findige Juristen auftreiben, die den Iren eine gesichtswahrende Lösung anbieten könnten. Er muss die Stimmung bei den anderen Regierungen halten und nicht zuviel neuen Streit in die EU tragen. Auf dem Pflichtprogramm stehen daneben eine Haushaltsreform, eine Neuordnung der europäischen Förderpolitik sowie ein Klima- und Energiepaket. Jede Menge Stoff für jede Menge Mini-Krisen.

Zusatzfrage: Wer wird der nächste deutsche EU-Kommissar in Brüssel?

Auf der Brüsseler Nebenbühne steht derweil ein kleiner großkoalitionärer Stellvertreterkrieg an. Angela Merkel will, wie die FAZ erfahren hat, definitiv den CDU-Mann Peter Hintze, derzeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als nächsten deutschen Kommissar nach Europa schicken. SPD-Chef Kurt Beck besteht derweil weiter auf seinem Kandidaten, dem Europaabgeordneten Martin Schulz. Große Chancen, im Herbst 2009 den Nachfolger des bisherigen deutschen Kommissar Günter Verheugen zu stellen, dürften die Sozialdemokraten allerdings nicht haben. 20 Jahre lang haben in der Kommission SPD-Mitglieder geherrscht, die CDU besitzt das Argument des dringenden Wechsels. Und dem SPD-Mann Schulz, da sind sich die Brüssologen einig, würde auch der Posten des Parlamentspräsidenten gut zu Gesichte stehen.

Ziemlich sicher ist allerdings, dass schon bald paneuropäische Eifersüchte um Kommissionsposten ausbrechen müssen. Denn laut dem Nizza-Vertrag muss die Kommission verkleinern werden, sobald sie 27 Mitglieder groß ist (was der Fall ist). Anders als im Lissabon-Vertrag steht dort allerdings nicht, um wieviele Kommissare sie genau gekürzt werden muss.
Vielleicht wäre es ein guter erster Schritt, die Iren zu schonen?

 

Eine Katastrophe? Nein. Nur eine gefühlte

Mit krampfhafter Routine haben Brüssels Maschinisten in den vergangenen Wochen so getan, als hätte an diesem Freitag, dem 13. keine Schicksalfrage für Europa angestanden. Das Referendum, in dem die Iren nun tatsächlich den Lissabon-Vertrag (ehemals: „Europäische Verfassung“) abgelehnt haben, war schlicht kein Thema in offiziellen Runden. Ein Grund dafür war die Angst, dass sich eine Diskussion über einen Plan B entspinnen könnte. Dass es den womöglich geben könnte, wollte man den Iren natürlich nicht auf die Nase binden.

Ja, aber, gibt es sie denn nun, eine Alternative zum Lissabon-Vertrag?
Selbstverständlich. Europa wird nicht untergehen, nur weil die Iren heute „Nein“ gesagt haben. Es ist nicht einmal sicher, ob die Wirkung des „Nein“ in der Außenwelt der EU nicht verheerender ausfällt als der Schaden,den es im Inneren auslösen kann.

An Europa hat der Westen lange große Hoffnungen geknüpft. Nach Amerikas moralischen Entgleisungen in Guantánamo und Abu Ghraib und dem unmandatierten Irakkrieg glaubten viele, der alte Venus-Kontinent wäre mit seinem multilateralen Diplomatie- und Verflechtungsmodell geeigneter, die Probleme der Welt zu lösen. Geübt im Versöhnen, angelegt auf das Verständnis anderer Völker und Traditionen, schien die Kooperationspolitik Europas vielen als bestmögliche Managementmethode der Weltprobleme, vom Klimawandel bis zum Atomstreit mit Iran.

Welches Signal sendet das „Nein“ zu Lissabon jetzt in die Welt? Womöglich, dass die Europäer es leider immer noch am besten verstehen, sich in ihren eigenen Ansprüchen an Harmonisierung und Regelschaffung zu verheddern. Dass sie es nicht einmal hinbekommen, ihren eigenen Club anständig zu regieren. Wie, bitte, soll ein solch desperater Verein als Ordnungskraft in der Welt wirken? In Washington blicken heute schon viele Beobachter (auch Demokraten) mit befremdetem Kopfschütteln auf das seltsame, überkomplexe Gebilde EU.

Und wie schlimm ist es nun aus Brüsseler Sicht um Europa bestellt?

„Das ‚Nein‘ in Irland zum Europa-Vertrag von Lissabon erzeugt eine politische Krise in der Europäischen Union mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann“, sagt Jo Leinen (SPD), Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament.

Tatsächlich?

Zunächst einmal zum Technischen. Europa lässt sich auch ohne Lissabon-Vertrag weiter regieren. Die Befürchtung, mit der Erweiterung um 12 neue Mitglieder auf nunmehr 27 Staaten werde sich die EU selbst lähmen, wenn sie sich nicht effizientere Regeln gäbe, hat sich bislang nicht bestätigt.

Vier Jahre nach der großen Osterweiterungsrunde von 2004 zeigt sich: Europa funktioniert genauso gut oder schlecht wie zuvor. Und auch für die Zukunft hätte Lissabon vermutlich wenig an einer Grundregel der EU geändert. Sie lautet, dass Konsens das beständige Ziel bleibt. Die Doppelte Mehrheit, die wohl radikalste Neuerung von Lissabon, hätte an der ständigen Harmonie-Suche im Rat, da sind sich Regierungsvertreter einig, nichts geändert. Sie hätte die Entscheidungsfindung vermutlich beschleunigt, das immerhin.

Sicher, nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Reformen nicht geben, die wohl selbst die Iren begrüßt hätten. Die Verkleinerung der Kommission, zum Beispiel. Oder mehr Rechte für das EU-Parlament. Oder die Möglichkeit von Einzelstaaten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen.

Daneben aber enthielt der Lissabon-Vertrag eine Reihe von Neuregelungen, die unter Demokratiegesichtspunkten hochgradig zweifelhaft waren und denen eine erneute Diskussion gut tun könnte (siehe unsere Serie zum Lissabon-Vertrag in den vorherigen Blog-Einträgen). Jedenfalls muss sich Europa nach diesem schwarzen Freitag entscheiden, welches der folgenden Übel es wählen möchte.

Europa könnte die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und auf Grundlage des Nizza-Vertrages so weitermachen wie bisher. Das hieße, sich langsamer zu integrieren und womöglich eine Denkpause darüber einzulegen, wohin es eigentlich steuern will.

Europa könnte eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal zu überarbeiten. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten und die Bürger mit technischer Selbstbezogenheit zu frustrieren, statt Politik zu machen. Also keine ernsthafte Option.

Europa könnte erst einmal versuchen zu definieren, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde samt weitreichenden „Harmonisierungen“ der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit hinreichend gemeinsamen Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die wirklich alle 27 Mitgliedsländer betreffen müssen, zum Beispiel in der Integrations- und Energiepolitik?

 

Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

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Fünfter und letzter Teil unseres EU-Vertrag Watch

Ein Kernidee des Reformvertrags (wie schon der „EU-Verfassung“) war es, eine auf 27 Mitglieder erweiterte Union handlungsfähig zu erhalten. Schließlich war vorauszusehen, dass Entscheidungen in einer solch unübersichtlichen Interessengemeinschaft nicht mehr derart konsensual getroffen werden könnten wie in einer EU der sechs, zwölf oder fünfzehn Mitglieder.

Die so genannte „Doppelte Mehrheit“ im Rat (also der Versammlung der Regierungschefs) soll ab 2014 sicherstellen, dass künftig auch im Falle von Meinungsverschiedenheiten wichtige Entscheidungen getroffen werden können. Doppelte Mehrheit heißt: 55 Prozent der Staaten, die zugleich 65 Prozent der Bevölkerung der EU stellen, müssen zustimmen. Das doppelte Mehrheitsprinzip tritt aufgrund eines entsprechenden polnischen Sonderwunsches allerdings erst am 1. November 2014 in Kraft, möglicherweise auch erst – sollten sich die Staatschefs auf eine Fortgeltung der alten Regeln verständigen – am 31. März 2017.
In Kraft bleibt auch die so genannte Ionina-Klausel. Nach ihr kann jeder Mitgliedsstaat gegen eine Mehrheitsentscheidung ein Veto einlegen. Dies hat allerdings nur aufschiebende Wirkung. Die Angelegenheit muss noch einmal neu verhandelt werden – und wird anschließend notfalls auch gegen den Widerstand der Veto-Nation verabschiedet.

Im Grundsatz ist das Doppelte-Mehrheit-Verfahren ein Zuwachs an Effektivität und an supranationaler Demokratie. Dieser wird allerdings mit einem Geltungsschwund nationaler Demokratie erkauft. Staaten sollen innerhalb des EU-Verbundes, kurz gesagt, künftig wie Bürger behandelt werden. Damit schwinden zugleich die Einflussmöglichkeiten von Staatsbürgern auf die Politik insgesamt.

Denn Mehrheitsentscheidungen im Rat bedeuten eben auch, dass fremde Regierungen Rechtsakte auch gegen den erklärten Willen von nationalen Parlamenten beschließen können. Zählt etwa Deutschland zur unterlegenen Minderheit, muss es Entscheidungen umsetzen, die unter Umständen weder das Volk noch die Volksvertreter noch die Regierung gewollt haben.

Zwar können vier Staaten zusammen eine Sperrminorität bilden und Beschlüsse des Rates blockieren. Doch dies könnte vor allem bedeuten, dass die drei großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England es alleine nicht mehr schaffen, Entwicklungen aufzuhalten. Eine solche Machtverschiebung vom Souverän auf eine supranationale Staatenkammer dürfte historisch einzigartig sein.

Außerdem gibt es noch eine inhaltliche Qualitätsänderung. Bisher regelt das mit qualifizierter Mehrheit zustande gekommene Gemeinschaftsrecht vor allem Leistungen, also Agrarbeihilfen und Struktursubventionen.
Nun aber werden auch Rechtseingriffe in klassische Souveränitätsbereiche (Justiz/Innen) durch europäische Mehrheitsentscheidungen möglich. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

Im Gegenzug bekommt das Europaparlament deutlich mehr Rechte. Es kann künftig in 85 (früher 45) Politikbereichen mitentscheiden (früher wurde es hier nur angehört), unter anderem im wichtigen Gebiet der Justiz- und Innenpolitik. In 112 Bereichen kann der Rat allerdings weiterhin ohne das Parlament entscheiden.

Eine weitere Möglichkeit für die Mitgliedsstaaten, „Mehrheitsdiktate“ aus Brüssel aufzuhalten, ist künftig die so genannte Subsidiaritätsklage. Subsidiarität bedeutet soviel wie „Vorrecht der kleineren Gemeinschaft“. Die grundlegende Idee stammt von dem Jesuit und Gesellschaftswissenschaftler Oswald von Nell-Breuning. Subsidiär heißt eigentlich „hilfsweise“. Nur dort, so will es das gleichnamige Prinzip, wo die kleinere Gemeinschaft überfordert ist und ihre Mittel und Regelungsmacht nicht ausreicht, nur dort soll die nächsthöhere Instanz subsidiär, also hilfsweisem eingreifen. Was von den betroffenen Menschen allerdings selbst beschlossen und umgesetzt werden kann, muss auch von ihnen selbst beschlossen und umgesetzt werden. Alles andere würde die friedensstiftende Wirkung der Demokratie gefährden.

Wenn nun genügend nationales Parlament glaubt, dass die Kommission, der Rat oder das Europaparlament mit einem ihrer Gesetzgebungsvorhaben gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt, können sie Brüssel die rote Karte zeigen. Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Festlegung aus dem Maastricht-Vertrag. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was tatsächlich am besten europaweit geregelt muss. Entscheidungen unterhalb dieser Schwelle sollen die Mitgliedsstaaten selber treffen.

In der Praxis nimmt kaum ein Brüsseler Beamter das Subsidiaritätprinzip mehr ernst. „Darüber lachen wir doch nur noch“, sagt eine deutsche Mitarbeiterin in der EU-Kommission.

Der Lissabon-Vertrag räumt den nationalen Parlamenten nun erstmals eine Veto-Möglichkeit ein. Allerdings ist sie derart begrenzt, dass sie in der Praxis kaum geeignet sein dürfte, Kompetenzanmaßungen durch die EU-Organe zu verhindern.

Mindestens ein Drittel aller Volksvertretungen muss innerhalb einer achtwöchigen Frist eine begründete Stellungnahme nach Brüssel schicken, samt einer Begründung, warum ein Vorhaben das Subsidiaritätsprinzip verletzt (bei Gesetzesvorhaben in der Justiz- und Innenpolitik genügt ein Viertel der Parlamente). Diese Frist dürfte schon die üblichen parlamentarischen Abläufe eines Mitgliedslandes sprengen. Dass sich neun Parlamente innerhalb dieser Zeit zu einer Beschwerde beschließen und formieren, erscheint so wahrscheinlich wie, sagen wir, eine gemeinsame Mondlandung von Finnen und Bulgaren bis zum nächsten EU-Gipfel.

Und selbst wenn es eine Drittel-Rebellion geben sollte: Ihr Veto hätte lediglich die Folge, dass das Vorhaben noch einmal überprüft würde – von dem Organ wohlgemerkt, welches das Projekt auf den Weg gebracht hat, also der Kommission, dem Rat oder dem Europaparlament.

Nur wenn der Rat oder das Parlament auf die Beschwerde hin mit einer Mehrheit von 55 Prozent beschließen würden, dass das beanstandete Gesetz tatsächlich gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstößt, würde es gestoppt. Dies aber ist hochgradig unwahrscheinlich, denn eben diese Mehrheit hatte ja zuvor schon für die Entscheidung gestimmt. Den Mitgliedstaaten bliebe dann nur noch der Weg zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), um seinen Standpunkt rechtlich prüfen zu lassen.

Auf das Europaparlament als Hüter von Einzelstaats-Interessen aber sollte sich indes kein nationaler Politiker verlassen. Zum einen sind die dortigen Abgeordneten in europaweite Bündelparteien eingebunden, was ihnen ein Vertreter spezifisch – etwa deutscher – Interessen schwer macht. Zum anderen herrscht im Europaparlament eine faktische Große Koalition aus Konservativen und Sozialisten. Vor allem aber verstehen sich die maßgeblichen Politiker als europäische Avantgarde mit der Mission, kleinkarierte nationale Denkarten zu überwinden. Zudem ist das EP nicht gleich gewählt. Ein Vertreter aus Malta oder Luxemburg hat unproportional mehr Stimmgewicht als einer aus Deutschland oder Frankreich. Schließlich kann von einer öffentlichen Debatte über Entscheidungen in Rat, Kommission und Parlament keine Rede sein. Weil es schlicht keine europäische Öffentlichkeit gibt.

Ein einflussreicher deutscher EP-Abgeordneter reagierte, auf die Möglichkeit des Vetos durch nationale Parlamente angesprochen, mit den Worten: „Das wird kein Problem.“ Der Begriff der Subsidiarität sei schließlich dehnbar. Im Zweifel, so der Abgeordnete, werde das Europaparlament den Einzelstaate schon erklären können, warum die Angelegenheit in Brüssel geregelt werden müsse.

Mit anderen Worten: selbst bei offenkundigen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip bleiben die nationalen Parlamente letztlich machtlos. Was sie gewinnen, ist immerhin die Möglichkeit, den europäischen Institutionen dann und wann einen Schuss vor den Bug zu versetzen. Das könnte – im günstigen Fall – zu mehr politischer Sensibilität aufgrund des Bewusstseins führen, dass nicht alles, was in Brüssel verhandelt wird, unter der Aufmerksamkeitsschwelle der nationalen Parlamente hindurchrutscht.

Hessens Ministerpräsident Roland Koch gab sich unlängst bei einem Besuch in Brüssel nichtsdestotrotz kämpferisch:

„Bei Projekte, bei denen wir wirklich einen Verstoß gegen die Subsidiarität sehen, können Sie davon ausgehen, dass wir sehr wohl auf scharf schalten können und Netzwerke aktivieren. In Wahrheit beträgt die Anlaufzeit ja nicht acht Wochen, sondern Monate. Man beobachtet das, was in Brüssel passiert, ja schon im Entstehen. An der Frist scheitert ein politischer Wille selten.“

Allerdings, die Hürden für eine Subsidiaritätsklage liegen auch für einen energischen Landesfürsten hoch. Zunächst müssten entweder im Bundesrat oder im Bundestag 25 Prozent der Vertreter für eine Beschwerde stimmen. Als nächstes müssten acht Verbündete Staaten im Rest von Europa für die Klage-Allianz gewonnen werden. Wie soll ein Bundesland, das über keine außenpolitischen Kapazitäten verfügt (abgesehen vom Personal in den Brüsseler Vertretungen), dies bewerkstelligen?

Unbenommen bleibt den nationalen Parlamenten freilich die Möglichkeit, die Europapolitik ihrer Regierungen zu kontrollieren, etwa indem sie ihren Ministern klare Grenzen für Verhandlungen im Rat setzen. Daran hat es der Bundestag allerdings schon in der Vergangenheit fehlen lassen. Viele Bundestagsmitglieder räumen unumwunden ein, es sei gar nicht zu schaffen, neben dem innen- und außenpolitischen Pensum auch noch Brüsseler Dossiers zu verfolgen.

„Der Bundestag hat die Entwicklung der letzten fünfzehn Jahren in der EU schlicht verschlafen“, sagt ein langjähriger deutscher Beobachter in Brüssel. Immerhin dieser Aufmerksamkeits-Level könnte sich durch die Möglichkeit der Anti-Brüssel-Klage erhöhen.

Im Ergebnis enthält der Lissabon-Vertrag einige Hebel zur Stärkung der horizontalen Demokratie in Europa. Die Mitgliedstaaten müssten sie aber lernen zu nutzen – unter Aufbietung erheblicher parlamentarischer Energien. Nutzen sie diese Rechte, dann wird Lissabon-Vertrags sein Hauptziel allerdings nicht erreichen: effizienter, schneller und schlagkräftiger zu werden. Im Gegenteil. Dann droht die Lähmung der Union durch Koalitionen der Unwilligen.

Generell ist zu befürchten, dass durch den Lissabon-Vertrag Entscheidungen der EU weiter an demokratischer Legimität verlieren werden, weil er den Zurechnungszusammenhang zwischen politischer Entscheidung und Bürgerwille überstrapaziert. Der lautet:

Je tiefer der Eingriff in die Rechtsphäre des Bürgers ist, desto klarer müssen die Verantwortlichen für diesen Eingriff erkennbar sein. Denn nur wenn der Bürger die Möglichkeit hat, Politiker für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wird er dieses Handeln als legitim empfinden. Denn nur dann traut er den Politikern zu, verantwortsbewusst mit ihrer Macht umzugehen.

 

Stärkt der Lissabon-Vertrag Europa wirklich als Global Player?

Teil IV des Lissabon Watch

Mit dem Lissabon-Vertrag, so das politische Versprechen, soll Europa in der Welt mehr Gewicht und Gesicht bekommen. Dies soll vor allem durch zwei neue Superposten geschehen. Durch den Europäischen Präsidenten, der künftig der EU für zweieinhalb Jahre vorsitzen wird. Und doch einen „Europäischen Außenminister“.

Werden die beiden aber wirklich so mächtig, wie sie glauben? Eher nicht.

Der Europäische Präsident soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen sowie „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen. Womit sich seine Jobbeschreibung schon einmal ungut mit der des „Europäischen Außenministers“ reibt.

Vor allem wird der neue Ratspräsident künftig, anders als bisher, nicht zugleich ein Staatschef sein. Das heißt, er ist keiner nationalen Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig. Kein Abgeordnetenhaus, ja nicht einmal das Europäische Parlament kann ihn für Schlechtleistung oder Fehler zur Verantwortung ziehen.

Bisher konnten Regierungschef ihre jeweils halbjährigen Ratspräsidentschaften in Brüssel nutzen, um sich außenpolitisch zu profilieren, so wie es etwa Angela Merkel getan hat, indem sie den Lissabon-Vertrag trotz mancher Affekte der polnischen Regierung zur Unterschriftsreife verhandelte. Und so actionreich wie es Europa gerade von Nicolas Sarkozy erwartet, dem letzten „kurzen“ Ratspräsidenten.

Von welcher Motivation wird dagegen der künftige EU-Präsident getrieben sein? Von den 27 Staatschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt, ist er ein König Ohneland. Er verfügt über keinerlei Hausmacht und keine politische Verhandlungsmasse, um seine Ideen voranzutreiben.

Deutschland dagegen hat mithilfe seines gewaltigen Beamtenapparats in Brüssel und Berlin während seiner Ratspräsidentschaft erstaunliche viele Projekte abschließen können, zum Teil solche, die schon lange liegen geblieben waren. Slowenien, das seine Beamtenschaft mit der Präsidentschaft überdehnte, schaffte lange nicht so viel.

Wieviel politische Pferdestärken hätte wohl ein Ratspräsident ganz ohne eigenen Regierungsapparat?

Und wie realistisch ist es zu glauben, dass sich die Staatschefs im Rat den Weisungen eines Präsidenten ohne Unterleib unterordnen werden? Ein Nicolas Sarkozy beispielsweise ist kaum der Typ, der sich von einem Behördenhäuptling einhegen lassen würde. Im Gegenteil, der künftige Ratspräsident könnte sich seinerseits schnell von Allianzen einflussreicher Länderchefs umzingelt sehen. Mancher Nationalstaat könnte sogar ein Interesse an einem möglichst schwachen Ratspräsidenten haben. Denn wer lässt sich schon gerne auf der Brüsseler Bühne die Show stehlen?

Hinzu kommt, dass die bisherigen halbjährlichen Rotationspräsidentschaften nicht etwa abgeschafft werden. Sie laufen – mit Zuständigkeit für die Fachministerräte – weiter. Das heißt, der jeweilige Staats- oder Regierungschef des halbjährlichen Präsidentschaft bestimmt, welche Themen auf die Tagesordnungen für die Brüsseler Treffen der 27 Wirtschafts-, Justiz- oder Außenminister kommen. Ob der (Rotations-)Ratspräsident daneben noch eine repräsentative Rolle spielen soll und wie sich seine Kompetenzen mit den denen des ständigen EU-Präsidenten vertragen werden, ist noch ungeklärt.

Der tschechische Premier Mirek Topolánek hat bereits klargestellt, dass es als „Demütigung“ empfinden wenn, wenn er die Vorstellung seines Programms im Januar 2009 dem neuen ständigen EU-Präsidenten überlassen müsse, berichtete vor Kurzem das Handelsblatt.

Die institutionelle Eindeutigkeit, die die EU nach Innen und Außen erreichen wollte, schafft der Lissabonvertrag jedenfalls nicht. „Die Strukur wird deutlich komplexer“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Müncher CAP.

Wie also kann die Rolle des EU-Präsidenten in Europa die Rolle Europas in der Welt stärken?

Verglichen mit dem innerdeutschen Machtgefüge, erscheint der Posten eher wie eine Art europäischer Bundespräsident denn als Chef der Regierungschefs: ein Amt, das viel diplomatisches und Moderationsgeschick erfordert, operativ aber im Wesentlichen auf die Repräsentation beschränkt ist.

Und dabei, wie gesagt, beißt es sich auch noch mit den Zuständigkeiten des neuen „europäischen Außenministers“.

Der selbst wiederum wird in allen wichtigen Fragen von Weisungen des Rates abhängig sein. Denn Entscheidungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) müssen auch weiterhin grundsätzlich einstimmig von allen 27 Regierungschefs oder Außenministern getroffen werden. Der Ministerrat, heißt es in Artikel 26 EUV, „fasst die für die Festlegung und Durchführung der GASP erforderlichen Beschlüsse“. (Auch hier übrigens übertragen die Mitgliedsstaaten der EU weitreichende Souveränitätsrechte. Laut der „Passerelle-Klausel“ können die Staatschefs einstimmig beschließen, über bestimmte Bereiche der Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU künftig mit qualifizierter Mehrheit zu entscheiden.)

Zwar erhält der „Außenminister“ neue Initiativrechte. Und er könnte einen gewissen Hebel in die Hand bekommen: Geld. Bisher ist die Außenpolitik Europas auf zwei Köpfe verteilt. Auf Javier Solana den Ratsbeauftragten, der die Mitgliedsländer vertritt, und auf die Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner. Während der eine politische Prestige aber kaum Personal besitzt, wacht die andere über Milliarden und einen ansehnlichen Stab – aber ohne große Gestaltungsmacht. So kommt es, dass die EU zwar mit viel Geld etwa die Palästinensische Selbstverwaltung unterstützt, aber trotzdem nicht als Gestalter wahrgenommen wird.

Auch für den zukünftigten „EU-Außenminister“ wird allerdings dieselbe strukturelle Schwäche gelten wie für den Ratspräsidenten. Das Amt „Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ klingt zwar groß. Doch letztlich unterscheidet es sich in seiner Schlagkraft kaum von der eines Generalsekretärs. Der Nato-Generalsekretär ist mit ganz ähnlichen Befugnissen für die 26 Staaten des Verteidigungsbündnisses ausgestattet. Nimmt ihn deswegen jemand als Außenpolitiker wahr? Und auch von den UN ist überliefert, dass sich ihre Generalsekretäre „mehr als Sekretär, weniger als General“ fühlen.

Gefragt, ob er Angst habe, die EU könnte der neuen US-Regierung den Rang als kraftvollste Klimaschützerin ablaufen, antwortete der ehemalige US-Vizepräsident im Januar 2009 Al Gore: „Es gibt Leute, die spekulieren, dass irgendwann in der Zukunft, falls die Europäische Union sich tatsächlich viel stärker vereinigt, einen Präsidenten haben wird und eine Gesetzgebungskompetenz mit echte Macht, dass sie dann irgendwie aufsteigen könnten, mit Potenzial für Weltführung. Also, ich halte nicht den Atem an.“ (Some have speculated that sometime in the future, if the European Union actually unifies to a much higher degree, and has a president, and an effective legislative body that has real power, they might somehow emerge, with potential for global leadership. I’m not going to hold my breath.)

Der europäische Außenminister allerdings soll einen eigenen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) erhalten. Noch ist nicht klar, wie genau dieser ausgestaltet sein soll. Bisweilen ist davon die Rede, dass er aus 5000 Diplomaten aller 27 Mitgliedsstaaten bestehen soll. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok schlägt eine „organisatorische Angliederung“ bei der EU-Kommission vor:

„Diese besitzt mehr als 120 Vertretungen außerhalb der EU. In Kombination mit aus den Mitgliedsstaaten rotierend zur Verfügung gestelltem Personal können sie leicht zu echten EU-Botschaften umgebaut werden. Mancherorts ist es auch denkbar, dass einzelne EU-Staaten sich keine nationalen Botschaften mehr leisten und stattdessen die EU-Botschaften für volle konsularische Dienste nutzen. Das spart öffentliche Gelder.“

Fragt sich bloß, ob die Mitgliedsstaaten an dieser Stelle Geld sparen möchte. Eigene diplomatische Vertretungen sind – neben der Sicherung außenpolitischer Interessenwahrungen – schließlich immer auch eine Frage des nationalen Prestiges. Auch schon der Gedanke, eine EU-Paralleldiplomatie zu dulden, dürfte nicht in allen europäischen Hauptstädten Gefallen finden.

„Viele Mitgliedsstaaten wissen noch gar nicht, was das auf sie zukommt“, sagt Sarah Seeger vom Müncher CAP. „Wollen die sich tatsächlich von der EU vertreten lassen?“

Schon heute schließlich versuchen die Botschaften von EU-Mitgliedsländern Europa so einheitlich wie möglich zu vertreten. Dazu dienen unter anderem „Gemeinsame Standpunkte“, an die sich die Botschafter aller EU-Staaten im Ausland halten.

In Brüssel ist schon, wie es ein Parlamentarier beschreibt, ein „Fingerhakeln“ über den neuen Auswärtigen Dienst im Gange. Denn viele Mitgliedsstaaten, Deutschland vorneweg, möchten den Dienst keineswegs in der Kommission angesiedelt sehen. Dort wäre er ihrer Verwaltungshohiet weitgehend entzogen. Eine zweite Möglichkeit wäre, den Dienst am Generalsekretariat des Rates anzudocken. Eine dritte Option ist, ihn als Behörde sui generis zu erschaffen.

Vorläufiges Fazit: Die „gemeinsame“ Außenpolitik des Global Player Europa ist über innereuropäischen Streit noch nicht weit hinaus.