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Die Aufweichung deutscher Rechtsstandards

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Teil III des Lissabon Watch

Was könnte sich mit dem Lissabon-Vertrag schon bei der nächste Fußballeuropameisterschaft ändern? Oder bei den Olympischen Spielen – sollten sie irgendwann einmal wieder in einem EU-Land stattfinden? Oder beim nächsten G8-Gipfel?
Vielleicht kommt ja die Regierung im Gastgeberland dankbar auf einen Dreh, den der neue EU-Vertrag eröffnet. Nämlich Polizisten aus dem Ausland, und zwar nicht nur aus dem unmittelbaren Nachbarland, im Inland einzusetzen. Gemäß dieser Möglichkeit aus dem Lissabon-Vertrag:

Der Rat legt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren fest, unter welchen Bedingungen und innerhalb welcher Grenzen die in den Artikeln 82 und 87 genannten zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats in Verbindung und in Absprache mit dessen Behörden tätig werden dürfen. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.
(Artikel 89 AEUV)

Rumänische Polizisten in Deutschland? Italienische Carabinieri beim Oktoberfest? Das sind spannende Vorstellungen. Vor allem aber sind sie mit der Rechtsstaatsgarantie des Grundgesetzes unvereinbar. Ausländische Polizisten sind schließlich nicht im deutschen Polizeirecht ausgebildet. Das ist aber eine ebenso selbstverständliche wie unverzichtbare Bedingung, um mit Exekutivgewalt deutschen Bürgern in ihrem Heimatland gegenüberzutreten.

Polizeirecht ist nicht mit Miet-, Kauf- oder Reiserecht vergleichbar. Es enthalt zusammen mit dem Strafrecht die tiefsten Eingriffsbefugnisse in Bürgerrechte, die dem Staat erlaubt sind. Die Voraussetzungen und Grenzen dieser Eingriffe selbst zu definieren, gehört zu den vornehmsten Rechten des demokratischen Souveräns.

Weiß jemand, unter welchen Bedingungen in Italien eine Demonstration aufgelöst werden kann? Wann in Rumänien Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt werden dürfen? Wie in Frankreich der finale Rettungsschuss geregelt ist? Ob man in Spanien ein paar Gramm Haschisch dabei haben darf? Nein? Genauso wenig werden die ausländischen Beamten die deutsche Rechtslage kennen, zumal sie noch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausgestaltet ist. Manch einer, der im Ausland schon einmal mit Polizisten zu tun hatte, weiß was er an den gründlich geschulten Beamten in Deutschland hat.

Natürlich, lässt sich einwenden, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sich im Europäischen Rat (der Versammlung der EU-Regierungschefs) eine einstimmige Mehrheit für einen Polizeiaustausch findet. Aber das muss auch gar nicht geschehen. Es reicht laut Lissabon-Vertrag aus, wenn sich ein Drittel aller Staaten über solche Austauschprogramme einig werden, also neun. Diese können dann beschließen, bei der „operativen Polizeizusammenarbeit“ eine „verstärkte Zusammenarbeit“ (im Sinne des Artikel 20 EUV) einzugehen. In diesem Fall entfällt auch die Zustimmungspflicht des Europäischen Parlaments.

Unter denselben Voraussetzungen kann der Rat zudem eine „Europäische Staatsanwaltschaft“ einsetzen. Mit anderen Worten: Findet sich eine Koalition aus einem Drittel der EU-Staaten, können diese ihre Polizeien und Strafverfolgungsbehörden verschmelzen.

Dies ist eine Konsequenz aus Wunsch der EU-Regierungschefs, die Justiz- und Innenpolitik weitgehend zu harmonisieren. Auf den ersten Blick entsprechen sich damit den Erwartungen vieler Bürger an die Europäische Union. 81 Prozent der Europäer möchten, dass sich die EU stärker der Terrorismusbekämpfung annimmt, 60 Prozent finden, sie könne bei der Verbrechensbekämpfung mehr tun. So steht es nun auch im neuen Vertrag. Die entsprechende Ermächtigungsnorm lautet:

Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.
(Art. 67 Abs. 3 AEUV)

Statt durch Rahmenbeschlüsse (= gesetzgeberische Anregung an die Einzelstaaten) kann die EU auf diesem Feld künftig durch Verordnungen (= unmittelbar geltendes Recht) und Richtlinien (= Beschlüsse, die von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen) aktiv werden. Für die Zusammenarbeit in der Justiz und Innenpolitik wird die Mehrheitsentscheidung im Rat zur Regel („ordentliches Gesetzgebungsverfahren“). Dies bedeutet, dass einzelne Staaten künftig bei sensiblen Rechtssachverhalten überstimmt werden können. Zwar muss das Europäische Parlament zustimmen, bevor solche Gesetze in Kraft treten. Doch das Parlament agiert nicht als Interessenvertreter einzelner Länder. Selbst wenn alle 99 deutschen Parlamentarier gegen einen Vorschlag des Rats stimmen sollten – es blieben noch fast 700 Abgeordnete, von denen sie überstimmt werden könnten. Für kleinere Länder sieht es noch schlechter aus.

In einer Analyse des Lissabon-Vertrages kommt die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zu dem Ergebnis, mit diesen Regelungen werde die „schrittweise Supranationalisierung der europäischen Justiz- und Innenpolitik“ fortgeführt.

Das ist natürlich einerseits gut für Wirtschaft und Handel. Andererseits soll die Anerkennung von Urteilen nicht auf das Zivilrecht beschränkt bleiben, sondern auch auf das Strafrecht ausgedehnt werden. Und das ist schlecht für die Rechtssicherheit in Europa. Oder möchten wir wirklich, dass jedes in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirktes Strafurteil in Deutschland anerkannt wird? In allen drei Ländern erweisen sich Richter und Staatsanwälte bis heute als käuflich.

Falls der Lissabon-Vertrag, der ehemalige „Europäische Verfassung“ am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich. Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit freilich dann auch weiterhin.

“Der Kommission fehlt einfach ein Überblick über die unterschiedlichen Rechtslagen in den 27 Mitgliedsländern”, sagt ein Experte für europäische Justizangelegenheiten in Brüssel. „Die übersehen dann schon mal Besonderheiten, die hier und dort herrschen.“

Natürlich kann die Bundesregierung solche Ideen aufhalten – Deutschlands Stimme hat im Rat schließlich Gewicht. Doch eine Intervention setzt voraus, dass die Bundesregierung auch mitbekommt, was sich in Brüssel anbahnt. Und dass sie es aufhalten möchte.

Bei europäischen Harmonisierungen der Rechtspolitik sieht der Lissabon-Vertrag zwar eine „Notbremse“ vor. Im Original heißt es:

Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass ein Entwurf einer Richtlinie nach Absatz 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung beruhren wurde, so kann es beantragen, dass der
Europaische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt.

(Art. 82 Abs.3 AEUV)

Doch was genau sind „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung“? Dies zu interpretieren, wäre eigentlich Sache der nationalen Parlamente. In Europa bleibt es den Fachministern im Rat vorbehalten – doch sind aller Erfahrung nach eher von Effizienzgedanken getrieben. Zudem, die Folge einer „Notbremsung“ in Brüssel bestünde lediglich darin, dass das Gesetzgebungsverfahren für höchstens vier Monate ausgesetzt würde.

Unklar ist auch noch, welche Rechtsschutzmöglichkeiten die EU dem Bürger parallel zu ihren wachsenden Kompetenzen, etwa bei der Terrorismusbekämpfung, einräumt. „Diese Frage wird in der Tat noch nicht richtig debattiert“, sagt Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Ein Versuch, Schutz zu bieten, ist die Einrichtung eines europäischen Datenschutzbeauftragten. Aber hier gibt es aber Probleme – die parlamentarische Kontrolle muss weiter gestärkt werden.“

Weit auseinander gehen auch die Vorstellungen in den einzelnen Staaten darüber, welches Verhalten überhaupt strafbar sein soll. Der EU-Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung aus dem Jahr 2002 zum Beispiel sieht vor, auch so genannte „Aufforderungstaten“ unter Strafe zu stellen, also etwa die Billigung und Aufforderung zu Straftaten. Darunter sollen nach jüngsten Vorschlägen der slowenischen Ratspräsidentschaft auch “bestimmte Formen rassistischer Meinungsäußerungen und Fremdenfeindlichkeit“ gehören.

Derart normative Begriffe ins Strafrecht aufzunehmen, ist gefährlich. Denn nicht alles, was als Meinungsäußerung abstoßend ist, darf auch bestraft werden. Was ist rassistisch? Was ist fremdenfeindlich?Was ist einfach nur eine primitive Haltung? Das Strafrecht ist dazu da, Rechtsgüter zu schützen; die Würde und Unversehrtheit von Menschen, zum Beispiel. Es ist aber nicht dazu da, xenophobe Menschen für ihre Beschränkheit zu bestrafen. Das war bisher in Deutschland nicht so, und auch Großbritannien hielt die Meinungsfreiheit auch der Dummen für schwer einschränkbar. Künftig aber könnte aus Brüssel eine Anweisung an alle Mitgliedsstaaten ergehen, diese Einstellung zu ändern – durch einen, wie gesagt, Mehrheitsbeschluss im Rat.

Mit dem Vertrag von Lissabon erhält die EU desweiteren die Möglichkeit, über die Ausgestaltung von Pässen und Personalausweisen zu bestimmen. Dazu sind allerdings weiterhin ein einstimmiger Ratsbeschluss sowie eine Anhörung des Europäischen Parlaments erforderlich.

Erscheint zur Erleichterung der Ausübung des in Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe a genannten Rechts ein Tätigwerden der Union erforderlich, so kann der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen.
(Art. 77 Abs. 3 AEUV)

Das freilich ist eine fragwürdige Kompetenzzuordnung. Schließlich benötigt man innerhalb der EU doch gar keine Reisepässe mehr. Welchem Integrationsziel soll es also dienen, wenn die EU eine Zuständigkeit für das Passwesen reklamiert? Für einen Mitgliedsstaat, in dem es keine Personalausweise, sondern nur Pässe gibt, ergäbe das Sinn. Doch Großbritannien, auf den das zutrifft, ist ohnehin nicht Teil des Schengenraums.

„Bei der Justiz- und Innenpolitik zeigt sich eine ungeheure Integrationsdynamik“, sagt die EU-Expertin Sarah Seeger vom Münchner CAP. „Diese kann durchaus im Spannungsverhältnis zum Subsidiaritätsgedanken stehen.“

Bliebe als juristischer Watchdog der Europäische Gerichtshof (EUGH). Er überprüft bei Klagen unter anderem die Übereinstimmung von EU-Rechtsakten mit der Europäischen Grundrechtscharta. Ob er allerdings zu einer ähnlich vorbildlichen Interpretation der Grundrechte wie deutsche Bundesverfassungsgericht, muss er erst noch beweisen.

Von der EU sollte man im Bereich Inneres und Justiz eine Politik des höchsten Standards erwarten. Genau dies aber wird durch den Lissabon-Vertrag unwahrscheinlicher. Denn je gemeinsamer die Nenner werden, desto kleiner werden sie auch.

 

Selbstentmachtung der Nationen?

tropfen-eu-artikel-210.jpgTeil II des Lissabon Watch

Ein wichtiges Ziel des Lissabon-Vertrags war es, die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsländern klarer zu regeln. Das ist nicht gelungen. Stattdessen bekommt die EU die Möglichkeit, immer mehr Politikbereiche an sich zu ziehen.

Die Gesetzgebungsverteilung zwischen Mitgliedsländern und EU lässt sich in drei Bereiche einteilen. Da ist einmal das, was die EU ausdrücklich regeln darf („Ausschließliche Gesetzgebung“). Zum Zweiten das, was die EU regeln kann („Geteilte Gesetzgebung“). Und schließlich das, was die EU nicht darf, die ureigenen nationalen Bereiche (bisher beispielsweise die Steuer- und Sozialpolitik).

Besonders wichtig sind im Lissabon-Vertrag die Rechtssetzungsregelungen innerhalb der so genannten „Geteilten Kompetenzen“. Sie sehen vor, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten nur noch dann tätig werden können, wenn und soweit nicht bereits die EU tätig geworden ist.

Übertragen die Vertrage der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit, so können die Union und die Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat.
(Art. 2 Abs.2 AEUV, Hervorhebung JB)

Diese Kompetenzzuweisung beschert der EU die Möglichkeit, ihre gesetzgeberische Prämisse beständig zu erweitern, denn sie ist eine, wenn man so möchte, Kompetenz qua Initiave.

Die „geteilte Kompetenz“ ist mit der der konkurrierenden Gesetzgebung in Deutschland, also der zwischen Bund und Ländern (Art. 72 Grundgesetz), vergleichbar. Laut Grundgesetz haben in vielen Feldern die Länder die Gesetzgebungskompetenz, solange und soweit der Bund nicht von ihr Gebrauch macht. Wie sich diese Regelung praktisch ausgewirkt hat, ist bekannt. Der Bund hat die allermeisten Kompetenzen an sich gezogen. Den Ländern blieb ein Minimum.

Tatsächlich ist die „geteilte Kompetenz“ nach dem Vorbild der konkurrierenden Gesetzgebung aus dem deutschen Grundgesetz in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. „Das wurde entschieden, bevor wir in Deutschland gemerkt haben, dass wir eine Föderalismusreform brauchen“, sagt ein Abgesandter eines Bundeslandes in Brüssel. „Statt aus den deutschen Fehler zu lernen, hat Europa diesen deutschen Fehler in den Vertrag übernommen.“

Zwar listet der Lissabon-Vertrag ausdrücklich diejenigen Bereiche auf, in denen die „geteilte Kompetenz“ gelten soll. Eine rote Linie für die Brüsseler Gesetzgebung folgt daraus jedoch nicht. So kann die EU unter anderem das Ziel „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ (Art. 4 Abs.2 Ziffer d AEUV) für sich reklamieren. Diese Formulierung ist derart generalklauselhaft, dass es schwerfällt, sich Sachverhalte vorzustellen, die mit ein bisschen politischer Phantasie nicht unter diese Definition fallen könnten.

Im Vertrag ausdrücklich aufgeführt sind des Weiteren der gemeinsame Binnenmarkt, die Sozialpolitik, „der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, Kohäsion, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz, Transeuropäische Netze, Verbraucherschutz, Energie, öffentliche Gesundheit.

Damit wird das Feld der EU-Zuständigkeiten, einfach ausgedrückt, so weit abgesteckt, dass es eigentlich keinen Lebensbereich mehr gibt, der nicht erfasst wäre.

Ein Beispiel: Mit dem Gemeinschaftsziel „Binnenmarkt“ ließe sich auch ein Europäisches Zentralabitur rechtfertigen. Es würde Familien innerhalb der EU schließlich den Wechsel des Arbeitsortes erleichtern, wenn ihre Kinder sich in jedem Land gleichermaßen auf ihre Abschlüsse vorbereiten könnten und ihre Qualifikationen von Schweden bis Sizilien gleichermaßen anerkannt würden. Dies würde die Mobilität und Arbeitskräfteaustausch innerhalb Europas, ergo den Binnenmarkt, fördern.

Natürlich ist bei all dem zu bedenken, dass die Mitgliedsstaaten die Herren des Verfahrens und der Verträge bleiben. Die EU ist kein gespenstischer Akteur. Sie ist immer der erklärte Gemeinschaftswille ihrer Mitglieder. Von einer Selbstentmachtung zu sprechen, wäre daher übertrieben. Treffender ist es, davon zu sprechen, dass die Mitgliedstaaten sich darauf geeignet haben, immer größere Teile ihrer Souveränität gemeinsam auzuüben.
Der Gruppendruck auf jede Nation aber, ihre Souveränitätsrechte immer großzügiger in den Brüsseler Pool zu werfen, zum Wohle des großen europäischen Ganzen, nimmt mit dem Lissabon-Vertrag eher zu als ab.

Denn anders als mit dem Vertrag ursprünglich beabsichtigt, ergibt sich dem Lissabon-Vertrag auch weiterhin ,„kein ganz klares Bild der Kompetenzen der Europäischen Union“, resümiert die EU-Expertin am Münchner Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Sarah Seeger.

Viele Brüsseler Kommissionsbeamte lächeln schon heute nur noch freundlich über das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass die EU nur das regeln soll, was sie besser regeln kann als die einzelnen Mitgliedsstaaten. Mit dem Lissabon-Vertrag verabschiedet sich die EU mehr oder weniger offen von diesem Leitgedanken.

Die EU ist ein historisches Experiment, und bisher ist es beeindruckend erfolgreich verlaufen. Doch es scheint, die Union wolle einfach nicht inne halten, um die Ergebnisse des bisherigen Verlaufs zu analysieren. Stattdessen fällt es ihr immer schwerer, das Experiment abzubrechen – oder zumindest eine Denkpause einzulegen.

„Ich vergleiche die Wirkung der EU immer mit einem Kiesel, den man ins Wasser wirft“, sagt ein Brüsseler Diplomat. „Die Kreise werden immer größer. Je mehr man anfängt zu regeln, desto mehr Regelungsbedarf gibt es.“

 

Was Sie nie über das neue Europa wissen wollten. Aber sollten

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Mit dem Lissabon-Vertrag über die Europäische Union ist es wie mit der Bibel vor der Erfindung des Buchdrucks. Jeder hat schon einiges davon gehört und glaubt ungefähr zu wissen, was drinsteht. Aber weil die ganze dicke Schrift viel zu kompliziert ist um sie gänzlich zu verstehen, verlässt sich für die Interpretation jeder auf seine persönlichen Priester.

Für die einen ist es die Bundesregierung.
Für die anderen die EU-Kommission.
Für wieder andere die Tagespresse.
Oder der EU-Rebell Peter Gauweiler.

Dieser Blog will in einer kleinen Serie versuchen, einen eigenen, kritischen Blick auf das 450-Seitenwerk zu werfen, das die Europäische Union an Haupt und Gliedern straffen soll.

Denn der Countdown läuft.

Am 12. Juni stimmen die Iren in einem Referendum über den Vertrag ab. Sie sind das einzige Volk Europas, das nach seiner Meinung über den Lissabon-Vertrag gefragt wird. In den übrigen 26 Mitgliedsstaaten entscheiden die Parlamente. In Deutschland haben Bundestag und Bundesrat bereits zugestimmt. Anders als in Irland sind die meisten Festlandeuropäer völlig unterinformiert über die Auswirkungen der neuen Bedienungsanleitung für Europa. Das ist bedenklich, denn der Vertrag verändert eine Menge. Und vieles davon wäre es wert, dem Feuer einer kritischen öffentlichen Debatte ausgesetzt zu werden.

Um – wenn auch etwas verspätet – eine solche Diskussion anzustoßen, will sich dieser Blog in den kommenden Tagen folgender, durchaus provokant gemeinter Fragen annehmen:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

II. Entmachten sich die Mitgliedsstaaten selbst, wenn sie den Vertrag unterzeichnen?

III. Droht mit dem Lissabon-Vertrag die Verwässerung deutscher Rechtsstandards?

IV. Stärkt der Lissabon-Vertrag die EU wirklich als Global Player?

V. Bringt der Lissabon-Vertrag wirklich mehr Demokratie?

Widerspruch ist willkommen.

Wir beginnen mit der ersten Frage:

I. Welche sind die grundlegenden Änderungen, die der Lissabon-Vertrag bringt?

Fangen wir mit den Veränderungen an, die der Lissabon-Vertrag an der demokratischen Architektur des Kontinents bewirkt. In zwei Sätzen lautet sie: Die horizontale Demokratie in Europa, also diejenigen zwischen den 27 Staaten, wird gestärkt. Die vertikale Demokratie, also die vom Bürger zur gesetzgebenden Instanz, wird geschwächt.

Im Europäischen Rat, also dort, wie die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister zusammenkommen, um verbindliche Beschlüsse für die EU zu fassen, soll künftig auch in Bereichen, die in Grundrechte eingreifen, mit Mehrheit entschieden werden. Bisher war die europäische Fortentwicklung in diesem Bereich auf Einstimmigkeit angelegt. Künftig aber kann eine Mehrheit von Staaten (die auch 65 Prozent der Einwohner Europas stellen müssen), verbindliche Entscheidungen treffen.

Denkbar ist daher, dass einzelne Länder in Bereichen überstimmt werden, die traditionell zu den Kernkompetenzen der Nationalstaaten gehörten. Namentlich in der Justiz- und Innenpolitik. Zwar neigt Brüssel traditionell zu einvernehmlichen Lösungen. Aber im Konfliktfall ist es denkbar, dass künftig fremde Staaten darüber entscheiden, ob der eigene Staat ein weiteres Stück Souveränität abgibt.

Möglicherweise bringt dieses Verfahren gerade für Deutschland mehr Nutzen als Schaden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das größte Gründungsland der EU überstimmt wird, ist gering. Gleichwohl setzt der Lissabon-Vertrag ein staatspolitischen Experiment in Gang, das historisch beispiellos ist.

Er sieht vor, dass die EU Staaten sich gegenüber einander so verhalten wie ein Demos, eine Bürgerschaft von Staaten. In dieser kann es ebenso Gewinner wie Verlierer geben.

Zwar versucht der Vertrag, diesen Effekt zu mildern, indem es jedem Staat bestimmte Einspruchsrechte gegen die neuen Verfahren an die Hand gibt. Über diese werden wir noch mehr erfahren. Doch diese Notbremsen reichen nicht aus, um Beschlüsse, die eine Ratsmehrheit unbedingt durchsetzen möchte, tatsächlich zu stoppen.

Mit dem Lissaboner Vertrag wird deutlicher, was die EU eigentlich ist, ja, vielleicht sein muss, wenn sie sich in der Welt beweisen will: Eine Demokratiendemokratie, eine Gouvermentaldemokratie oder schlicht: eine Polikratie, eine Herrschaft der Staaten.

Eine kleine und wichtig Einschränkung allerdings (die oft unterschlagen wird) gleich vorweg: Das Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat tritt erst ab 2014 in Kraft – eine Folge polnischer Obstruktion während der Schlussphase der Verhandlungen. Die wichtigsten Auswirkungen des Lissabon-Vertrags werden also noch eine ganze Weile auf sich warten lassen. Wir tun in den nächsten Tagen aber einfach einmal so, als würde alles schon morgen passiert. Sonst wird’s wirklich viel zu kompliziert…

 

Blackbox Brüssel

Die Bundesregierung möchte an diesem Freitag wichtige Vorschriften des Strafprozessrechts ändern. Sie sagt der Öffentlichkeit allerdings nicht, welche genau. Denn die Änderungen sollen über die Bande des Brüsseler EU-Rats nach Deutschland gespielt werden. Und da gelten leider andere Transparenzregeln als im Bundestag. Zum Beispiel die, dass die Angelegenheit vorerst nicht für die Presse bestimmt ist.

Darum geht es: Der Europäischen Haftbefehl erleichert bereits heute die Auslieferung Verdächtiger bei bestimmten schweren Straftaten innerhalb der EU. Allerdings sind noch ein paar Verfahrensregeln offen. Diejenige zum Beispiel, wie die 27 Mitgliedsstaaten mit Strafurteilen umgehen wollen, die in dem einen oder anderen Land in Abwesenheit des Angeklagten ergangen sind.

Zwar werden schon seit dem Rat von Tampere 1999 innerhalb Europas Geldstrafen und Gerichtsbeschlüsse wechselseitig anerkannt. Doch das Strafprozessrecht, eine hochgradig grundrechtsrelevante Materie, ist in den EU-Mitgliedsländern noch immer höchst unterschiedlich ausgestaltet. Von der unterscheidlichen Integrität der Justizapparate ganz zu schweigen. Gleichwohl soll auch hier „harmonisiert“ werden, wie es im EU-Sprech heißt. Leider heißt das in der Praxis bisweilen, dass die europäischen Regierungen nur so tun, als herrschten überall vergleichbare Standards.

Möchten wir wirklich, dass in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirkte Strafurteile in Deutschland anerkannt werden, selbst wenn der Angeklagte (vielleicht ja mal ein deutscher Staatsbürger) gar nicht im Prozess anwesend war? Möchte das die Bundesregierung?

Offenbar. Denn laut Auskunft aus der EU-Kommission hat sie zusammen mit unter anderem Frankreich und Großbritannien die Initiative zu in absentia-Urteilen in den Europäischen Rat eingebracht.

Es droht eine Aufweichung deutscher Prozessrechtsgarantien durch die Hintertür.

In Deutschland ist ein Prozess gegen einen abwesenden Angeklagten nur in eng umrissenen Ausnahmefällen möglich (der Grundsatz der deutschen Strafprozessordnung lautet: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.“, § 230 Abs. 1). Unbedingte Freiheitsstrafen in Abwesenheit zu verhängen, ist in Deutschland gänzlich undenkbar. Abwesenheitsurteile, die im Ausland ergangen sind, werden in Deutschland bisher ebenfalls nur in seltenen Ausnahmefällen und nach intensiver Einzelfallprüfung anerkannt; zum Beispiel dann, wenn ein Angeklagter nach einem Geständnis vor der Gerichtsverhandlung geflohen ist.

Nun aber sollen nach der Vorstellung der slowenischen Ratspräsidentschaft Abwesenheitsurteile in allen Mitgliedsstaaten vollstreckbar werden. Im Vorschlag der slowenischen Ratspräsidentschaft heißt es:

Once adopted, the Framework Decision will overcome legal uncertainty over the mutual recognition of judgments rendered in the absence of the person concerned (in absentia). In addition to new information obligations, the text will establish that member states should recognise judgments rendered in the absence of the person concerned where he or she has been given a right to a retrial.

Mit anderen Worten: Solange der Angeklagte die Möglichkeit hat, später in Berufung zu gehen, sollen Abwesenheitsurteile gegen ihn erlaubt sein. – Dies wäre für deutsche Staatsbürger ein eklatanter Rückschritt im Rechtsschutz.

Welche Legislativvorschläge die Bundesregierung nun genau in die Ratssitzung am Freitag einbringen will, ist trotz dreifacher Nachfrage beim Bundesjustizministerium nicht zu erfahren.

Ein dortiger Pressesprecher gibt lediglich die Auskunft, die Bundesregierung strebe eine „Stärkung der Bürgerrechte“ an. Wie die Bürgerrechte allerdings stärker geschützt werden können als die durch bisherige Praxis der Einzelfallprüfung, kann der Sprecher nicht erläutern. Er bittet, die Pressekonferenz nach der Ratstagung abzuwarten.

Auf den Einwand, es sei aber wichtig zu wissen, was die Bundesregierung plane, bevor diese Ideen im Rat abgesegnet werden, entgegnet der Sprecher, das könne er verstehen. Helfen könne er aber nicht.

Verglichen mit Deutschland wäre das ungefähr so, als würde eine der großen Fraktionen im Bundestag der Öffentlichkeit den Inhalt eines Gesetzes vorenthalten, über welches das Parlament noch in dieser Woche abstimmen will. Mit anderen Worten: undenkbar. Die Auswirkungen des in Rede stehenden Brüsseler Verfahrens sind aber fast diesselben wie nationale Gesetzgebung. Denn wenn der Rat dem Rahmenbeschluss zu den Abwesenheitsurteilen zustimmt, dann müssen dessen Anweisungen in nationales Recht gegossen werden – egal ob der Bundestag dies möchte oder nicht.

Die Öffentlichkeit hatte damit nicht die Möglichkeit, potentiell einschneidende Veränderungen im deutschen Strafprozessrecht kritisch zu diskutieren.

Der Sprecher des Ministerium sagt, er verstehe, dass die Lage aus Sicht eines Journalisten „jetzt unbefriedigend“ sein müsse. Aber das führe dann zu einer „Grundsatzdiskussion“ über europäische Rechtssetzung.

Das tut sie in der Tat. Denn solche Mauschelmethoden sind Mitschuld daran, dass die Gesetzgebung aus Brüssel in den Ruf geraten ist, unter dem Radarschirm der Öffentlichkeit durchgedrückt zu werden. Falls der Lissabon-Vertrag, die ehemalige „Europäische Verfassung“, am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich.

Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit dann freilich auch weiterhin. „Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, uns von lieb gewordenen Rechtsstandards zu verabschieden“, sagt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro.

Müssen wir das? Was wäre eigentlich im deutschen Blätterwald los, wenn ein Bundesminister einen solch deutlichen Satz von sich geben würde?

 

Happy Lobby

Die Raucherlobby, denkt man, sollte eigentlich schlecht gelaunt sein. Europa gilt mittlerweile schließlich als fast geschlossener rauchfreier Raum. (Im multilingualen EU-Gastgeberland Belgien gemahnen die Zigarettenpackungen übrigens besonders eindringlich an die zersetzende Wirkung des Nikotingenusses. Sie sind hier mit Warnhinweisen auf drei Sprachen, Französisch, Niederländisch und Deutsch bedruckt, plus Horrorfotos aus Krankenzimmern und abgekühlten Ehebetten.)

Und doch gehörten die drei Vertreter von British American Tobacco, die mir neulich bei einem Empfang die Hand schüttelten, zu den fröhlichsten, zukunftsverliebsten Menschen, die ich seit langem gesehen habe.

“Schlecht gelaunt? Nein, warum?”, fragt der eine von ihnen. Die Geschäfte liefen prächtig.
Ja, ach, Europa, schmunzeln die Marlboro-Männer. Halb so wild. Entscheidend sei, dass immer mehr Chinesen auf den Geschmack der Freiheit kommen. Die globale Entwicklung verlaufe überaus positiv.

Weltweit, sagt der zweite der Lobbyisten, rauchten derzeit etwa 1,2 Menschen. Vor fünf Jahren seien es noch 1,05 Milliarden gewesen. Also, warum sich grämen?

Höchstens deswegen, sagt der Dritte: Der größte Tabakhersteller der Welt sei immer noch der chinesische Staatskonzern.

Aber British American Tobbaco, nicken alle drei, sei sehr zuversichtlich, man finde dort schon noch sein Marktplätzchen.

 

Muslime sind die besseren Katholiken – sagen sie in Dublin

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Lange ist es noch nicht her, da witzelte manch ein Ire, mit muslimischen Einwanderern habe man auf der Insel keine Probleme – solange sie bloß katholische Muslime seien und keine protestantischen. Mittlerweile hat man sich besser kennen gelernt. Und der Witz ist gar keiner mehr.

Schätzungsweise 32 500 Muslime leben heute in Irland, viele von ihnen sind Flüchtlinge aus dem Irak. Damit stellen sie nach den Anhängern der Römisch-katholischen Kirche und der Church of Ireland die drittgrößte Glaubensgruppe im Land. Presbyterianer und Methodisten sind auf den vierten Platz verdrängt – was auf überzeugte Papisten schon erfrischend wirken kann.
Regelrecht überschwänglich aber schreibt nun der Religionsreporter der Irish Times, dass der muslimische Glaube als er eine der abrahamitischen Religionen „in einigen Bereichen den [katholischen] Hauptrichtungskirchen recht ähnlich“ sei. So habe der Imam des Islamischen Kulturzentrums von Dublin erklärt, Verhütungsmittel seien nur zulässig, um Kinder zu planen und „die Gesundheit der Frau“ zu schützen. Abtreibung sei nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr sei. Zudem sei der Islam „absolut gegen Homosexualität, gleichgeschlechtliche Ehen und Sex vor der Ehe.“

Vereint zu sein in Rückständigkeit – glücklicher Weise begreifen das nicht alle Iren als Integrationsfortschritt. Aber immerhin, gemeinsame moralische Fundamente mögen eine gute Grundlage sein, sich gemeinsam vorwärts zu bewegen. Die irische Regierung ist sich mit den muslimischen Verbänden nämlich einig, dass der gegenseitige religiöse Respekt auch die soziale Anerkennung fördert. „Anderswo“, sagt der Dubliner Imam Hussein Halawa, „werden muslimische Asylbewerber in Lager gesteckt. Hier bekommen sie Bildungschancen.“

 

Die zweite Entdeckung Amerikas

Eigentlich ist Südamerika für die Europäer ja kein ganz neuer Kontinent. Das geeinte Europa selbst aber macht sich jetzt erst, fünfhundert Jahre nach der Conquista, auf, Lateinamerika zu entdecken.

Soeben trafen die 27 Staatschef der EU in Lima die Präsidenten Lateinamerikas, um über gemeinsame Zukunftsaufgaben zu sprechen. Aus Sicht der Europäischen Union spielt Südamerika auf der Weltbühne mittlerweile die Rolle eines immer ernster zu nehmenden Heranwachsenden. Einer, mit dem es sich aus mehreren Gründen lohnt, engere Beziehungen aufzubauen.

Da ist zum einen das, was Südamerika nicht mehr ist: ein mit Dikaturen gespickter Erdteil.

Waren in den 70er Jahren fast noch überall autoritäre Regime an der Macht, herrschen mittlerweile in beinahe allen lateinamerikanischen Staaten – Kuba ausgenommen – demokratisch legitimierte Regierungen.

Und da ist das, was Südamerika noch nicht ist: ein stabiler, verlässlicher Partner in der Weltpolitik. Von den 550 Millionen Einwohnern leben mehr als 200 Millionen unter der Armutsgrenze. 80 Millionen leiden gar Hunger. Die soziale und wirtschaftliche Kluft macht viele Menschen anfällig für populistische Linkspolitiker, mit denen eine konstruktive Außenpolitik kaum möglich erscheint. In Bolivien und Venezuala herrschen mit Evo Morales und Hugo Chavez sozialistische Heißsporne, Kolumbien und Ecuador sind innenpolitisch zerrissen und fragil.

Die Strategie der EU der lautet, mit der Bekämpfung von Armut zugleich sich selbst zu helfen. Denn ebenso wie Lateinamerika weiteren Wirtschaftsaufschwung und “good governance” braucht, braucht Europa den Kontinent als Absatzmarkt – und für den Klimaschutz, wie Brüsseler Diplomaten gerne etwas lauter ankündigen. „Zusammen“, zählt der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, in der FAZ auf, „verfügen Europa, Lateinamerika und die Karibik-Staaten über eine Milliarde Menschen, ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts, sie zählen 60 Staaten, besetzen zurzeit sieben Sitze im Sicherheitsrat und ein Drittel der Stimmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel nutzte den Gipfel in Peru, um zusätzlich Brasilien, Kolumbien und Mexiko zu besuchen,
begleitet von einer elfköpfigen Wirtschaftsdelegation. Die Bundesregierung hatte darauf gehofft, dass zwischen der EU und der südamerikanischen Freihandelszone MERCOSUR ein Assoziierungsabkommen zustande kommt – noch immer aber stocken die Verhandlungen, „auch weil die EU ihrer moralischen Verplichtung nicht nachkommt, den Agrarprotektionismus abzuschwächen“, so Martin Schulz.

“Während die Mitglieder des MERCOSUR einen besseren Zugang zum abgeschotteten EU-Markt für Agrarprodukte anstreben, erhoffen sich europäische Unternehmen Erleichterungen für Investitionen und bei der Vergabe von Staatsaufträgen”, heißt es im – durchaus lesenswerten – Strategiepapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Lateinamerika.

Angela Merkel hat ihre ersten starken Eindrücke von Lateinamerika schon vor Beginn der Reise empfangen, die sie vom 13. bis zum 20. Mai auf den Subkontinent führt: Venezuelas Staatschef Hugo Chavez rückte die Bundeskanzlerin rhetorisch in die Nachbarschaft des Nationalsozialismus, als Erbin einer politischen Rechten, »die Hitler und den Faschismus unterstützt hat«.

Trotz solcher präpotenten Potentaten will Europa in Südamerika aufs Gas drücken. Denn vor allem China macht als Handelspartner Konkurrenz – durch den massenhaften Import von südamerikanischen Rohstoffen und den Export von Technik.

“Die EU, mit 20 Prozent Anteil die weltgrößte Handelsmacht, wickelt hingegen mit Lateinamerika weniger als 5 Prozent ihres gesamten Außenhandels ab”, klagt die CDU. Höchste Zeit also, den Kontinent ein zweites Mal zu entdecken.

 

Hektik in Helsinki

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Neun Jahre, fürchten die Finnen, sind schneller vorbei als man denkt. Es sei, sagt die Regierung, höchste Zeit, einen Planungsstab für das 100-jährige Bestehen des Staates einzusetzen. Das feiern die Finnen 2017. Vor genau 91 Jahren nämlich löste sich das ehemalige russische Großherzogtum aus dem Zarenreich des großen östlichen Nachbarn heraus.

Da nun die Winter in Finnland lang und seine Bewohner eher häusliche Typen sind, halten die Finnen ein großes Gebäude für ein geeignetes Jubiläumsgeschenk. Daher die Hektik im Helsinkier Regierungsviertel. Bald schon will der Premierminister ein „Suomi 100“-Komitee präsentieren, dessen Mitglieder entscheiden müssen, welche die bessere Partygabe wäre:

Eine Nationalbibliothek oder ein neues Nationalmuseum.

Das mag für mitteleuropäische Ohren zunächst recht sachlich klingen. Doch von beidem, da sind sich die Finnen einig, könnten sie je ein neues Exemplar gebrauchen.

Ein moderner Büchereikomplex, findet der Bürgermeister von Helsinki, Jussi Pajunen (sprich: Pajunen), würde als begehbarer Beweis des vorbildlichen Bildungswesens Finnlands dienen, ja, es strahlte gar als steingewordenes Selbstwertgefühl des PISA-Gewinners und Technik-Vorreiters hinaus in die Welt.

Andere sagen, das bisherige Nationalmuseum sei zu verstaubt und folkloristisch. Es glaube doch kein Mensch, respektive Handybesitzer mehr, dass Finnland historisch vor allem Stockfisch, Lappenmützen und Schnitzkunst zu bieten habe. Der Architekt Olli Lehtovuori (sprich: Lehtovuori) schlägt deshalb vor, die Finnen sollten sich ein modernes Gedenkhaus nach Art des „Deutschen Historischen Museums“ zulegen. Für die Deutschen schließlich sei die Institution im Berliner Zeughaus eine wertvolle nationale „Erinnerungs-Bank“ geworden.

Dem Finnland-Besucher aus Deutschland kommt allerdings noch eine andere Idee. Die Finnen sollten sich zum 100sten Geburtstag vielleicht vor allem einmal eine Futurform leisten. Die kennt die finnische Sprache nämlich nicht. Das ist erstens für eine Zukunftsgesellschaft wie die ihre kein Zustand. Und zweitens könnten sich die Finnen in Zukunft womöglich schneller über die Zukunft unterhalten.

 

Europas versteinerter Skandal

Für den automatischen Anhang, der neuerdings an vielen Mails von Brüsseler Funktionären dranhängt, gibt es noch keinen rechten Namen. Nennen wir ihn einfach einmal Gewissenszwicker. Der Gewissenszwicker kommt in verschiedenen Formen daher, aber immer mit demselben Erziehungsziel. Ein typisches Beispiel rundete neulich die Mail eines Europaparlamentariers ab. Unter der Grußformel stand geschrieben:

Sparen Sie Energie. Schalten Sie Ihren Computer aus, wenn Sie abends das Büro verlassen.

Und:

Bitte drucken Sie diese E-Mail nur aus, wenn es absolut notwendig ist.

Ich überlegte einen Moment. Dann klickte ich sehr entschlossen auf die „Druck“-Taste.
Es ist nämlich absolut notwendig, darauf hinzuweisen, dass es heuchlerischer kaum noch geht. Eben jene Mail kam aus Straßburg. Und über Straßburg muss man wissen, dass es einen ebenso luxuriösen wie überflüssigen Zweitwohnsitz für das Europäische Parlament beherbergt. Alle drei Wochen packen die 785 Abgeordneten in Brüssel ihre Koffer und zuckeln samt Mitarbeitern, Dolmetschern und Sekretariat 430 Kilometer ins Elsaß. Eine Kolonne von Lastwagen bringt jedem von ihnen einen Stahlkasten mit Akten hinterher, die stets vor den Abgeordnetenzimmern bereitstehen (siehe unser Foto). Dieser Wanderzirkus soll, so die Erzählung, das Zusammenwachsen Europas fördern.

Das ist natürlich völliger Mumpitz.

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In Wahrheit möchten die Franzosen schlicht nicht auf die Parlamentarier- und Lobbyistenhorden verzichten, die in schöner Regelmäßigkeit die Kassen der Wirtsleute, Hoteliers und Taxifahrer füllen. Was dieser Wahnwitz die Steuerzahler kostet, weiß niemand so genau, aber es gibt Schätzungen, die von 200 Millionen Euro Umzugskosten pro Jahr ausgehen.

Und wissen Sie was?
Im Brüsseler Parlamentsbau brennt natürlich trotzdem die ganze Zeit das Licht.

Fragt man EP-Abgeordnete, warum sie daran nichts ändern, antworten sie, dass die beiden Standorte des Parlaments von Verträgen festgelegt worden sind, die nicht das Parlament zu verantworten hatte. Und das stimmt auch. Die nationalen Regierungen haben die entsprechenden Absprachen getroffen, und vor allem Frankreich wehrt sich gegen jede Änderung des Status quo.

Allerdings steht kein anderes EU-Organ so in der Verantwortung steht wie das EP, diesen Zustand zu ändern. Zwar gibt es immer wieder einzelne Abgeordnete, die gegen den Wanderzirkus protestieren, zum Beispiel diejenigen, die sich in der Kampagne für eine Parlamentsreform zusammengefunden haben. Sie haben sogar eine Reihe von Vorschlägen formuliert, wie Frankreich und Straßburg für den Verlust des Parlaments entschädigt werden könnte.*

Warum aber unterstützen gerade einmal hundert Abgeordnete diese Kampagne, also nicht einmal ein Siebtel von ihnen? Wo bleibt ein Mehrheitsbeschluss des Parlaments, der ein klares Signal an die Mitgliedsländer aussenden würde? Welche Partei hat das Straßburg-Hin-und-Her je zu einem Wahlkampfthema gemacht? Warum setzt das Parlament das Thema nicht gerade jetzt, da Nicolas Sarkozy die Ratspräsidentschaft übernimmt, lautstark auf seine Agenda?

Die Straßburg-Woche ist mittlerweile ein versteinerter Skandal. Höchste Zeit also, den Abgeordneten mit einem eigenen Gewissenszwicker zu antworten:

Sparen Sie Strom, Sprit und Steuergeld. Schalten Sie eines Ihrer Parlamente aus, wenn Sie es das nächste Mal verlassen.

* Hier die Forderungen der Gruppe im Original:


THE EUROPEAN PARLIAMENT BASED FULL-TIME IN BRUSSELS!
BUT WITH A POLITICAL FUTURE FOR STRASBOURG!

THE PROBLEM

The European Parliament (EP) is the only parliament in the world that has more than one official seat. It is divided between Strasbourg, Luxembourg and Brussels with Strasbourg as its official meeting place. Unfortunately, the EP is also the only parliament in the world that does not have the right to decide upon the location of its seat. This right is exclusively reserved for European Heads of State and Government who can only revise their decision by unanimity. This means that the French would have to vote against Strasbourg themselves – which is so far a utopia.

THE CONSEQUENCES IN PRACTISE

Twelve times a year, the parliamentary ‚caravan‘ has to leave Brussels – its actual workplace where the deputies work three times as many days – to go to its official seat in Strasbourg. Every month, 785 MEPs, their assistants and a large part of the administration move – along with six trailers full of paperwork. The costs for the twelve relocations per year and the maintenance of buildings in Strasbourg during a whole year amount to 250 million euros. During one legislature, this represents 1.25 billion euros.

In terms of C02 emissions, the trips to Strasbourg are absurd. Every year, they create 18.900 tonnes of CO2 emissions – the equivalent of 13.000 transatlantic flights.

THE SOLUTION…

In 2006 and 2007, more than a million Europeans have signed the online petition www.oneseat.eu which calls for a single seat for the European Parliament. However, the European Commission and the Council of Ministers have so far blocked this unprecedented pan-European initiative, referring to the previous decision in favour of Strasbourg.

As initiators and supporters of the campaign for a single seat, we have great expectations of the new President of the Republic of France, Nicolas Sarkozy, who, during the first months of his presidency has demonstrated his capacity to cut ties with older and obsolete traditions.
It is clear that a future „absence“ of the European Parliament in Strasbourg will require finding a solid alternative. In this perspective, we present some innovative ideas.

1. „SCIENCEBOURG“ – STRASBOURG AS THE EUROPEAN CAPITAL OF SCIENCE

In autumn 2007, the European Union decided to found the EUROPEAN INSTITUTE OF TECHNOLOGY (EIT); the headquarter’s seat of the Institute will be decided over the next 18 months. Given the already existing strong, cutting edge research structures in Member States, the EIT will not be a centralized institution comparable to the American MIT, but an overarching structure. It will connect national networks amongst each other and with the economy.

Similarly, without an official seat although already in use, the EUROPEAN RESEARCH COUNCIL (ERC) primarily coordinates fundamental research within the EU. Its innovative work that began in 2007 with the 7th Framework Program consists of investing billions of euros dedicated to research for viable projects. The synergies coinciding with the goals of EIT are considerable.

THE EIT AND ERC CENTRES IN STRASBOURG will encourage competition on a global scale in research and teaching. It will further coordinate European research and tackle the brain drain; furthermore, European innovative and academic excellence will have a new and solid frame of reference.

This new knowledge infrastructure in Strasbourg would be the ideal seat for the EUROPEAN PATENT COURT. Arbitrating over the raw materials of innovation with close proximity to Research centres and alongside the European Court of Human Rights would be very clever. The European Patent Office, situated in Munich is not dependent upon the location of the Court, as it is separated from the EU institutional structure. The German Justice Minister also supports the establishment of an autonomous European Patent Court.

Another perspective: there are draft plans for a EUROPEAN UNIVERSITY OF SOCIAL SCIENCES AND HUMANITIES. At Strasbourg, it could be based upon the traditional symbolism of a Union of peoples at the heart of Europe; furthermore, it would be a subtle complement to the natural sciences privileged by the EIT and the ERC. Such a University would bring students from across Europe to Strasbourg and would ultimately be the most far-reaching project for the future of „Sciencebourg“.

2. STRASBOURG – AT THE CUTTING EDGE OF EUROPEAN POLITICS

The quarterly EUROPEAN SUMMITS that currently take place in Brussels would – once they are held in Strasbourg – bring at least as much or probably even more prestige and benefits than the monthly plenary sessions of the Parliament. The meetings of Heads of States and Government attract the international press like a magnet and this would emphasise the symbolic character of the city. European Summits far away from day-to-day political life in Brussels in a city that symbolises European unification would create a strong new synonym (such as ‚Davos‘) – especially if the political positioning of the city of Strasbourg was enforced by

… the EUROPEAN CONGRESS. This new format of bi-annual European political summits would include Heads of State and Government, the European Commission, as well as representatives from the European Parliament and from the national parliaments of the Member States. The Congress would meet to discuss the status quo of the European Union and its future. It would develop a political culture acquired during the European Convention, in order to render European Union politics more democratic and open to citizens‘ concerns.

3. „STRASBOURG DC“

In order to develop a real European Common Foreign and Security Policy, and to get to know each other, building confidence between the national diplomatic services will be crucial. This is why the EP buildings in Strasbourg can have a ‚reinvigorated‘ function as a TRAINING CENTRE FOR DIPLOMATIC SERVICES. For a period of 6 months, the training of all diplomats from the 27 Member States should take place there. The offices of MEPs, which have private bathrooms could be used to accommodate the students while meeting rooms will be transformed into classrooms. In this way, the EP premises would be used to full capacity.

4. OPERATIONAL AND COORDINATION CENTRE OF EUROPEAN ENERGY

European energy issues are demanding more and more long-term cross-border solutions. As the European Agency for Nuclear Energy already has its seat in France, a further energy centre in Strasbourg would be a logical next step. Ludmila Petránová, the former Director of the Czech Electrical Network Agency had already made a similar proposition during a public hearing on European Energy Policy at the European Parliament on 27 February 2007.

5. THE EUROPEAN COURT OF JUSTICE

With the European Court of Human Rights already having its seat in Strasbourg, the European Court of Justice could also be established there. Strasbourg would therefore become a European Centre for Justice. Luxembourg, where the Court currently has its seat and which also hosts the administrative headquarters of the Parliament and the European Investment Bank would thus lose an institution. This loss, however, is defensible under the common judicial tradition that would develop in Strasbourg and whose effects would be considerable.

In theory, the same argument could be made to defend moving the EUROPEAN INVESTMENT BANK to Strasbourg. However, it would be weakened by the absence of a financial tradition in Strasbourg.

We call on President Sarkozy to take on board one of these innovative ideas and to release the European Parliament from the limitations that history has imposed upon it.
We call on Chancellor Angela Merkel and her Council colleagues to support France in this ‚renaissance‘ effort for the city of Strasbourg.
While the Lisbon Treaty put the future of Europe back on course, Strasbourg – which for many Europeans had become the symbol of a vested acquisition – should have the opportunity to become a symbol of new collaboration.

 

„Klare Botschaft“ an Peking

Interessant: Da leitet Peking eine diplomatische Zeitenwende ein, womöglich als Erfolg gesamteuropäischen Verhandlungsgeschicks – und was macht Brüssel?

Es übt sich in geradezu buddhistischer Bescheidenheit.

Natürlich, heißt es aus der Kommission, könne die EU den Erfolg des chinesischen Einlenkens gegenüber dem Dalai Lama nicht allein für sich verbuchen; vergangene Woche hatte sich die Regierung bereit erklärt, mit einem Vertreter des geistigen Oberhaupts Tibets zu sprechen.
Ja, nun ja, aber, lässt sich die EU-Zentrale vernehmen, natürlich pflegten die großen Mitgliedsländer Deutschland, Frankreich und Großbritannien jeweils auf ihre Arten den Dialog mit China. Und jeweils auf ihre Art hätten sie zum guten Gelingen beigetragen.

Dass die EU einen gewissen Anteil am Erfolg hatte, steht allerdings außer Zweifel – und sei es nur als Postadresse.

Bereits am 16. April nämlich erhielt der derzeitige slowenische Ratspräsident Janez Jansa in Brüssel einen Brief aus Peking. Darin, so teilte er erst jetzt mit, habe ihm der chinesische Premierminister „ausdrücklich seine Bereitschaft“ signalisiert, mit einem Vertreter des Dalai Lama ins Gespräch zu kommen.

Wessen Verdienst dies nun genau war, darüber rätseln allerdings auch die Slowenen. „Wohl eher das der internationalen Gemeinschaft“, antwortet ein slowenischer Diplomat in Brüssel eher fragend als selbstbewusst. Mit der chinesischen Regierung sei immerhin vereinbart worden, die Neuigkeit bis zum Gipfeltreffen von Wen Jiaboa mit José Manuel Barroso in der vergangenen Woche geheim zu halten. Die beiden sollte sie feierlich verkünden können.

Als spontane Reaktion auf den Barroso-Besuch kam der Erfolg also nicht – auch wenn der Kommissionspräsident, wie aus seiner Umgebung zu hören ist, durchaus Klartext mit dem chinesischen Premier geredet habe.
Im Zweiergespräch mit Wen habe er betont, dass Europa China als Partner in einer Reihe von globalen Fragen brauche; beim Klimaschutz, bei der Energiesicherheit und bei der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Barroso habe aber auch die „klare Botschaft“ überbracht, dass die EU mit der Lage in Tibet und der Achtung der Menschenrechte in China nicht einverstanden sei. So müssten Journalisten künftig ungehindert aus Tibet berichten können.

Barroso kam mit einer alten Haltung und mit einer neuen Mahnung. Die eingespielte Haltung der EU gegenüber China lautet: Isolation ist keine Option. Zu augenfällig sind dafür die Zukunftschancen zwischen der konsolidierten und der kommenden Wirtschaftsweltmacht, zu ausgeprägt längst die Verflechtung. China ist eben nicht nur der größte CO2-Produzent der Welt, sondern hinter den USA auch der größte Handelspartner der EU. Seine Ressourcen sichert es sich unter anderem in Regionen, in denen die Europa – wenngleich periphere – Sicherheitsinteressen ausgemacht hat, zum Beispiel im Sudan.

Die innovative Mahnung aus Brüssel indes lautete: Kritik ist kein feindlicher Akt. Barroso, berichtet ein EU-Diplomat, der die Verhandlungen in Peking begleitet hat, habe Wen gesagt, europäische Regierungen würden die ganze Zeit kritisiert. Was sei daran so schlimm? Kritik sei nicht als Beleidigung, sondern als Möglichkeit zu betrachten, die Dinge in Zukunft zu verbessern. Dieser „praktische Ansatz“ Barrosos sei von den Chinesen durchaus geschätzt worden, heißt es. Der Druck, die Olympischen Spiele zu einem Erfolg werden zu lassen, laste spürbar auf ihnen.

„Die Chinesen“, sagt ein Mitglied der EU-Reisedelegation, „wissen, dass sie in der Tibetfrage so nicht weitermachen können bis August.“

Vielleicht kam im Falle des Kommissionspräsidenten aber auch die besondere Eigenschaft der Brüsseler Meta-Diplomatie hinzu, die darin besteht, für Viele und für Keinen zugleich zu sprechen.

Der Kommissionspräsident ist der Kopf einer supranationalen Behörde. Von Natur aus hat er viel mehr Verknüpfung als Verhandlung zu bieten. Aus Sicht der Chinesen also dürfte das Kooperationspotenzial des Brüsseler Abgesandten maximal, sein Demütigungspotential minimal sein. Um Barrosos Teilnahme an der Eröffnungsfeier der Spiele beispielsweise kümmert sich die Weltöffentlichkeit kaum (er habe ohnehin nie vorgehabt, im Stadion zu sitzen, sagen seine Mitarbeiter). Die Debatte hingegen, ob Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der im Juli der EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, oder Angela Merkel und Gordon Brown nach Peking reisen oder nicht, sorgt seit Wochen für Schlagzeilen.

Was lehrt das? Dass Gäste aus Brüssel in Peking willkommene, weil nur semipolitische Handelsvertreter sind. Der EU Zugeständnisse zu machen, kommt selbst den Neo-Comms deshalb vergleichsweise günstig.