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Der Anfang vom Ende

Was hätte aus der Europäischen Union nicht noch werden können. Die Erfüllung von Kants Ewigem Frieden auf Erden. Eine Fackel der Vernunft und der Menschlichkeit in einer wölfischen, hobbesianischen Restwelt. Über ein halbes Jahrhundert glaubten wir uns auf einem guten Weg, schien manchem dieses Europa schon ein Beispiel für die erfolgreiche Selbstzähmung des Menschengeschlechts.

Und plötzlich soll das alles vorbei sein.

Die EU könne sich den „Fakten des modernen Lebens“ nicht verschließen, rechtfertigte sich die Brüsseler Medienkommissarin Viviane Reding. Deswegen soll (ja müsse, quasi) künftig in Flugzeugen jeder sein Handy benutzen dürfen. Vermittels einer im Flugzeug eingebauten Antenne können wir demnächst zwischen Bordmenü und Spielfilm alle munter gen Erde quasseln, simsen, surfen.

Ob sich Europa den Fakten des modernen Lebens tatsächlich nicht verschließen kann, sei jetzt einmal dahingestellt. Was es jedenfalls nicht muss, ist, schlechtes Benehmen als unvermeidbare Nebenwirkung der postindustriellen Informationsgesellschaft zuzulassen.

Wir Europäer haben in den vergangenen sechzig Jahren gelernt, Kriege sein zu lassen, mit dem Rauchen aufzuhören, CO2 zu sparen und uns auch sonst wie einigermaßen erwachsene Menschen zu benehmen. Im Interesse eines weiterhin gedeihlichen Miteinanders sollte es den Bürgern dieses Kontinents da zuzumuten sein, auf andere ähnlich überflüssige Störungen unserer Umwelt ebenso zu verzichten. „HALLO? IM FLUGZEUG! JA! IM FLUUUGZEUG!“ – Sind das die Notwendigkeiten der Moderne, die Frau Reding meint?

Über den Wolken fängt es an. Was erlauben sich (und uns) diese Brüsseler Bürokraten als nächstes? Noch billigere Ferienflieger? Noch billigere Handygespräche? Herr im Himmel! Es ist diese Art von Normenerosion, die schon ganz andere Imperien zu Fall gebracht hat.

 

„Endlich Freiheit”

Zum Abschied gab’s Applaus von den versammelten Journalisten im Theatersaal des Bukarester Parlamentspalastes. Ja, ein bisschen professionelle Wehmut schien diesem Präsidenten fast hinterher zu wehen, als er von der Bühne abtrat. Schließlich war Wladimir Putin während seiner zehnjährigen Amtszeit immer für eine dramatische Schlagzeile gut.

Nur heute nicht.

Wladimir Putin gab bei seinem letzten großen Auftritt vor der Weltpresse ganz den Versöhner. “Es gibt keine ethischen Trennlinien in Europa”, sagte der russische Präsident, der Anfang Mai sein Amt an den Nachfolger Dimitri Medwedew übergibt. “Wirklich nichts, was uns trennt.”

Das vielleicht am häufigsten gebrauchte Wort in seiner Rede lautete “Partner”. Freundlich und konstruktiv habe er mit seinen “Partnern” von der Nato geredet. Er freue sich auf das morgige Treffen mit seinen amerikanischen Partnern (George W. Bush wird mit Putin in Sotschi zusammenkommen, um über Großthemen zu sprechen, für die beim Nato-Gipfel keine Zeit war). Er sprach von seinen iranischen “Partnern”, die nun einmal das “legitime Recht auf die Entwicklung ziviler Kernenergie” hätten. Und er stellte klar, dass ohne den Partner Russland auch für die Nato wenig liefe. Sowohl im Kampf gegen Proliferation und Terrorismus wie auch bei der Mission in Afghanistan sei der Westen auf sein Land angewiesen.

“Deswegen kooperieren wir mit der Nato.”

Kein Wutausbruch über die Nato-Perspektive, die das Bündnis der Ukraine und Georgien am Abend zuvor ausgesprochen hatte. Lediglich sein – abstraktes – Mantra gegenüber einer Nato, die noch immer keine klare Zukunftsaufgabe definiert habe, wiederholte der Präsident: „Das Erscheinen eines mächtigen Militärbündnisses an Russlands Grenze würde als direkte Bedrohung betrachtet“, sagte er.

Doch je konkreter Putin wurde, desto diplomatischer erschienen seine Positionen. So zeigte er sich über den gestrigen Beschluss der Allianz, die amerikanischen Pläne für Raketenabwehrstellungen in Osteuropa zu unterstützen, nicht einmal mehr irritiert. Vielmehr sprach er offen von möglichen Kooperationen auch auf diesem Gebiet. Für das Missile Defense-Programm, erklärte der Präsident, müsse als Nächstes einmal eine gemeinsame Bedrohungsanalyse erarbeitet werden. Er stelle sich dabei vor, die Befehlsstrukturen “demokratisch” zu gestalten. So könne das System womöglich aus zwei Hauptquartieren gesteuert werden, “eines in Moskau, eines in Brüssel.”

Kein Wort mehr von der angeblichen Bedrohung, die die Raketenabwehr für Russlands Nuklearpotenzial darstelle. Über die vermeintlich kräfteverzerrende Wirkung des ABM-Systems hatte sich Putin noch bei seinem legendären Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 in einer Weise erzürnt, die manchen Beobachter an einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und der Nato glauben ließ.

Überhaupt, München. Es sei doch alles nicht so ernst zu nehmen gewesen, was er dort gesagt habe, stellte der Kreml-Chef klar.

“In München habe ich auf einer internationalen Konferenz gesprochen, deren Format einen bestimmten, wenn Sie so wollen, polemischen Ton erforderte, und die es mir erlaubte, sehr frei zu reden”, antwortete Putin auf die Frage eines Journalisten, ob er sich hinter den Kulissen des Bukarester Gipfels ähnlich erregt habe wie damals. Neinnein, so Putin, warum denn?

Um allerdings hinzuzufügen:

“Diese (Münchner) Konferenz hat uns vorangebracht.” Russland werde endlich wieder als Global Player ernstgenommen, sollte das heißen.

“Heute sind wir in einer völlig anderen Situation als damals”, so Putin über die Stimmung nach dem Gewitter. Die Stimmung habe sich gewandelt.

Bei aller altersmilder Rhetorik offenbarte Putin dennoch große Empfindlichkeit angesichts des aus seiner Sicht noch immer wachsenden Machtungleichgewichts, das zwischen der Nato und Russland herrsche. Auf die Frage, warum er Angst habe, wenn sich die Nato als Gemeinschaft demokratischer Staaten bis an die Grenzen seines Landes erstrecke, antwortete er ein wenig angespannt:

“Die Nato ist kein Demokratisierungsapparat! Erweiterungen lösen nicht automatisch Probleme.” Litauen etwa sei bis heute kein demokratischer Staat. Dort würden noch immer Tausende von Russen diskriminiert.

Als ungerecht bezeichnete Putin es auch, dass insbesondere die Baltenstaaten die erneuerte Fassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) noch immer nicht ratifiziert haben.

Ziel des KSE-Regimes ist es, das Arsenal bestimmter schwerer Waffen von den ehemaligen Flanken zwischen Nato- und Warschau-Pakt-Gebieten zu verbannen. Die Nato-Staaten lehnen eine Ratifizierung des Abkommens von 1999 seit dem Jahr 2000 ab. Nach Russlands Einmarsch in Tschetschenien fürchteten sie weitere militärische Ausfallschritte gegen abtrünnige Republiken und verlangten deshalb, dass Russland zunächst seine Truppen aus Georgien und Moldawien abzieht. Dieser Stillstand hält bis heute an.

“Wir sind das einzige Land, das den KSE-Vertrag umgesetzt hat”, sagte Putin ein wenig erregt. “Der Westen dagegen verlegt weitere Truppen an unsere Grenzen.” Im Dezember 2007 setzte Moskau den KSE-Vertrag aus. Jetzt, sagte Putin, sei erst einmal der Westen an der Reihe.

Doch mit diesem Konflikt muss sich nun bald Putins Nachfolger herumschlagen. Er sei froh, aus dem Amt zu scheiden, antwortete der Präsident auf die abschließende Frage einer Journalistin. “Ich freue mich, die Bürde des Amtes auf die Schultern meines Nachfolgers zu legen”, bekannte er mit freundlicher Miene. “Das bedeutet für mich nach zehnjähriger Präsidentschaft endlich die langerwartete Freiheit.”

Wenn das einmal für alle Russen gölte.

 

Koloss Demos

Wenn Rumäniens Diktator Nicolai Ceausescu das noch erlebt hätte, er wäre wahrscheinlich gestorben vor Zorn. Von den Säulenwänden seines „Haus des Volkes“ mitten in Bukarest hängen blaue Nato-Banner mit dem Logo des Gipfeltreffens. Riesige Tücher sind es, fast als habe Christo soeben mit der Verpackung des monströsen Gebäudes begonnen. Weithin sichtbar künden sie von der Zusammenkunft der 26 Staats- und Regierungschefs des einstigen Feindbündnisses Nato.

Schwierig, sich eine eindrucksvollere historische Zweckentfremdung eines politischen Monuments vorzustellen.

12 Stockwerke hoch, noch einmal so viele tief und 270 Meter lang, sollte der Volkspalast, ein neoklassischer Marmorgigant, von der Überlegenheit der Sozialismus kündigen. Stattdessen ist er steinernes Zeugnis des real existierenden Größenwahns jenes wohl repressivsten kommunistischen Regimes Europas geblieben. Der Palast sei, gleich nach dem Pentagon, das zweitgrößte Gebäude der Welt, wird desöfteren kolportiert. Das mag stimmen oder auch nicht. In der Liga der zynischen Bauten des Planeten dürfte er jedenfalls einen der vordersten Plätze einnehmen.

Ceaucescu ließ 1984 mit den Bauarbeiten beginnen, während viele Rumänien unter bitterer Armut, winterlicher Kälte und manchmal gar Hunger litten. Einen Mitarbeiterin des rumänischen Außenministeriums, Mitte Dreißig, die half, den Nato-Gipfel vorzubereiten, berichtet aus ihrer Schulzeit in den 80ern: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich im Winter im Klassenzimmer, wenn ich die Tafel wischen sollte, erst einmal die Eisdecke im Wassereimer durchschlagen musste. In dieser Kälte saßen wir den ganzen Tag in der Schule.“

In seine gigantomanische Wärmestube zog der Diktator Ceaucescu niemals ein. Kurz vor der Fertigstellung, im Revolutionsjahr 1989, wurden er und seine beim Volk noch verhasstere Frau nach einem Schnellverfahren exekutiert.

Dafür geben sich in dieser Woche nun gleich zwei Großmacht-Präsidenten eben dort die Klinke in die Hand. Sowohl George W. Bush wie auch Wladimir Putin werden bei dem Treffen im heutigen Bukarester Parlamentspalast ihre sicherheitspolitischen Vermächtnisse hinterlassen – der eine als mächtigster Förderer, der andere als lautester Herausforderer der Nato.

Fast möchte man den Bukarestern dafür danken, dass sie den Palast nicht, wie von einigen 89er-Revolutionären damals gefordert, mit ein paar Tonnen Dynamit pulverisierten, sondern ihn in seinem ganzen Gepränge fertig stellten und später sowohl für ihre Volksvertreter wie für internationale Konferenzen öffneten. Denn für die Gelegenheit dieser Woche, für das Aufeinandertreffen von neokonservativer und neozaristischer Hybris, ließe sich kaum eine sprechendere Kulisse finden. Ob sich Bush und Putin von der Architektur mahnen lassen? Immerhin, der Megabau steht heute eindrucksvoll für die Macht des Demos, der Bevölkerung. Die Umwidmung des Kolosses durch die Rumänen in einen wahren Palast des Volkes macht ihn, neben seinem Charakter als geschichtlichem Mahnmal, zugleich zu einer Trutzburg der Souveränität.

Ob sich dort drin nicht auch die Größten ein wenig kleiner fühlen?

Russlands Vertreter bei der Nato-Tagung wissen offenbar nicht recht, was sie empfinden sollen nach den Beschlüssen, die ihnen das Bündnis ein wenig weiter auf den Leib rücken lässt. Die für Georgien und die Ukraine in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der Nato hält Moskau laut offizieller Stellungnahme für einen „riesigen strategischen Fehler“. Etwas versöhnlicher äußerte sich der russische Nato-Botschafter Dimitri Rogosin gegenüber der Tageszeitung Kommersant:

„Es ist klar, dass Russland Ansichten Gehör fanden“, sagt er, „obwohl sie nicht das einzíge waren, was eine Rolle spielte.“

Dass einer der nächsten Nato-Gipfel im Kreml stattfindet, scheint nach Ansicht der Mehrheit der hiesigen Beobachter dennoch unwahrscheinlich.

 

Schlappe für Bush? Von wegen

Wie schnell sich Deutschlands öffentliche Meinung doch nach bekannten Mustern formt. George W. Bush ist also der große Verlierer des Nato-Gipfels. Trotzig wie ein Kind sei er gegen den erklärten Widerstand der Europäer angerannt mit seinem Wunsch, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen. Und habe sich zum Ausstand von der Allianz eine bittere Schlappe eingefangen.

So weit, so oberflächlich.

Tatsächlich hat Bush mehr von seiner Position durchsetzen können als die Deutschen von ihrer. Das Ziel der Amerikaner war es nie, die Ukraine und Georgien schon morgen in die Nato aufzunehmen. Sie drängten vielmehr darauf, die beiden Staaten in den Membership Action Plan (MAP) aufzunehmen, in eine intensive Dialog- und Kooperationsphase, an deren Ende irgendwann die Mitgliedschaft stehen könnte. Dieser Prozess kann viele Jahre dauern.

Ziemlich genau das hat der Nato-Gipfel nun auch beschlossen. Nur, dass das Kind nicht so heißt. Zu sehr hätte man mit einem offiziellen MAP das ohnehin gekränkte Russland vergrätzt, lautete die deutsche Sorge. Offiziell berief sich die Bundesregierung darauf, in Georgien bestünden noch zwei ungelöste Regionalkonflikte, mit Abchasien und Südossetien. Und die Ukraine sei in der Frage der Nato-Mitgliedschaft tief gespalten, man dürfe der Bevölkerung keinen fremden Willen aufdrängen. Das Problem ungelöster Regionalkonflikte galt allerdings 1999, als Mazedonien in den MAP aufgenommen wurde, nicht. Der Staat, ein Zerfallsprodukt des ehemaligen Jugoslawiens war damals noch politisch zerrissen und stand kurz vorm Bürgerkrieg. Und wäre es nach dem Willen der Deutschen gegangen, dann wäre die Bundesrepublik 1955 wohl kaum der Nato beigetreten. Schließlich galt es als Zweck der Bündnisses „To keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Adenauer setzte die Mitgliedschaft trotzdem durch – mit keineswegs unwillkommenen Folgen.

Und nun? Was ist das Resultat von Bukarest?

Russland ist natürlich auch so vergrätzt. Denn die Nato hat genau das getan, was Moskau befürchtet hat: Sie hat der Ukraine und Georgien eine klare Beitrittsperspektive gegeben. In dem Kommuniqué, das die 26 Staatschefs unterzeichneten, heißt es „dass beide Länder einmal Mitglieder der Nato werden“. (Org.: We agreed today that these countries will become members of NATO.*) Das ist MAP ohne es MAP zu nennen – bloß mit negativen diplomatischen Folgen.
„Sie können sich vorstellen, dass das nicht die Formulierung ist, die wir uns gewünscht haben“, sagt ein deutscher Diplomat unter Hinweis auf den starken amerikanischen Einfluss in den Beratungen. Immerhin sei es aber gelungen, das „Symbol“ des MAP nicht auszusenden. Dies sei das Ziel Deutschlands gewesen.

Doch um welchen Preis hat Deutschland dieses Ziel erreicht? Es hat dafür ein großes Stück seiner moralischen Glaubwürdigkeit drangegeben, glaubt der Kommentator der International Herald Tribune, John Vinocur:
„Von Angela Merkel nahm man lange an, sie sei in der Lage, einer anti-demokratischen Macht strategische Symbole vorzuenthalten. Was sich stattdessen durchsetzte, waren Deutschlands Wirtschaftsinteressen, privilegierte Deals und der Wunsch der Kanzlerin angesichts der Wahlen im kommenden Jahr nicht die Vorstellung einiger ihrer sozialdemokratischen Koalitionspartner in Zweifel zu ziehen, wonach der beste Platz für Deutschland in einer Äquidistanz zwischen den Vereinigten Staaten und Russland besteht.“

Zudem ist dieser „Erfolg“ allenfalls taktisch. Schon im Dezember sollen die Nato-Außenminister nun erneut über den Status von Georgien und der Ukraine beraten. Laut Beschluss des Gipfels sind sie ermächtigt, über die Anwendung von MAP gegenüber den beiden Aspiranten zu entscheiden („Foreign Ministers have the authority to decide on the MAP applications of Ukraine and Georgia.„).

Regelrecht peinlich für die europäische Diplomatie ist zudem, dass es ihr nicht gelungen ist, im Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien einen Kompromiss auszuhandeln. Aus kleinkarierten Gründen wollte Athen nicht, dass der Nachbarstaat unter seinem längst gewohnheitsmäßig gebrauchten Namen, sprich: Mazedonien der Allianz beitritt. Denn eine nordgriechische Provinz heißt genauso. Nun muss das Land tatsächlich draußen bleiben, während Kroatien und Albanien eine Beitrittseinladung in die Nato erhielten. So viel zum Konsenskünstler Europa.

Einen völlig ungeahnten Sieg konnte George W. Bush derweil bei seinen Plänen eines Raketenabwehrsystems in Europa erzielen. Die Nato-Staatschefs haben sich darauf geeinigt, das US-System zu befürworten, das eine Radarstation in Tschechien und eine Abfangstellung mit 10 Interzeptor-Raketen in Polen vorsieht. „Wir erkennen den wesentlichen Beitrag für den Schutz der Verbündeten von Langstreckenraketen an, den die geplante Errichtung von Europa-basierten US-Anti-Raketenstellungen bietet“, heißt es in dem Abschlusskommuniqué.**

Das Zustandekommen dieser Erklärung muss die Deutschen nicht nur überraschen (vor dem Gipfel gingen sie davon aus, die Missile Defense würde allenfalls am Rande angesprochen), es ist aus ihrer Sicht auch eine mittelschwere Katastrophe. Bisher hatte sich Berlin – ebenfalls aus Rücksicht auf Russland – erfolgreich um eine klare Haltung zur Raketenabwehr herumgedrückt. Immerhin wird in dem Kommuniqué betont, dass es sich vorerst weiter um ein US-, kein Nato-System handeln solle. Ansonsten müsste Deutschland, wie es einer seiner Vertreter in Bukarest formuliert, „wahrscheinlich 20 Cent zu jeden Euro beisteuern, der dafür ausgegeben wird.“

Indes werden Angela Merkels Diplomaten sämtliche Energien aufbieten müssen, um die Errichtung des Systems für Russland verdaulich zu gestalten. Bisher hatte Putin das Missile Defense Programme, das gegen Langstreckenraketen aus Iran installiert werden soll, wider alle technischen Fakten zu einer Bedrohung für sein Nuklearraketenpotenzial aufgeblasen.

Erhellend waren in diesem Zusammenhang die Äußerungen, die der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Duma, Konstantin Kosachev, am Rande des Gipfels auf einer begleitenden Konferenz machte. Russland habe eigentlich gar nichts gegen die Raketenabwehr, bekannte er nach einigen Nachfragen. Es wolle nur gerne als ernst zu nehmender Partner eingebunden werden.

„15 oder 20 Abfangraketen in Polen stellen keine ernsthafte Bedrohung für Russlands Raketenpotenzial dar, natürlich“, sagte Kosachev auf einem Plenum des German Marshall Funds. „Russland und Europa teilen dieselbe Bedrohung“, ergänzte er mit Blick auf das iranische Raketenprogramm. Doch gegenüber dem nato-fixierten Europa habe Russland schlicht mit der Brechstange auf sich aufmerksam machen müssen.

„Der höfliche Ton gegenüber der Nato hat uns zehn Jahre lang nicht weitergebracht“, sagte Kosachev. Russland werde erst wieder wahrgenommen, seit Wladimir Putin auf der Müncher Sicherheitskonferent 2007 den Westen in rüdem Ton angegriffen habe. „Jetzt hört man uns zu!“, rief Kosachev. Er hoffe nun, dass George W. Bush und Wladimir Putin bei ihrem anstehenden Treffen in Sotschi zu einer Lösung für den Raketenschild kämen.

Ein Vertreter der Bundesregierung sagte der ZEIT dazu, damit biete sich die Chance, „aus der Missile Defense ein konstruktives Großprojekt für die USA, Europa und die Nato zu machen“ – mit Hilfe starker deutscher Vermittlung. Ein Vertreter der US-Regierung sagte der ZEIT, denkbar sei es, die Installationen des Raketenschildes in ähnlicher Weise überwachen zu lassen, wie es die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) bei Nuklearanlagen tue, sprich mithilfe von Kameras und Sensoren.

Voraussetzung dafür wäre freilich, dass Wladimir Putin bei seinem mit Spannung erwarteten Auftritt in Bukarest nun nicht noch antiwestlichere Laune demonstriert als seinerzeit in München.

Aber das wäre dann selbstverständlich wieder die Schuld von George W. Bush.

* Die vollständigen entsprechenden Passagen in der Abschlusserklärung der Staatschefs lauten:

NATO welcomes Ukraine’s and Georgia’s Euro‑Atlantic aspirations for membership in NATO. We agreed today that these countries will become members of NATO. Both nations have made valuable contributions to Alliance operations. We welcome the democratic reforms in Ukraine and Georgia and look forward to free and fair parliamentary elections in Georgia in May. MAP is the next step for Ukraine and Georgia on their direct way to membership. Today we make clear that we support these countries’ applications for MAP. Therefore we will now begin a period of intensive engagement with both at a high political level to address the questions still outstanding pertaining to their MAP applications. We have asked Foreign Ministers to make a first assessment of progress at their December 2008 meeting. Foreign Ministers have the authority to decide on the MAP applications of Ukraine and Georgia.

(…)

Ballistic missile proliferation poses an increasing threat to Allies’ forces, territory and populations. Missile defence forms part of a broader response to counter this threat. We therefore recognise the substantial contribution to the protection of Allies from long‑range ballistic missiles to be provided by the planned deployment of European‑based United States missile defence assets. We are exploring ways to link this capability with current NATO missile defence efforts as a way to ensure that it would be an integral part of any future NATO‑wide missile defence architecture. Bearing in mind the principle of the indivisibility of Allied security as well as NATO solidarity, we task the Council in Permanent Session to develop options for a comprehensive missile defence architecture to extend coverage to all Allied territory and populations not otherwise covered by the United States system for review at our 2009 Summit, to inform any future political decision.

We also commend the work already underway to strengthen NATO‑Russia missile defence cooperation. We are committed to maximum transparency and reciprocal confidence building measures to allay any concerns. We encourage the Russian Federation to take advantage of United States missile defence cooperation proposals and we are ready to explore the potential for linking United States, NATO and Russian missile defence systems at an appropriate time.

 

“Wir schätzen Mut”

Schneidende Worte hat George W. Bush für seinen letzten Nato-Gipfel gewählt. In Bukarest trat er vor dem offiziellen Beginn des großen Allianztreffens vor kleinem, zumeist pro-atlantisch gesinntem Publikum ans Rednerpult. Wie erwartet, gab der amerikanische Präsident in Kurzform sein sicherheitspolitisches Vermächtnis zu Protokoll.

Es kulminierte in einem Bekenntnis, das die einen Verbündeten als Liebeserklärung begreifen durften. Gewisse andere liegen sicher nicht falsch, wenn sie es als endgültigen Ausdruck tief empfundener Bedeutungslosigkeit werten.

“Wir schätzen Mut”, bekannte Bush über die Washingtoner Weltsicht. “Wir schätzen Völker, die die Freiheit lieben. Und wir schätzen Menschen, die glauben, dass Freiheit zu Sicherheit führt.”

Dafür erntete der scheidende US-Präsident donnernden Applaus vor allem von den jungen Rumänen, die für den Vortrag ausgewählt und in den ersten Reihen platziert worden waren. Für viele Osteuropäer ist Amerika noch immer die Macht des anti-totalitären Guten, weshalb das entschlossene Engagement rumänischer Soldaten im Irak und Afghanistan an der Seite der US-Truppen deshalb unangezweifelt bleibt.

Den wenigen Vertretern Deutschlands im Saal hingegen fiel es sichtlich schwer, sich zum Beifall ebenfalls von ihren Stühlen zu erheben. Zu belastet ist das Verhältnis zu diesem weltenbrennerischen Neocon noch immer. Und zu sehr begreift manch Germane Bushs Worte als Anspielung auf ein Deutschland, dass hier in Bukarest schon im Vorfeld des eigentlichen Gipfels als lästiger Bedenkenträger und Entscheidungsbremser abgestempelt ist.

“Schon verstanden”, knurrte ein deutscher Regierungsvertreter auf dem Weg nach draußen.

Wirklich?

Was sich in Bukarest abzeichnet, ist – Bushs Abschied von der Weltbühne hin oder her – eine Neukalibrierung des westlichen Verteidigungsbündnisses. Deutschland droht, dabei in die Riege der unsicheren und deshalb unwichtigen Kantonisten abzusteigen.

Aller Voraussicht nach werden die 26 Staats- und Regierungschefs der Nato am Donnerstag die drei Balkanstaaten Kroatien, Mazedonien und Albanien als Neumitglieder ins Bündnis aufnehmen. Schon diese Erweiterung war für Deutschland schwer zu schlucken. Albanien, so ist aus Diplomatenkreisen zu vernehmen, sei aus Berliner Sicht für eine Nato-Mitgliedschaft eigentlich noch nicht reif.

Doch nun drängt die scheidende US-Regierung auch noch, Georgien und Ukraine einen Fahrplan für die Mitgliedschaft anzubieten. Deutschland ist zwar nur einer von mehreren europäischen Staaten, die diesen Schritt für verfrüht halten. Dennoch trifft die Deutschen in Bukarest die geballte Wut vieler Georgier, Osteuropäer und Amerikaner.

Der Grund dafür liegt nicht allein im Nein zu einer eurasischen Nato-Ausdehnung. Die vielen Neins und Jeins der Deutschen zu wichtigen Nato-Projekten addieren sich vielmehr allmählich zu einer Haltung, die von vielen Verbündeten als – freundlich ausgedrückt – verwunderlich begriffen wird. Oder, unfreundlicher: als schleichender Abschied Deutschlands aus den Kernstaaten der Allianz.

Das zweite und dritte Nein der Deutschen betrifft Afghanistan. Die Bundesregierung werde keine zusätzlichen Soldaten schicken, schon gar keine in den Süden, machte die Bundeskanzlerin kürzlich unmissverständlich klar. Bush sagte darauf hin in einem Interview mit der WELT, er werde von Deutschland keine Entscheidungen mehr fordern, die politisch unmöglich seien. Mit anderen Worten: Er schreibt die Germanen ab.

Auch an den weitreichenden Einsatzbeschränkungen für seine Truppen am Hindukusch will Deutschland nicht rütteln – obwohl der Nato-Generalsekretär ohne Unterlass die Abschaffung aller nationalen “caveats” fordert.

Ein klares Jein ringen sich die Deutschen zu den Raketenabwehrplänen ab, mit denen die USA Langstreckenraketen aus dem Iran abfangen wollen. Hier bestehe noch Prüfungsbedarf, wiederholen deutsche Diplomaten immer wieder gebetsmühlenhaft.

Ein weiteres Nichts ist aus Angela Merkels Ankündigung geworden, die Nato wieder zur wichtigsten Plattform für transatlantische Beratungen zu machen. Tatsächlich sind die Tagungen rund um den Bukarester Gipfel zwar von der ersten Regierungsriege vieler Nato-Partner besetzt. Die Bundesregierung hingegen hat es nicht geschafft, prominente Botschafter auf die wichtigen Plenen zu entsenden. “Dramatisch” nennt ein amerikanischer Beobachter die dünne deutsche Beteiligung an den Strategiedebatten.

Nicht nur den Amerikanern, auch den Osteuropäern drängt sich bei all dem der Eindruck auf, Deutschland leide unter einer geopolitischen Kompassstörung. Statt klarer Solidarität mit der Nato sei es Berlins erste Sorge, Moskau nicht zu vergrätzen. Ein Vertreter Georgiens sprach gar von deutschem “Appeasement” gegenüber Wladimir Putin.

Das mag überzogen sein. Aber das Label haftet. Deutschland, so viel ist sicher, gilt nicht länger als wichtigster transatlantischer Brückenpfeiler auf dem europäischen Kontinent. Für diese Aufgabe steht mittlerweile ein anderer bereit. Frankreichs Präsident Sarkozy wartet nur darauf, die Rochade zu vollenden, die Deutschland so sichtbar in Bukarest eingeleitet hat.

 

Die unerträgliche Leichtigkeit des EU-Parlamentarierdaseins

Man kann Elmar Broks Vorschlag zum Olympiastreit abwegig finden, aber er ist wenigstens handfest. Der Europaabgeordnete und außenpolitische Koordinator der Europäischen Volkspartei (EVP) fordert angesichts der “besorgniserregenden Situation in Tibet und angrenzenden chinesischen Provinzen”, die Olympischen Spiele in Zukunft nur noch in ihrem Mutterland Griechenland abzuhalten.

Seit 1936, so erinnert der CDU-Mann Brok, würden die Spiele immer wieder zu propagandistischen Zwecken missbraucht. “Damit wäre dann ein für allemal Schluss.”

Über Broks Initiative hinaus enthielt die heutige Debatte im Europäischen Parlament über die Lage in Tibet zwar eine Menge weiteren Klartext. Doch mit welcher Wirkung?

„Es ist eine Tatsache, dass China beim Minderheitenschutz und bei den Menschenrechten internationalen Standards nicht genügt”, sagte der EVP-(CDU)-Abgeordnete Thomas Mann. “Daran hat leider auch die Vergabe der Olympischen Spiele nach Peking, anders als ursprünglich beabsichtigt, nichts geändert.“

Was in Tibet geschehe, sei “kultureller Genozid”, so Mann.

„Wir haben deshalb die EU-Kommission in einem ersten Schritt ersucht, eine internationale Beobachtermission nach Tibet zu entsenden. Für den Fall, dass die Zentralregierung in Peking nicht nachgibt, sollten alle weiteren Möglichkeiten geprüft werden, angefangen von Protesten im Rahmen der Olympiade bis hin zu politischen und wirtschaftlichen Boykottmaßnahmen als letztem Mittel.“

Die Grünen schlugen vor, darüber nachzudenken, dass an der Eröffnungsfeier der Spiele weder europäische Staatschefs noch Athleten oder Journalisten teilnehmen sollten.
Die Europäische Union sollte gar einen Boykott der Olympischen Spiele nicht ausschließen, sagt der SPD-Politiker Jo Leinen.

Das mag ja alles aufrechte Empörung sein. Aber wie kommt es bloß, dass diese spitzen Töne aus Brüssel zugleich etwas wohlfeil wirken? Dass die Politiker hier auf viel entschlossenere Weise nach Boykott und Sanktionen rufen als ihre Parteigenossen in den nationalen Parlamenten oder Regierungen?

Die Antwort ist ein bisschen traurig: Es liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Europaparlamentarier wissen, dass ihre Forderungen ohnehin niemand richtig ernst nimmt. Das Europäische Parlament ist nicht in der Lage, Druck auf irgendeine Regierung auszuüben, denn keine Regierung ist von seiner Unterstützung abhängig.

Sicher, die Europaparlamentarier können an die EU-Kommission appellieren und auf ihren Kurs Einfluss nehmen (was viele EP-Abgeordnete mit großem Sachverstand tun). Aber die Kommission selbst ist eine Behörde, deren Betrieb von Beschlüssen der europäischen Regierungen vorgezeichnet wird.

So verwundert es kaum, wenn dort, eine Etage höher in der europäischen Verantwortung, der Kommissionspräsident José Manuel Barroso schon viel mildere Töne anstimmt. Die Olympischen Spiele seien keine politische Veranstaltung, sagte er, deshalb unterstütze er auch die Idee eines Boykotts nicht. (Eine gewagte logische Trennung, nebenbei bemerkt. Denn so betrachtet, dürften die Spiele auch dann stattfinden, wenn Chinas Soldaten in Tibet ein zweites Tiananmen-Massaker anrichten würden.)

Das Europäische Parlament hat es so leicht, als moralisches Schwergewicht aufzutreten, weil es politisch de facto machtlos ist. Es ist die Soft Power der Soft Power, und dieses personifizierte Gewissen Europas ist deshalb so rein, weil es sich mit Taten gar nicht erst belasten kann.

Das nimmt der Erregung der Europa-Politiker nicht die Ehrlichkeit. Aber unehrlich ist es auch nicht zu sagen, dass der Wortdampf aus Brüssel doch sehr an ein Parfüm erinnert. Schön ist er, aber ätherisch.

 

Biedermann oder Brandstifter?

In Brüssel beginnt das Rennen um den neuen Chefposten der EU. Deutschland und Frankreich setzen auf zwei sehr unterschiedliche Kandidaten: Tony Blair und Jean-Claude Juncker

Der historische Zufall könnte es wollen, dass im Januar 2009 gleich zwei neue Führer der freien Welt in ihren Ämtern vereidigt werden. Ein Präsident in Washington, Amerika. Und einer in Brüssel, Europa. Falls der Vertrag von Lissabon (ehemals „Europäische Verfassung“) in allen 27 Mitgliedstaaten pünktlich abgesegnet wird, bekommt die EU zu eben jenem Datum ihre lang erwarteten, neuen Superposten:

Einen Präsidenten des Rates und einen Außenminister (der freilich nicht so heißen darf). Das Präsidentenamt wird der mächtigste Job sein, den die EU je zu vergeben hatte. Sein Inhaber wird nicht mehr bloß – wie bisher – für sechs Monate den Zeremonienmeister für die Treffen der EU-Regierungen geben. Er (oder sie) soll stattdessen zweieinhalb Jahre lang die Tagesordnung der Union bestimmen und den Kontinent nach Außen vertreten.

Und? Wo bleiben die Vorwahlen? Richtig vermutet. Wer am Ende auf dem europäischen Chefsessel Platz nimmt, wird nicht öffentlich ausgehandelt, sondern hinter den Kulissen der Regierungszentralen. Zählen lassen sich immerhin schon so manche Ausschläge in Europas Hauptstädten, vor allem in Paris und Berlin. Sie deuten – neben anderen Namen – vor allem auf zwei Kandidaten hin. Deren Profile könnten allerdings unversöhnlicher kaum sein. Sie heißen Tony Blair und Jean-Claude Juncker.

Als entschlossener Verfechter des ehemaligen britischen Premierministers gilt Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy. Erst lud er Blair auf den Parteikongress seiner UMP ein, wo der Brite Mitte Januar eine programmatische Europarede hielt. Und wie zum Schulterklopfen bemerkte Sarkozy wenig später: „Wenn wir den Präsidenten der Europäischen Union ernennen, sollten wir die Hürden hoch legen und uns nicht nach den kleinsten gemeinsamen Nenner umsehen.“

Genau den aber hat offenbar Angela Merkel im Sinn. Das Kanzleramt lässt diskret durchblicken, Deutschlands Wunschkandidat für das Spitzenamt sei der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker. Von Sarkozys Vorstoß, so ließen Merkels Getreue durchsickern, sei die Kanzlerin „überrascht“ gewesen.

Mr. Maastricht gegen Mr. Golfkrieg – ist da die Wahl nicht klar? Nein

Ginge es allein um historische Verdienste für Europa, die Wahl dürfte wohl klar sein zwischen Mr. Maastricht und Mr. Golfkrieg, zwischen Mr. Euro und Mr. Brüsselrabatt. Aber: Geht es bei dieser Wahl um Kontinuität – oder nicht eher um Aufbruch? Geht es darum, den Kandidaten mit dem Posten belohnen? Oder nicht vielmehr darum, den Posten mit dem Kandidaten aufzuwerten? Historie und Zuschnitt des Präsidenten-Amtes sprechen eher für Letzteres. Ein Hauptziel des Lissabon-Vertrages soll es, sein Europa mehr Gesicht, Stimme und Gewicht in der Welt zu verschaffen. Gemessen an diesem Zweck dürfte die bisherige Binnenbilanz des Kandidaten nicht unbedingt ausschlaggebend sein. Zwar ist Juncker schon heute so schwer mit EU-Orden aller Art behängt, dass man ihn getrost zum Ehrenpräsidenten ernennen könnte. Doch in der Außenwirkung bleibt er weit hinter dem Weltpolitiker Blair zurück.

Die Stimmung im Bauch von Brüssel indes reicht von latenter bis aggressiver Anglophobie. Auf den Empfängen der EU-Hauptstadt ist derzeit kaum ein Politiker oder Funktionär zu treffen, der nicht vor Ekel seinen Rotwein verschütten würde, sobald er „Blair“ hört. Ein Lügner und Kriegstreiber an der Spitze der Europäischen Union? Ein dieser unsolidarischen Briten ausgerechnet? Das Europäische Parlament schaudert’s quer durch die Fraktionsbänke. „Blair hat sich in Wort und Tat gegen eine Vertiefung der EU engagiert“, richtet der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe Werner Langen. „Ihm fehlt schlicht und einfach die europäische Integrationskraft für diese neue EU-Führungsposition.“

Die geballte Abscheu gegen Tony, den Ami-Pudel, lässt sich auf der Internetnetseite stopblair.eu nachlesen, wo „europäische Bürger jeglicher Herkunft“ zum „Widerstand“ gegen den Ex-Premier aufrufen. Er sei ein „Komplize“ bei George Bushs menschenverachtender Terroristenjagd; er erkenne die Grundrechtecharta für Europa nicht an; er blockiere die gemeinsame Sozial-, Steuer und Außenpolitik der Union. Großbritannien sei weder Teil des Euro- noch des Schengenraums. All dies stehe in „krassen Widerspruch zu den Werten des europäischen Projekts“. Bis Mitte März hatten über 25 000 Personen die Online-„Petition“ gegen den Briten unterzeichnet.

Ein Gutteil dieser Empörung dürfte freilich aus Enttäuschung geboren sein. Wie kein anderer Premier seit Churchill war Blair 1997 mit dem Versprechen angetreten, die Insel fester an Europa zu vertäuen und der Währungsunion beizutreten. Daraus ist nichts geworden, Großbritannien blieb bei seinen „opt outs“, seinen Vorbehalten gegenüber tieferer EU-Integration.

Juncker mag in der EU ein Schwergewicht sein. In der Welt ist er ein Nobody

Jean Claude-Junker dagegen verkörpert wie kaum ein anderer den ungebrochenen Anspruch vom einigen, friedensstiftenden Staatenbund. Der 54-jährige polyglotte Christdemokrat ist der am längsten amtierende Regierungschef der Europäischen Union, er wirkte federführend am Maastricht-Vertrag mit, war Chef der Euro-Gruppe und lenkte schon zwei EU-Ratspräsidentschaften. Die „europäische Methode“ nennt er „den politischen Willen zu Kompromisslösungen.“ Seiner Chancen auf das Spitzenamt scheint sich Juncker schon ziemlich sicher zu sein. «Ich kann mich der Zärtlichkeiten zur Zeit kaum erwehren», sagte er vergangene Woche in Brüssel. Er schließe nicht aus, den Posten zu übernehmen – vorausgesetzt, er könne dann mehr sein als ein „Grüßaugust“.
Aber bei aller innerkontinentalen Moderationskraft verkörpert Juncker eben auch die entrückte Selbstbezogenheit des Systems Brüssel. Im europäischen Universum mag der Luxemburger ein Schwergewicht sein. In der Welt ist er ein Nobody.

Zudem hängt Juncker mit mindestens einer Hirnhälfte noch immer der Europa-Idee des 20. Jahrhunderts an. Sein Wir-Gefühl schöpft sich aus der Vergangenheit, aus seiner Kindheit in der Nachkriegszeit, an die er oft erinnert. „Manchmal denke ich mir, um den Menschen vorzuführen, was Europa ist, müsste man drei Monate lang wieder Grenzen, Grenzpfähle, Barrieren in Europa errichten, damit die Menschen merken, was Fortschritt ist“, sagte er in einer Grundsatzrede Ende 2006. Die Friedensaufgabe Europas sei „noch nicht erledigt“, glaubt er. Wohl auch deswegen unternahm Juncker 2003, im Schatten des Irakkriegs, den Versuch, zusammen mit Belgien, Deutschland und Frankreich als Gegengewicht zur angelsächsisch dominierten Nato ein eigenes europäisches Militäroberkommando in Brüssel zu installieren. Viel mehr als Mini-Planungszelle ging aus diesem „Pralinengipfel“ nicht hervor.

Mittlerweile zeigt sich Juncker zögerlich, Europa nach der Verhedderung über den Verfassungsvertrag schon bald wieder mit großen Ideen zu strapazieren. Er hält eine „Reflexionsphase“ für angemessen. Und bitte, den Menschen nicht immer Angst vor der Globalisierung machen! Europa müsse sich viel stärker um das Soziale kümmern. „Es muss wieder heimeliger werden auf diesem Kontinent“, diktierte er Handelsblatt-Reportern Ende 2005 in den Block. „Menschen brauchen Sicherheit.“

Europa muss künftig selbstbewusster auftreten

Aber ist Zurückhaltung die passende Tugend für das Europa des 21. Jahrhunderts? Immerhin muss sich Brüssel wie vielleicht nie zuvor als Krisenmanager bewähren. Zu den Herausforderungen zählen Instabilität an Europas Rändern, eine schwächelnden amerikanischen Supermacht, aufstrebende Mächte in Asien, eine Mittelmeerperipherie, die nur zu gerne an das Reich des Reichtums andocken würde, und – siehe die deutsch-französische Kontroverse um die Mittelmeerunion – ungelöste Führungsfragen in den eigenen Reihen. Hinzu kommt ein Russland, das zunehmend wie eine Imperialmacht des 19. Jahrhunderts auftritt und mit dem sich Konflikte über den Energiekorridor des Kaukasus entzünden könnten.

Nach dem Polonium-Mord an einem Kreml-Kritiker in London und der Schließung der British Council-Büros in Russland ist das Verhältnis zwischen Großbritannien und Moskau zum Zerreißen gespannt.
Die „strategische Partnerschaft“, die Deutschland mit dem Energieriesen so gerne pflegen möchte, wäre unter einem EU-Präsidenten Blair vermutlich nicht mehr ganz so störungsfrei zu haben.

Der Brite versprühte den Ehrgeiz eines Wettsprinters, als er auf Sarkozys Parteikongress – auf Französisch übrigens – seine Europavisionen ausbreitete. „Europa ist keine Frage von Links oder Rechts, sondern eine Frage von Zukunft oder Vergangenheit, von Stärke oder Schwäche“, sagt der Labour-Mann. „Es geht um Heute versus Gestern. Weniger um Politik als um eine Geisteshaltung, um Offenheit statt Geschlossenheit.“

Bei den großen Zukunftsherausforderungen scheinen sich Blair und Juncker zwar einig. Terrorismus, Einwanderungssteuerung, Klimaschutz, Energie und Bildung seien die Megathema für das kommende Jahrzehnt. Aber während sich Juncker eher als Innenarchitekt für das „Haus“ Europa versteht, tritt Blair als weltpolitischer Landschaftsgärtner auf. Das bringt dem Briten Imperialismusverdacht und Anerkennung zugleich ein. So hat ihn der Irakkriegsmakel am Ende doch nicht dafür disqualifiziert, vom Nahost-Quartett aus EU, USA, Russland und UN als Gesandter für den Nahen Osten eingesetzt zu werden. Zudem: Blair hat in Europa selbst einen Friedensschluss vermittelt, dessen Nachhaltigkeit viele für unmöglich gehalten hätten. Im April jährt sich zum zehnten Mal das Karfreitagsabkommen, das den zähen Bürgerkrieg in Nordirland beendete. Neben Bill Clinton wird man in Belfast dafür vor allem den Mann aus der Downing Street feiern.

Juncker der Biedermeierkandidat gegen Blair den Großmachtpolitiker? So einfach ist es nicht.

Auch Juncker etwa neigt in der Frage der Gasversorgung durchaus zu Klartext: „Herr Putin sitzt alleine da, und dann kommen da 27 Europäer und erklären ihm, wie die europäische Energiepolitik geregelt werden muss. Das ist nicht sehr glaubwürdig“, befand der Luxemburger unlängst auf einem Podium der Bertelsmann-Stiftung. „In Fragen europäischer Energiepolitik müssen wir eine Kampfformation bilden, anstatt wie ein aufgeregter Hühnerhaufen auf Russland zuzustürmen.“

Zwischen Brüssel und Moskau könnte sich imperiale Rivalität entwickeln

Man könnte allerdings noch weiter gehen. Zwischen Brüssel und Moskau droht sich allmählich eine imperiale Systemkonkurrenz zu entwickeln. Während sich Europa durch Überzeugung ausbreitet, setzt Russland auf Einschüchterung und Unterwerfung. Wie lange dies in den rohstoffreichen „Pufferzonen“ Ukraine und Kaukasus noch gut geht, weiß derzeit niemand. Besäße Juncker die Entschlossenheit, diese Scharnierstaaten an Europa zu binden, sollten sie dies in der näheren Zukunft erflehen? Oder würde er sich ins Schneckenhaus Europa zurückziehen und die Anwärter im Osten auf später, auf irgendwann vertrösten? Tony Blair fiele es auf Grundlage einer britisch-nüchternen Vorstellung von einer großeuropäischen Freihandelszone womöglich leichter, eine solche Erweiterungsentscheidung zu treffen.

Doch die vorerst spannendste Frage bleibt eine taktische. Wie viel offenen Streit wollen sich Merkel und Sarkozy zugunsten ihrer jeweiligen Protegés antun – vor allem jetzt, da der Streit um die Mittelmeerunion gerade erst beilegt ist? Wahrscheinlich ist, dass die Präsidentenfrage unter Aufwendung erheblicher diplomatisch-kaschierender Energien als Postenpaket verhandelt wird, also zusammen mit der Besetzung des Außenbeauftragten und der Kommissionspräsidenten.

Kompromisskandidaten aus Irland und Belgien

Schon werden statt Junckers und Blairs eine Reihe von Kompromisskandidaten gehandelt. Guy Verhofstadt zum Beispiel, der ehemalige belgische Premier, oder Bertie Ahern, Regierungschef von Irland. Dem Liberalen Verhofstadt schwebt eine tiefere wirtschaftliche Integration vor. In seinem Manifest „Die Vereinigten Staaten von Europa“ plädiert er für ein Europa der sozialen Entschlackung und harmonisierten Steuern.
Aus deutscher Sicht wäre er aber wohl vor allem ein bequemer, weil unaufgeregter Prozesssteuerer – denn bei allem Verhandlungsgeschick ist der Belgier mit den politischen Pferdestärken eines Ministerialreferenten gesegnet.

Und Ahern? Der Ire gilt als umgänglich in Brüssel, und beliebt vor allem bei den Polen. Sein Land würde eine Kandidatur Ahern „wohlwollend“ betrachten, ließ der polnische Regierungschef Donald Tusk unlängst wissen. Ahern ist allerdings kaum beleidigt, wenn man ihn als einen Provinzpolitiker bezeichnet. Er selbst nennt sich einen „homebird“, einen Stubenhocker.

„Bertie“, sagt der EU- Korrespondent einer großen irischen Tageszeitung, „mag Europa. Aber in Europa mag am liebsten Irland. In Irland mag er am liebsten Dublin. Und in Dublin mag er am liebsten seinen Pub.“
In Brüssel, mit anderen Worten, würde Ahern vermutlich so spielführend auftreten wie ein Hobbit beim Basketball.

Immerhin, einen Vorteil hätte seine Kandidatur: Sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sich Iren geschmeichelt führen würden. Und auf sie kommt es an im Sommer. Die Iren sind das einzige Volk, das per Referendum über den Lissabon-Vertrag abstimmen muss. Und sagen sie Nein, dann bekommt Europa im nächsten Januar – überhaupt keinen Präsidenten.

 

Europas neue Superposten. Ein Brevier

Noch ist der Lissabon-Vertrag (ehemals „Europäische Verfassung“) nicht in Kraft getreten, da treiben die Spekulationen um die Besetzung der beiden neuen Posten in Brüssel bunte Blüten. Die bisher am ernsthaftesten gehandelten Kandidaten für das Amt des Europäischen Präsidenten sind Tony Blair und Jean-Claude Juncker. Die Präsidentschaft des Rates (der Versammlung aller 27 EU-Regierungen) soll künftig nicht mehr per halbjährlicher Rotation an einen der Regierungschefs fallen. Vielmehr soll der Präsident soll zweieinhalb Jahre lang dem politischen Leitgremium der EU vorsitzen.

Er soll laut Lissabon-Vertrag dem Rat „Impulse“ geben, für „Kontinuität“ sorgen und „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ wahrnehmen.

Als Kandidaten in Spiel gebracht werden vom Brüsseler Flurfunk neben Blair und Juncker, der irische Ministerpräsident Bertie Ahern, der dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen, der belgische Ex-Premier Guy Verhofstadt, die ehemaligen spanischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzáles und José Maria Aznar sowie der ehemalige polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski.

Legalistisch betrachtet wird der neue Dauerpräsident allerdings nicht viel mehr Durchsetzungskraft besitzen als die bisherigen Ratsvorsitzenden. Denn wegen des polnischen Einspruchs gegen Mehrheitsbeschlüsse im Rat wird bis 2014 das Veto nur eines Mitgliedslands ausreichen, um jede noch so gut einfädelte Politik des EU-Präsidenten zu blockieren.

Zugleich sollen die Posten des bisherigen Außenbeauftragten (Javier Solana) und des Außenkommissars (Benita Ferrero-Waldner) zu einem „Hohen Repräsentanten für Außenpolitik“ verschmolzen werden, sprich zu einem europäischen Außenminister. Er soll zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Er wird für seine Aufgaben vom Rat mandatiert werden und einen eigenen diplomatischen Dienst erhalten. Dieser Dienst soll sich aus dem Ratssekretäriat, der Kommission und Abgesandten der Mitgliedsstaaten zusammensetzen.
Momentan gilt als wahrscheinlich, dass Javier Solana das Amt über den 1. Januar 2009 hinaus bis zum 31. Oktober führen wird. Denn zum 1. November 2009 wird die Kommission neu zusammengesetzt.

Neben dem Spanier sind als mögliche Kandidaten für das Chefdiplomaten-Amt unter anderem eine Reihe von derzeit amtierenden Außenministern im Gespräch: Carl Bildt (Schweden), Bernhard Kouchner (Frankreich), Massimo D’Alema (Italien) und Miguel Moratinos (Spanien). Als weibliche Kandidaten werden die irische Präsidenten Mary Robinson und die finnische Staatschefin Tarja Halonen gehandelt. Joschka Fischer, der recht früh ins Gespräch gebracht worden war, hat mittlerweile klar abgesagt; er stehe für politische Ämter nicht mehr zu Verfügung.

Indes ist noch völlig unklar, wie sich die Kompetenzen des neuen Präsidenten von denen des neuen Außenministers abgrenzen lassen werden. Potentiell greifen die Ämter stark ins Revier des jeweils anderen ein. Einigermaßen klar ist hingegen, dass in Zukunft der Posten des Kommissionspräsidenten (derzeit Manuel Barroso) viel von seinem repräsentativen Charakter einbüßen dürfte. Angesichts der Machtfülle der beiden neuen Ämter wird er zurechtgestutzt auf den Leitungssessel einer – wenngleich mit Politikern bestückten – Verwaltungsbehörde.

Bei der Zusammenstellung der neuen Ämter wird der europäische Parteienproporz zu wahren sein. Wird der Präsident ein Sozialist, müsste der Außenbeauftragte eher ein Konservativer werden, beziehungsweise vice versa. Eine „Paketlösung“ wird allerdings dadurch erschwert, dass ein neuer Kommissionspräsident erst nach den Wahlen zum nächsten Europaparlament bestimmt werden kann. Und die finden erst im Juni 2009 statt – ein halbes Jahr, nachdem das Fell von Lissabon verteilt sein muss.

 

Liebesgrüße nach Moskau

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Wann, der Färbung einer Europakarte nach, wäre eigentlich die Nachkriegszeit beendet? Nicht jedenfalls, solange die Ukraine und Georgien Teile einer Grauzone zwischen dem Westen und Russland bilden. So konnte man am Wochenende den Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer verstehen.

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Qua Amt eigentlich ein Moderator, zeigte sich Scheffer auf dem Brussels Forum des German Marshall Fund (GMF) überraschend provokant. „Solange es eine Lücke gibt zwischen den Orten, an denen Länder sind und Orten, nach denen sie sich sehnen, ist die Vereinigung Europas nicht abgeschlossen“, sagte der Niederländer. Und weiter:
„Solange einige Länder das Gefühl haben, dass sie nicht voll und ganz Herr ihres Schicksals sind, nicht zuletzt weil andere ihnen die freie Wahl verwehren, solange ist Europa nicht der Gemeinschaftsraum, der es nach unserem Willen sein soll.“

Klingt wie eine Erinnerung an George H.W. Bushs Schlachtruf aus den späten achtziger Jahren: „Europe whole and free!“ – Und soll es wohl auch sein.

Scheffer nannte die Ukraine und Georgien nicht ausdrücklich, aber der Bezug war klar. Der georgischen Regierung zufolge befürwortet die Mehrheit der Bürger einen Nato-Beitritt ihres Landes, und die ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko hofft auf eine Aufnahme ihres Landes in den so genannten Membership Action Plan (MAP), der den Beitrittsprozess einleiten würde.

Zusammen mit den – bereits offiziellen – Nato-Kandidatenländern Kroatien, Mazedonien und Albanien hoffen die Ukraine und Georgien für den bevorstehenden Nato-Gipfel in Bukarest (2. bis 4. April) auf Willkommensgrüße der Allianz.

Scheffers Rede könnte deshalb darauf gezielt haben, Russland schon vorab klar zu machen, dass die Nato den „neuen“ Osteuropäern die Tür ebenso selbstverständlich offen hält wie den „alten“ Osteuropäern des ehemaligen Warschauer Pakts, die nach 1990 zum Bündnis stießen. Es setzt jedenfalls einen deutlichen Ton gegen Moskau, wenn der Nato-Chef sagt, das Bündnis werde seine Mitglieder nicht allein lassen, wenn sie Opfer von „Cyber-Angriffen“ oder „Energieerpressung“ würden. Bloß, ob solche Präemptivrhetorik die Stimmung eher entspannt oder verschärft?

Wenn es schon in Brüssel knistert, dann könnten in Bukarest die Funken fliegen. Aller Voraussicht nach werden dort zwei Großpräsidenten aufeinandertreffen, die über die geopolitische Zukunft Westeuropas tief zerstritten sind. George Bush, der Erweiterer. Und Wladimir Putin, der Einheger.

Unter Bush II hat die Nato sieben neue Mitglieder aufgenommen, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, Bulgarien und den jetzigen Gipfelgastgeber Rumänien, die allesamt aus der Erbmasse der ehemaligen Sowjetunion stammten. Putins Phantomschmerzen über den Verlust der imperialen Peripherie äußert sich in größtenteils irrationaler Ablehnung der US/Nato-Raketenabwehr für Europa, ebenso wie in ungeschminkter antiwestlicher Stimmungsmache, von München bis nach Mitrovica.
Putin spielt dabei gekonnt mit dem Anti-Amerikanismus vieler, gerade junger Europäer, die kein Gedächtnis mehr an den sozialistischen Totalitarismus in Osteuropa haben – wohl aber an die Bush’sche Kriegslust am Persischen Golf.

„Bushs transatlantisches Vermächtnis ist in Gefahr“, titelte die International Herald Tribune am Wochenende. Und ließ zwei nicht namentlich genannte US-Nato-Diplomaten frotzeln, es seien ausgerechnet wieder die Deutschen, die sich gegen die Erweiterung stemmten. Sie hätten, so die Diplomaten, wohl Angst, Russland zu vergrätzen.

Diese Angst hatten die Deutschen schon bei der ersten Ost-Erweiterungsrunde der Nato. Warum eigentlich?, fragt die Direktorin des Berliner GMF-Büros und geschätzte ehemalige ZEIT-Kollegin Constanze Stelzenmüller.

„Europas Eintreten für die Universalität von Menschenrechten sollte logischer Weise bedeuten, dass es die Rechte und Freiheiten von weißrussischen Dissidenten oder georgischen Journalisten und Richtern ebenso nachdrücklich verteidigt wie die der afghanischen Kriegsgefangenen in Guantánamo Bay.
Andererseits wird Instabilität und Einmischung durch ein zunehmend durchsetzungsstarkes Russland zuerst und am unmittelbarsten in Europa spürbar. Das gilt besonders für die Schwarzmeerregion. Sie bedeutet für Europas Energiesicherheit im 21. Jahrhundert das, was das Fuldatal* für seine territoriale Sicherheit im 20. Jahrhundert bedeutet hat.“

Östlich der EU färbt sich das Gelände nicht mehr rot, so viel steht fest. Aber blau auch noch lange nicht.

Und so könnte das Gipfeltreffen der Nato tatsächlich Anlass für Gefühlsausbrüche bildden. Immerhin treff dort zwei scheidende Großmachtführer aufeinander, von denen der eine, George W. Bush, schon vor dem Treffen klargestellt hat, dass er die Nato gern noch ein Stück weiter nach Osten treiben möchte – quasi als letzten Akt im Drama der
„Demokratieverbreitung“, bevor Bush von der Weltbühne abtritt.

Der US−Präsident, so machte er Anfang der Woche per Interview deutlich, möchte nicht nur die Kandidatenländer Kroatien, Mazedonien und Albanien so schnell wie möglich in die Nato eingliedern. Auch Georgien und die Ukraine sollen nach seinem Willen die Perspektive bekommen, der nordatlantischen Allianz beizutreten. Bei Russlands Präsident Wladimir Putin löst eine solche Neutünchung der eurasischen Landkarte Empörung aus. Er setzt die Ausdehnung der Nato schlicht gleich mit der Ausdehnung der amerikanischen Einflusssphäre auf die einstige Peripherie der Sowjetunion.

„Die Lust an Abschuldigungen im heutigen Russland erinnern an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen sich über das ,Schanddiktat von Versailles‘ erregten, das einem niedergestreckten Deutschland von den Siegermächten aufgedrückt wurde und über die korrupten Politiker, die der Nation den Dolch in den Rücken gestoßen haben“, schreibt Robert Kagan (The Return of History, 2008, S. 16).

Gleichwohl (oder gerade deswegen) hat Putin – zur Überraschung mancher Nato−Diplomaten – die Einladung angenommen, als Gast beim Bukarester Bündnistreffen zu erscheinen. Während Bush schon am Mittwochmorgen eine erste Rede halten wird, kommt der Kreml−Chef allerdings erst gegen Ende des Gipfels am Freitag Mittag zu Wort. Dann werden die Beschlüsse über die Zukunft des Bündnisses bereits getroffen sein. Gleichwohl, dieser Gipfel könnte amerikanisch-russische Differenzen zu Tage fördern, wie es sie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat.

Eine historische Sekunde lang hatte der 11. September 2001 einen Schulterschluss bewirkt zwischen Amerika und Russland. Jedenfalls ideell schienen sich die beiden Mächte einig im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Doch die langfristigen geopolitischen Vermächtnisse, die George Bush und Wladimir Putin
hinterlassen wollen, sie könnten gegensätzlicher kaum sein.

George Bush setzte nach den Al−Qaida−Angriffen auf New York und Washington alles daran, die Nato so rasch wie möglich in ein flexibles Eingreifbündnis zu verwandeln. Der Feind war mobil geworden, also musste es auch das Bündnis werden. Auf dem Prager Gipfel von 2002 drängten die USA ihre Verbündeten, die Nato weg von der Territorial−, hin auf Interessensverteidigung zu trimmen. Als sichtbares Zeichen dieser
strukturellen Mobilmachung wurde in Prag die Aufstellung der Nato Response Force (NRF) beschlossen, eines schnellen Interventionsverbandes, der weltweit zum Einsatz kommen können soll. Zwar hat die NRF bis heute nicht ihre Sollstärke von 20.000 Soldaten erreicht. Doch seit 2002 hat sich die Gestalt der Nato trotzdem stark gewandelt.

Eine Kommandoreform machte die bisher statische und in unzählige Hauptquartiere mit regionaler Verantwortung zerlegte Allianz ab 2002 schlagkräftiger und beweglicher für schnelle Interventionen. Seit Mitte 2006 gilt eine neue Kommandostruktur mit nun nur noch zwei mächtigen strategischen Hauptquartieren. Zeitgleich mit diesem Umbau erweiterte die Nato seit Beginn des neuen Jahrtausends den Kreis der kompatiblen Streitkräfte. Vor allem angesichts manch skeptischer westeuropäischer Partner im „alten
Europa“ (so das auf Deutschland und Frankreich gemünzte Diktum des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld im Irakkriegsjahr 2003) beschleunigte die Bush−Regierung ihre Pläne, die Nato in einer ersten Runde nach Osten auszudehnen.

Viele Menschen in den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten, vor allem in Polen und Tschechien und Rumänien, hegten damals weitaus größere Sympathien für die Intervention im Irak als die meisten Westeuropäer – wussten sie doch aus eigener Erfahrung, was das Leben unter repressiven Unrechtsregimen bedeutet. Sie reihten sich in die „Koalition der Willigen“ ein und schickten Truppen ins Zweistromland, obwohl einige von ihnen damals noch gar keine Nato−Mitglieder waren.

Danach ging es schnell. Während der Amtszeit von Bush II hat die Nato sieben neue Staaten aufgenommen, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, Bulgarien – und eben den jetzigen Gipfelgastgeber Rumänien. Russlands Befindlichkeiten ließ Washington bei dieser Ausdehnung weitgehend außer Acht. Aus Bushs Sicht kann Russland schließlich keine Angst davor haben, dass sich demokratische Staaten seinen Grenzen näherten. Schließlich führten Demokratien keinen Krieg gegeneinander. Doch diesem Frieden traut der russische Präsident nicht.

Im Februar 2007 platzte Wladimir Putin der Kragen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz wütete der Kreml−Chef gegen die aus seiner Sicht amerikanische Imperialpolitik: „Wir sind Zeuge einer ungezügelten Macht, die die grundlegenden Regeln des Völkerrechts missachtet“, dozierte er erregt. In den „militärischen Abenteuern“ Amerikas kämen „Tausende von friedlichen Menschen ums Leben. Wem kann das schon gefallen?“, fragte er, wohlwissend, dass solche Eindämmungsrhetorik vor allem bei der europäischen Linken Zustimmung findet.

Seitdem lässt Putin kaum eine Gelegenheit aus, einen Keil in die Nato zu treiben. Sein Lieblingsthema sind seit geraumer Zeit die US−Pläne, in Tschechien und Polen eine Radar− beziehungsweise Abfangstellung gegen Langstreckenraketen zu errichten, die irgendwann aus Iran oder Nordkorea gen Amerika oder Europa geschossen werden könnten. Der Kreml hat bisher alle amerikanischen Vorschläge einer Kooperation (Inspektionen in den Raketenstützpunkten, Einbeziehung Teile von Russlands in den Schutzschirm, Stationierung der Raketen erst, wenn Iran bedrohlich aufgerüstet hat) zurückgewiesen. Stattdessen versteht es Putin geschickt, in Westeuropa politische Urängste zu wecken: Noch einmal amerikanische Raketen auf eurem Boden, wollt ihr das wirklich?

Doch dies ist freilich nicht der einzige Grund, warum eine Reihe von westeuropäischen Staaten die amerikanischen Ambitionen einer Groß−Nato derzeit ein wenig bremsen. Deutschland, heißt es aus diplomatischen Kreisen, sei schon bei der Haltung zum Kandidatenland Albanien über seinen Schatten gesprungen (ursprünglich wollten die Deutschen eine Nato−Einladung an Tirana ablehnen, nun werden sie ihr voraussichtlich zustimmen). Nun auch noch der Ukraine und Georgien eine Beitrittsperspektive zu geben, sei verfrüht, heißt es. Schließlich sei die Ukraine in dieser Frage völlig gespalten, und Georgien habe noch immer mit den Regionalkonflikten in Abchasien und Südossetien zu kämpfen. Die beiden Länder in die Allianz einzuschließen hieße vor allem, Probleme zu importieren.

Diese Haltung nehmen dem Vernehmen nach neben Deutschland auch Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg ein. Hingegen unterstützen viele osteuropäische Staaten und Kanada – dort gibt es eine große ukrainische Diaspora – den US−Wunsch, die Ukraine und Georgien in den so genannten Membership Action Plan der Nato, kurz, MAP aufzunehmen. Auch dieses Akronym ist ein recht sprechendes. Denn der Weg jedes Staates, der in den MAP aufgenommen wird, wäre in der Tat wie auf einer Karte vorgezeichnet. Er führt in die Mitgliedschaft – ein anderer Ausweg ist nicht vorgesehen.

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* Während des Kalten Krieges der antizipierte Hauptkampfplatz zwischen den Truppen der Nato und des Warschauers Pakts

 

Coalitions of the willing – jetzt auch in Europa

Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy gab ganz den Rockstar, als er gestern spätabends, nach einer langen Sitzung mit den 27 Staatschefs der Europäischen Union, ins edle Hotel Amigo in Brüssel einkehrte. Eine Hotelbesucherin richtete in der Lobby die Digitalkamera auf den Franzosen, der daraufhin die Dame zu sich heranwinkte, „Jaja, ich bin’s!“ sagte, mit der Zunge schnalzte, eine cowboyhafte Positur einnahm und keck in die Linse lächelte. Klick, blitz. Winken, präsidialer Abgang in den Fahrstuhl.

Man hätte meinen können, der Mann hatte einen guten Tag.

Aber gehörte diese Brüsseler Ratssitzung nicht Angela Merkel? Hat sie es nicht geschafft, Sarkozys Pläne einer Mittelmeerunion zurück in die Bahnen gemeinsamer Außenpolitik mit den südlichen Anrainern der EU zu schieben? Sarkozy hatte vorgeschwebt, von Paris aus eine Art Club Mediterrane zu managen, eine Wirtschaftsförderungszone mit Nordafrika und dem Nahen Osten. Bei dieser Union sollten nach Sarkozys Vorstellung die nördlichen EU-Mitgliedsstaaten, also auch Deutschland, lediglich einen Beobachterstatus einnehmen. Dass der Mann für die Maghrebregion ehrgeizige nationale Exportpläne hat, zeigte zuletzt sein Atomkraftwerksdeal mit Libyens Diktator Ghaddafi.

Die EU hat, nicht zuletzt auf Druck der Kanzlerin, diese Sarkozy-Club-Gründung am Mittwoch gestoppt. Statt einer französischen Entente soll es nun eine EU-gesteuerte „Union für das Mittelmeer“ geben, die Algerien, Tunesien, Marokko, Ägypten, Libyen, Israel, die palästinensische Selbstverwaltung, Jordanien, den Libanon, Syrien und die Türkei einschließt.

Trotzdem, die gute Laune des französischen Präsidenten war nicht unbegründet. Denn Sarkozy hat es letzten Endes geschafft, der EU einen durchaus belebenden Elektroschock zu verpassen.

Die „Union für das Mittelmeer“, die jetzt am 13. Juli in Paris angeblich aus der Taufe gehoben werden soll, ist letztlich nichts anderes als ein neues Label für ein altes Produkt, das nie so richtig durchschlug. 1995 einigten sich die EU-Staaten mit den Mittelmeeranrainern auf den sogenannten Barcelona-Prozess. Darin einigten sich die Staats- und Regierungschefs, dass die Politik gegenüber den südlichen Mittelmeeranrainern die gesamte EU betrifft. Schließlich gehe es um Herausforderungen wie Migration, Extremismus, Klima- und Umweltpolitik oder den Friedensprozess im Nahen Osten.

Bloß, außer einem feierlichen Gründungsakt hat der Barcelona-Prozess nie viel erreicht. Weder gab es politische Diskussionen um die Verwendung der 16 Milliarden Euro, mit denen bis 2013 das Projekt unterstützt werden soll, noch wurden diese Gelder überhaupt in umfänglicher Weise verwendet. Zur Zehn-Jahresfeier des Barcelona-Prozesses, schreibt die Süddeutsche Zeitung, sei 2006 kein einziger Regierungschef aus den Mittelmeeranrainern erschienen.

Kurzum: Die Mittelmeerpolitik war der eingeschlafene Fuß der EU. Sarkozys erster Verdienst war es, kräftig darauf getreten zu haben.

Dieser Vorgang sollte die Europäische Union über den Tag hinaus wachrütteln. Denn Sarkozy ist nicht der Einzige, der unzufrieden ist mit der Art, wie die EU ihre angebliche gemeinsame Außenpolitik verfolgt. Gerade haben Tschechien, Estland und Lettland eigene Visa-Abkommen mit den USA ins Auge gefasst. Die Regierungen dort hatten es schlicht satt, auf entsprechende Initiativen aus Brüssel zu warten.

An solchen Zentrifugalerscheinungen zeigen sich Segen und Fluch der EU zugleich. Natürlich könnte ein Block von 27 Staaten gegenüber auswärtigen Verhandlungspartnern mehr Gewicht haben, wenn er geschlossen auftritt, etwa gegenüber amerikanischen Fluggastdaten-Begehrlichkeiten. Jedoch scheint es dem großen Sternenverbund nicht nur hier an Kohärenz, Effizienz und Nachdrücklichkeit zu mangeln.

Das war in einer EG der Sechs anders, und auch noch in einer EU der Fünfzehn. Nun aber wächst die Ungeduld alter und neuer Mitgliedsländer mit einem aufgeblähten Kommissarsapparat in Brüssel, der zwar immer wieder große Ideen präsentiert, etwa in der Visa- und Nachbarschaftspolitik, dessen tatsächliche Performance aber zu wünschen übrig lässt. Ob der Lissabon-Vertrag („EU-Verfassung“) daran etwas ändern kann oder die Prozesse noch verkompliziert, wird abzuwarten sein.

Womöglich aber gehört die Vorstellung, Frankreich und Deutschland könnten in einem erweiterten Europa von 27 Staaten noch ein Motor sein, bald der Vergangenheit an. In Zukunft, das zeigen die Pariser und Prager Absatzbewegungen, könnte es ganz andere Allianzen geben: coalitions of the willing innerhalb einer allzu multilateralen EU-Welt, wenn man so möchte.

Die Bundesregierung scheint diese Gefahr für den europäischen Zusammenhalt durchaus erkannt zu haben. „Der Impuls, etwas Dynamischeres aus der Mittelmeerunion zu machen, war ja nicht falsch“, ist aus deutschen Regierungskreisen zu hören. Allerdings habe man hier auf keinen Fall eine Präzedenz zulassen dürfen. Schließlich könne es nicht sein, dass sich immer wieder Gruppen zusammenfänden, die glauben, sie könnten die Dinge in Exklusivität schneller und besser regeln – und dafür womöglich auch noch EU-Gelder nutzen.

Der Club-Mediterrane-Streit war, zweiter Verdienst Sarkozys, auch ein echter Fortschritt an Klarheit in den deutsch-französischen Beziehungen. Bisher, so formuliert es ein erfahrener deutscher Diplomat, „war man sich auch einig, sich einig zu sein, wenn man sich nicht einig war. Nach Außen hat man das dann als Einigkeit verkauft.”

Ist es nicht irgendwie angenehm, dass sich das gerade zu ändern scheint?