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Mach’s allein, Obama (Teil II)

Warum es die Europäische Union im Gegensatz zu den USA nicht schafft, genügend Polizeiausbilder nach Afghanistan zu bekommen

(Videobeitrag inklusive)

Kabul

82 000 einheimischen Polizisten versehen laut Angaben der Nato bisher in Afghanistan ihren Dienst. Das sind offenkundig viel zu wenige für ein konfliktgebeuteltes Land von 32 Millionen Menschen (in Deutschland, zum Vergleich, gibt es bei 80 Millionen Einwohnern etwa 250 000 Beamte). Die amerikanische Regierung will nun, dass es mehr werden. Und zwar schnell. Notfalls mit einem 8-wöchigen Crashkurs, so ähnlich, wie er bereits zum raschen Aufwuchs der afghanischen Armee praktiziert wird (siehe dazu unser VIDEO).

Schließlich stehen im August Wahlen an in Afghanistan, und bis dahin sollen so viele Uniformierte wie möglich auf den Straßen patrouillieren.

„Wir wissen, dass man die Polizei zu ordentlichen Gesetzeshütern erziehen muss“, sagt der amerikanische General Richard P. Formica. Der stämmige Offizier koordiniert im US-Hauptquartier in Kabul den Polizeiaufbau im Land. „Aber um ein Gesetzeshüter zu sein, muss man erstmal überleben. Und dabei helfen wir ihnen.“ Natürlich gebe es auch eine Polizeiakademie, an der in 3jährigen Kursen Polizisten für höhere Ränge ausbildet würden, sagt Formica. „Bloß kriegt man“, sagt er mit durchaus donnernder Stimme, „keine Zehntausende Polizisten auf die Straße, wenn man sie alle an die Uni schickt.“

Zumal der Job für Einsteiger neben 120 Dollar monatlich eine gesteigerte Lebensgefahr mit sich bringt. 2000 Polizisten, heißt es, seien 2008 getötet worden. Die neue staatliche Ordnungstruppe ist das erste Ziel für Taliban und Drogenbarone. „Es mag grob klingen“, ergänzt der britische Brigadegeneral Neil Baverstock, „aber wir brauchen einfach erstmal eine Präsenztruppe da draußen.“ Großbritannien macht’s deshalb wie Amerika: Es setzt Soldaten ein, um Polizisten zu trainieren.

Der US-General Formica, ein Irak-Kriegs-Veteran, freut sich deshalb über den neuen Wind, der seit der Einsetzung der Obama-Regierung in Washington wehe: „Im Irak, wenn wir da etwas brauchten, haben wir es bekommen. In Afghanistan, wenn wir da etwas brauchten, haben wir uns überlegt, wie wir ohne es zurechtkommen. Das ändert sich gerade. Wir spüren, dass die Regierung es ernst meint mit ihren neuen Prioritäten.“

Wie anders hingegen die Stimmung, die im Hauptquartier der europäischen Polizeimission EUPOL in Kabul herrscht. Die EU-Ausbilder residieren in einem neuen zweistöckigen Bürogebäude von ausgesuchter Behaglichkeit, mit begrüntem Atrium und heimischem roten Backstein. Ein paar Afghanen liefern gerade schmucke, handgeknüpfte Teppiche an, die ein paar deutsche Polizisten fachmännisch in Augenschein nehmen.

Das EU-Projekt hat deutsche Wurzeln – und nicht alle hier sind gut auf die beiden Missionschefs zu sprechen, die Berlin nach Kabul entsandt hatte. „Das war ein Kaffee-Job für die, ein gut bezahlter Kaffee-Job“, lästert ein nordeuropäischer Diplomat.

Mittlerweile hat der Däne Kai Vittrup die Leitung von EUPOL übernommen. Er ist ein drahtiger Mann, dem anzumerken ist, wie er für seine Aufgabe brennt. Noch ist er nicht dazu gekommen, in seinem Büro Bilder aufzuhängen, und im Zimmer nebenan wird gerade heftig gehämmert und gebohrt. „Wir müssen für Ergebnisse sorgen“, sagt Vittrup ungeduldig. „Ich will auch Leute in den (gefährlichen) Osten des Landes rausschicken. Aber dazu brauchen wir Unterkünfte und die logistische Einbindung ins Militär.“

Vittrups größtes Problem, sagt er, bestehe darin, dass sich europäische Polizisten, anders als Soldaten, nicht nach Afghanistan zwingen ließen. Der Einsatz im Ausland ist freiwillig, und wer den Schritt von Zuhause weg schon wage, sagt Vittrup, der wähle als Standort doch eher das Kosovo oder Georgien statt Afghanistan. „Da ist es viel freundlicher. Da gibt es schöne Innenstädte und Straßencafés. Die Optionen für Kabul sind etwas andere. Hier kann man getötet werden.“ Das mache einen Einsatz in Afghanistan auch für Frau und Kind schwer vermittelbar.

Das Resultat: Der EU-Mission fehlen noch immer viel zu viele Ausbilder. 30 000 Polizisten will Vittrup in den nächsten Jahren ausbilden. Doch dafür müsste er viel mehr Trainer hinaus in die Städte schicken können, nach Mazar-i-Sharif oder nach Herat. „Wir können nur hoffen“, resümiert der Däne, „dass sich mehr Freiwillige finden.“

Vielleicht könnte es helfen, wenn die Europäische Union die Anreize für Polizisten erhöhen würden, sich auf die Mission zu begeben. Denn bisher scheinen vor allem zwei Motivationen EU-Polizisten nach Afghanistan zu treiben, auf die niemand setzen kann, der eine Vielzahl von Beamten braucht: Idealismus für die Sache und Frust in der Heimat.

Von beiden berichtet der deutsche Bundespolizist Martin Heyne. Der 38jährige Beamte entschied sich 2005, für neun Monate als Aufbauhelfer nach Kabul zu gehen. Neben dem „starken inneren Wunsch, sich einer herausfordernden Auslandsverwendung zu stellen“, sagt Heyne, habe er auch nach einer Erleichterung für sein Privatleben gesucht.

„Ich denke, dass Auslandsverwendungen oft eine Flucht vor einer Situation in der Heimat sind. Ich selbst befand mich in einer Ehekrise. Nach dem ersten Heimaturlaub, aus der Distanz heraus, habe ich mich dann einvernehmlich von meiner Frau getrennt. 2006 habe ich mich scheiden lassen. Andere Kollegen haben ähnliche Erfahrungen gemacht.“

Und Heyne machte noch eine Erfahrung, von der viele Afghanistan-Rückkehrer berichten. Er fing sich eine Darmerkrankung ein, die langwierig tropenmedizinisch behandelt werden musste. Bis heute, sagt Heyne, leide er unter erheblichen Magen-Darm-Problemen. „Ich denke, sie hängen mit psychischem Stress zusammen, der zumindest zum Teil wohl auch auf die Auslandsverwendung zurückgeht.“ In der Rückschau sei die Zeit in Kabul ein „knallharter Knochenjob“ gewesen. Würde er ihn zu denselben Bedingungen noch einmal machen? Ja, sagt der Beamte, der derzeit am Frankfurter Flughaften Dienst tut – „wenn die Gesundheit wieder stimmt“.

Denn Heyne glaubt trotz aller zahlenmäßigen Erfolge der Amerikaner, dass die deutsche Methode beim Polizeiaufbau erfolgversprechender sei.

„Ohne die für uns typische Gründlichkeit und Nachhaltigkeit kaum Aussicht auf ein Missionsende besteht. Denn die endemische Korruption in Afghanistan und die aus sozialem Verständnis heraus gewachsene Vetternwirtschaft machen jede auf kurze Sicht geplante Maßnahmen zu einem Debakel. Mein Motto für den Afghanistan-Einsatz lautete immer: Entweder wir machen es richtig oder gar nicht.“

Die holländischen Soldaten in Kandahar freuen sich derweil auf die Truppenverstärkung aus Amerika. Die Krieger, die jetzt Tag für Tag auf dem Airfield im Süden landen, zählen zu den feuerstärksten, modernsten Einheiten, die die USA zu bieten haben. Die „2nd Marine Expeditionary Brigade“ rauscht heran, nebst einer „Combat Aviation Brigade“ mit 100 Kampfhubschraubern. Nach Nation Building klingt das nicht gerade.

Keine Sorge, sagen die Holländer. „Das Kommando hier führen wir. Und unsere Strategie ist gut. Die Amerikaner werden sich der anpassen müssen.“ Das heiße konkret: Nicht den Kampf suchen, sondern Sicherheitsdienste leisten für jene Afghanen, die ihr Land voranbringen wollen. Für Polizisten, Lehrer, Bauarbeiter. Sieben niederländische Offiziere seien schon im Pentagon gewesen und hätten ihre Counterparts dort entsprechend eingestimmt. „Die wissen jetzt, was Sache ist. Ihre Hauptaufgabe ist es nicht, die Taliban zu besiegen, sondern die Bevölkerung für sich zu gewinnen.“

Auch so kann transatlantische Zusammenarbeit aussehen. Wenn Europa sich was traut.

 

Mach’s allein, Obama

Der neue US-Präsident will Afghanistan in den Griff bekommen. Schnell und mit vielen Soldaten. Doch die Europäer halten sich genauso zurück wie zu Bush-Zeiten

(Video-Beitrag inklusive)


Kandahar/Kabul

Plötzlich kommt Hektik auf im Konferenzraum des Provincial Reconstruction Team (PRT) in Kandahar. „Unten in der Stadt werden gerade Explosionen gemeldet“, sagt einer der kanadischen Aufbauhelfer. Gerade eben noch hatten die Mitarbeiter des PRT, Diplomaten, Polizisten und Soldaten aus Amerika und Kandahar, dem Reporter ihre mühevolle Arbeit nahe gebracht. Wie sie afghanischen Polizeirekruten den Umgang mit Waffen beibringen. Wie sie afghanische Gefängniswärter anleiten, Häftlinge in den Griff zu bekommen. Wie sie helfen, einen Staudamm und eine Universität aufzubauen, wie sie afghanische Kinder gegen Polio impfen, wie sie Schulen errichte. Da kracht der Gegner ins Briefing.

Gleich drei Selbstmordattentäter, stellt sich wenig später heraus, haben den Palast des Gouverneurs von Kandahar angegriffen. Einen von ihnen konnten Wachleute erschießen, die beiden anderen aber rissen ein Dutzend Afghanen mit in den Tod, als sie ihre Bomben zündeten.

Es ist der blutige Alltag Südafghanistans. Hier, wo die Taliban einst ihre Hochburg hatten, hier, wo die üppigsten Mohnfelder blühen und die dicksten Drogenprofite erwirtschaftet werden, tobt der Widerstand gegen die Modernisierung von Menschen und Land am erbittertsten. Zwar, versichern Nato-Militärs, werde das westliche Bündnis von den Taliban nicht mehr in offene Feldschlachten hineingezogen. Doch Gefechte mit regelrechten Kompanien von Angreifern gebe es immer noch.

Mal berichten afghanische Zeitungen von 40 Taliban, die getötet wurden, mal von 80, und immer wieder auch davon, dass unschuldige Zivilisten durch die Luftschläge der Isaf-Truppe ums Leben kamen. Die Nato, heißt es, betreibe zwar keinen „Body Count“, also keine Opferzählung. Doch intern, so ist zu erfahren, geht das Bündnis davon aus, dass es im vergangenen Jahr in Kämpfen zwischen 15.000 und 20.0000 Taliban getötet habe. Kollateralschäden bleiben da nicht aus.

Und doch, die Nato glaubt sich auf dem richtigen Weg. „Der Gegner ändert die Methoden, und das zeigt, wie schwach er ist“, sagt ein niederländischer Offizier im Kandahar Air Field, einem gewaltigen Feldlager mit 17.000 Nato-Soldaten. Tag und Nacht landen und starten hier gewaltige Transportmaschinen, die immer mehr Soldaten in den Süden schaffen. Zwischendurch rauschen Hubschrauber übers Camp, zischen Kampfjets und raketenbestückte Drohnen über die Startbahn.

„Die Taliban wissen, wenn sie uns offen angreifen, verlieren sie. Also verlegen sie sich auf Straßenbomben und Hinterhalte.“ Über 2100 solcher „Vorkommnisse“, wie es im Militär-Sprech heißt, habe es im vergangenen Jahr gegen die Nato-Soldaten im Süden gegeben, das sei eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Und trotz aller Panzerwagen sterben dabei immer wieder junge Soldaten, vor allem Amerikaner (siehe dazu auch unser Video).

Barack Obama will das Blatt in Afghanistan jetzt endgültig wenden. Mehr als 20.000 Soldaten siedelt der US-Präsident dafür um, aus dem falschen Krieg im Irak, in den richtigen Krieg am Hindukusch. In Kanadahar hat der „Surge“ schon begonnen. Die neuen US-Soldaten, die hier Tag für Tag eintreffen, sind derzeit noch in Zelten untergebracht. Doch am Rande des gewaltigen Feldlager planieren Caterpillars schon das Terrain für neue feste Unterkünfte.

Die west-europäischen Staaten innerhalb der Nato sind mit Obama immerhin insoweit einig, als sie seine Irakkriegs-Bewertung teilen. Eine Herzensangelegenheit wird ihnen die Afghanistanmission deswegen allerdings noch lange nicht.

„Wenn man heute noch sagt, auch unsere Sicherheit werde am Hindukusch verteidigte, erntet man doch nur Lächeln“, gestand Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, gegenüber dem Publikum des Brussels Forum, einer Debattenveranstaltung zu dem der German Marshall Fund im März hochrangige Politiker aus aller Welt zusammen gebracht hatte. „60 Prozent unserer Bevölkerung sind gegen die Mission“, erinnerte der CDU-Abgeordnete Polenz.
Zwar stellen die Deutschen mit über 3500 Soldaten das drittgrößte Kontingent der internationalen Aufbautruppe (Isaf), aber sie scheuen jede Aktion, die als Kampfeinsatz gewertet werden könnte. Deswegen sind sie, abgesehen von ein paar Dutzend Fernmeldetechnikern im Camp Kandahar, nur im Norden eingesetzt.

In Frankreich, dem anderen großen west-europäischen Bündnisland, fordert die Opposition, die Regierung möge endlich einen Zeitplan erstellen, wann die Nato mit der leidigen Mission zu Ende sei.

Ist Afghanistan also das verklingende Echo eines Bündnisversprechens, an das die Europäer 20 Jahre nach dem Mauerfall in Wahrheit schon lange nicht mehr glauben? Und das, obwohl sich die Lage im Süden womöglich stabilisieren ließe, zögen jetzt alle an einem Strang?

Trotz des Sympathie-Bonus Obama zweifeln Amerikas Außenpolitiker daran, ob Europa in Afghanistan wirklich Frieden will, oder ob es nicht eher mit Afghanistan in Frieden gelassen werden möchte. „Fühlt sich Europa der Aufgabe wirklich so verpflichtet wie die Vereinigten Staaten es tun?“, fragt der scheidende US-Nato-Botschafter Kurt Volker. Vielleicht, schlägt er vor, wäre es ganz gut, die öffentliche Meinung für das Projekt zurück zu gewinnen.

Ganze 177 Polizeiausbilder hat die „soft power“ Europäische Union bis heute für den Wiederaufbau aufgetrieben – und ist damit mitverantwortlich dafür, dass Afghanistan noch weit entfernt ist von jener „selbsttragenden Sicherheit“, die sich die internationale Gemeinschaft so dringend wünscht. „Die Polizei ist in keinem guten Zustand“, mahnte in Brüssel der neue US-Beauftragte für Afghanistan und Pakistan, Richard Holbrooke. Er fordert „einen sehr beträchtlichen Zuwachs“ an Sicherheitskräften. Doch wer sich in diesem Frühjahr in Afghanistan umschaut, der sieht: Ein Obama-Effekt schlägt sich in der europäischen Politik kaum nieder. Den harten Teil des Wiederaufbaus am Hindukusch überlässt die EU ebenso wie zu Bush-Zeiten den Angelsachsen.

Lesen Sie mehr dazu im zweiten Teil demnächst auf ZEITonline

 

Im Hybridmotor der Welt

Wie und wo findet in Brüssel eigentlich Politik statt?

Eine Suche, aus Anlaß der Europawahlen am 7. Juni

(Video-Beitrag inklusive)

Auguste Comte, der Gründervater der Soziologie, gestorben 1857, würde wahrscheinlich in Jubelgeschrei ausbrechen, wenn wir ihn durch das Verwaltungsviertel der Europäischen Union führen könnten. Mit feuchten Augen würde er, der zukunftsgläubige Funktionalist, vor dem 14-stöckigen Berlaymont-Gebäude in Brüssel verharren, dem Hauptquartier der Europäischen Kommission. „Na also!“, hören wir Comte rufen. „Es geht geht doch: Ordnung und Fortschritt! Das dritte und perfekte Gesellschaftszeitalter!“

Ach, Häuptlinge, Könige und Kaiser mussten Europa in einer ersten Entwicklungsphase verheeren, in einer zweiten dann übernahm das Volk die Souveränität – aber jetzt, endlich: die Herrschaft der Eliten! Im Brüsseler EU-Viertel regieren nicht mehr die Intriganten und Manipulatoren der „Politik“, hier lösen Sozialingenieure die Probleme eines Kontinents, mit gebührender Expertise und wissenschaftlicher Präzision. Famos!

Ja, es stimmt schon. Die EU-Kommission ist eine post-demokratische Behörde. Keiner der 27 Kommissare oder ihrer Generaldirektoren, die hier neue Regeln für das vereinte Europa erdenken und darüber wachen, dass die bestehenden eingehalten werden, ist vom Volk gewählt. Und wenn einer von ihnen geht und ein neuer kommt (so wie kürzlich eine, äh, Litauerin?) – welcher Bürger bekommt das schon mit? Hinter der futuristischen Glasfassade des Berlaymont herrscht eine überstaatliche Geschäftsführerdemokratie, ein Massenmanagement, das keinen Streit, keine Parteien, keine Helden und keine Tragik mehr kennt, sondern nur noch soziale Physik und juristische Mechanik.

Ist Brüssel, ist die EU die Endstation der „Politik“, wie wir sie kennen?

Unser Auguste Comtes jedenfalls lächelt immer noch ganz verzückt, als wir seinen Kopf sanft nach rechts drehen, über die Rue de la Loi hinweg. Dort, auf der anderen Seite des Brüsseler EU-Viertels, liegt das klotzige Marmorgebäude des Europäischen Rates.

„Da drin“, flüstern wir Comte so schonend wie möglich zu, „treffen sich regelmäßig die 27 Regierungschefs der EU. Und weißt du was? Manchmal benehmen sie sich wie die Kinder. Sie feilschen um Macht, Geld und Ruhm. Ganz im Innern gibt es sogar einen Raum, den sie ‚Beichtstuhl’ nennen. Er ist schalldicht und hat grässliche Neonröhren. In ihm werden die ganz renitenten Staatschefs einzeln ins Gebet genommen, wenn sie aus reinem nationalen Egoismus Beschlüsse blockieren.“

Der arme Comte. Wie ihm die Gesichtszüge entgleiten.

Denn im Ratsgebäude ist sie noch zuhause, die große, alte Politik. Hier übertrumpfen westeuropäische Großmächte osteuropäischen Neulinge, hier fließen Schweiß, Tränen und Millionen, hier haben keine bürokratischen Haarspalter Zutritt, sondern nur die mächtigsten Kofferträger aller Himmelsrichtungen.

Wer die Wahrheit über das politische Wesen der EU sucht, der muss sich mitten auf die Rue de la Loi stellen und den Blick wandern lassen. Hin und Her. Vom Berlaymont, der supranationalen Dimension Europas, wo gepoolte staatliche Souveränität verwaltet wird. Agrarbeihilfen. Wettbewerbsrecht. Freihandel. Und hinüber zum Rat, der intergouvernmentalen Dimension Europas, wo die Staatschefs erbittert um Konsense im Großen ringen: Militärmissionen. Klimapakete. Bankenrettungen.
Das Berlaymont ist die gebäudegewordene Folge zweier Weltkriege. Der Rat ist die Arena jener einzelstaatlichen Machtansprüche, die sie überlebt haben.

Machtanspruch der USA, Funktionsprinzip der UN

Tatsächlich changiert die EU permanent zwischen diesen beiden Regierungsformen, zwischen verwalteter Einheit und erkämpfter Einigkeit. Deswegen ist der Eindruck nicht ganz falsch, diese Union sei ein Staatenbund mit den Großmachtansprüchen der USA und dem Funktionsprinzip der UN.

Ungefähr zwischen diesen Polen bewegt sich konsequenter Weise auch die Wertschätzung ihrer „User“. Für die einen Menschen liegt Brüssel unter dem Heiligenschein ewigen kantischen Friedensversprechens. Andere verteufeln das Bürokratie-Europa als EUdSSR, als neosowjetischen Regelungskraken. Eine gesunde mittlere Meinung scheint die EU bislang ebenso selten zu finden wie – für sich selbst – einen gesunden Mittelweg.

Liegt genau darin womöglich das Geheimnis ihres unauffälligen Erfolges?

„Das Modell EU, so schwierig wie es ist, ist ein ziemlich gutes“, sagt ein deutsches Regierungsmitglied selbstbewusst auf dem Höhepunkt der Finanzkrise. „Sicher, wir sind bedächtigter, kollektiver und langsamer als andere. Aber genau deswegen sind wir eben manchmal auch überlegter und angemessener in unseren Reaktionen.“

Vielleicht, ja, könnte sich die Entdeckung der Langsamkeit noch als nachhaltiger Marktvorteil für die EU entpuppen. Denn unter den politischen Systemen dieser Welt ist sie so etwas wie der Hybridmotor. Es gibt den stillen Generator Kommission – und die geregelte Brennstoffzufuhr aus den schwungmächtigen Hauptstädten. Europa funktioniert durch ständige Selbstkorrektur.

Für den Augenblick allerdings bleibt genau diese Doppelnatur das schwerste PR-Problem der EU. Brüssel riecht mehr nach Maschinenraum als nach Steuerstand. Das wittern viele Polit-Akteure, die in die Europastadt fliegen. Oder hier lieber gar nicht erst antanzen.

Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden

Es ist ein warmer Frühsommerabend. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, Verbindungsbüro Brüssel, lädt zum Empfang. Der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, soll sprechen. Eine ansehnliche Zahl deutscher Zeitungsjournalisten rücken an, sie sind gespannt, immerhin hatte Sommer kurz nach seiner Wahl angekündigt, der europäischen Gewerkschaftsarbeit „Priorität“ einräumen zu wollen. Doch Sommer erscheint nicht.

Stattdessen tritt ein der Medienwelt unbekanntes DGB-Vorstandsmitglied ans Mikrofon und entschuldigt den Chef. Sommer sei wegen „dringender kurzfristiger Verpflichtungen“ leider verhindert. Am selben Abend fängt eine Kamera der ARD den Gewerkschaftschef gutgelaunt auf dem Sommerfest der SPD in Berlin ein. Das Brüsseler Journalistencorps ist gegen solche Enttäuschungen längst abgehärtet. Man weiß ja: Mit Europathemen muss die Öffentlichkeit gleichsam zwangsernährt werden. Denn ganz egal, wie wichtig es ist, was rund um die Rue de la Loi entschieden wird – es ist immer wahnsinnig komplex.

Was kann, was darf, das Europaparlament?

Im Foyer des Europäischen Parlaments wird das Unüberschaubare anschaulich. Endlose Rolltreppenbahnen, Aufzugschächten und Abzweigungen verwirren den Besucher, Assistenten sortieren Dokumente in riesige Regalablagen. Die Abgeordneten-Büros tragen Bezeichnungen wie ASP 7G 351. Sie stehen für Gebäudeteil, Geschoss und Zimmernummer. Deswegen treffen sich Parlamentarier und Journalisten lieber in der „Mickey-Mouse-Bar“, unverfehlbar gelegen neben dem gewaltigen Plenarsaal für die 785 Abgeordneten. In einem der grellbunten Designersessel sitzt Alexander Alvaro, 34, deutsches Mitglied der europäischen Fraktion der Liberalen. Fast verzweifelt klopft er auf einen Stapel Papiere herum, die vor ihm auf dem Kaffeetisch liegen. Es geht um Vorschläge, der die EU-Justizkommissar zur biometrischen Grenzkontrolle gemacht hat. Oder?

„Das ist ja erst einmal nur eine Mitteilung, das hat noch keinen legislativen Charakter“, sagt Alvaro und blättert durch die Unterlagen. Und was macht er jetzt damit, er als Abgeordneter? Alvaro zuckt mit den Schultern und muss bedauern. Außer es zur Kenntnis zur nehmen? „Erstmal nichts.“
Der junge Jurist ist ein kenntnisreicher und engagierter Kämpfer gegen zu viel Datensammelei in Europa. Aber was kann er tatsächlich ausrichten, wenn, beispielsweise, der Europäische Rat beschließt, künftig aller Reisepässe mit Gesichtsfeldkoordinaten und Fingerabdrücken zu versehen?

Das Europaparlament kann solche Gesetzgebung prinzipiell nicht aufhalten, es kann nur seine Meinung zu ihr abgeben und Änderungen anregen. Und als das Plenum schließlich über den Biometriepass abzustimmen hatte, da stimmte es mit 471 zu 118 Stimmen zu. Kein Wunder, dass einige Angeordnete sich in Resolutionitis ergehen, im Beschließen und Schlussfolgern, im Entschließen und Anregen. „Ich frage mich schon manchmal, wofür wir hier eigentlich unsere Arbeitskraft einsetzen“, erregt sich ein ungarischer Abgeordneter, „da schreibt man monatelang an Berichten, und die Kommission schmeist sie anschließend in den Mülleimer.“

Zu beachtlichem Nutzen kann das EP derweil sein Gewicht in die Außenpolitik einbringen – wie der Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff in einem Video-Interview erklärt.

„EU heißt Konsens, nicht Krawall“

Im Brüsseler Plenarsaal lohnt es sich schlicht nicht, Missklänge zu erzeugen. Schließlich ist das Europaparlament nur dann stark, wenn es gegenüber der Kommission geschlossen auftritt. „EU heißt Konsens, nicht Krawall“, sagt der scheidende Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering. Der CDU-Mann ist der große Zampano der Harmonie. Seine Reden versprühen konsequenterweise so viel Esprit wie eine Pommesbude. Wie, bitteschön, soll bei all dieser zwanghaften Euro-Wellness Drama und, in der Folge, öffentliches Interesse am Brüsseler Geschehen entstehen?

Gar nicht, sagt einer, der eigentlich genau dafür sorgen sollte. Es ist Abend am Place Luxembourg. Die untergehende Sonne spiegelt sich in der gewaltigen Front des Europa-Parlaments. Von hier aus wirkt das ganze klobige EU-Viertel wie ein gigantisches Raumschiff, das, von Osten anfliegend, halb Brüssel unter sich begraben und erst kurz vorm pittoresken „Place Lux“ knirschend zum Stehen gekommen ist.
Es ist der After-work-Treff der Generation Erasmus. Abgeordnete, Lobbyisten und Pressemenschen stehen in Trauben vor den Bierlokalen. Enthusiasmierte Praktikantinnen in kurzen Röcken treffen junge Männer mit gelockerten Krawatten, um über Regionalförderung oder die CO2-Ziele zu reden. Hier pflanzt sich Europa fort.

„Die EU wird immer ein Raumschiff bleiben. Sie muss abgehoben sein.“ Axel Heyer, Pressesprecher der Liberalen-Fraktion, macht seiner Kundschaft keine falschen Hoffnungen. „Ich meine, immerhin hat sie die Aufsicht über 27 Staaten auszuüben. Das menschelt nicht. Allerdings muss das Raumschiff besuchbar bleiben. Und ihr Journalisten müsst den Funkverkehr abhören können.“

Im Saal „Ambassadeur“ öffnet sich die Kanzlerin

Das dürfen die Journalisten in der Tat. Sie hören sogar ziemlich viel Intimes von der Kommandobrücke. Leider darf das meiste davon nicht in die Öffentlichkeit gelangen, denn die Journalisten erfahren es bei so genannten „Kamingesprächen“. Nach jedem Treffen des Europäischen Rates laden Kanzlerin und Außenminister die deutschen Europa-Korrespondenten ins edle Hotel Amigo ein, gleich hinter dem mittelalterlichen Grande Place von Brüssel. Es ist meist nach Mitternacht, wenn die Staatschefs ihr gemeinsames Abendessen beendet haben und Merkel eintrifft. Die Journalisten folgen ihr gespannt durchs Foyer, denn sie wissen, sobald sich die Flügeltüren des Saales „Ambassadeur“ schließen, öffnet sich die Kanzlerin.

Was sie dann sagt, ist wie gesagt Tabu. Nicht aber, was sie mit dem sagt, was sie sagt. Mit dem, was sie sagt, sagt sie zum Beispiel, dass die EU oftmals ähnlich simpel funktioniert wie ein Brettspiel. Dass die Auseinadersetzungen im Rat so spannend sein können wie ein WM-Endspiel. Dass manchmal schlicht die Charaktere und Launen von Regierungschefs, stammen sie nun aus Rom, Paris oder Warschau, den Ausschlag für wichtige Entscheidungen geben können. Das Vokabular der Kanzlerin steckt an solchen Abenden voll mit Kardinaltugenden und -sünden, mit Vornamen europäischer Staatschefs und einfachen, deutlichen Worten.

Wenn sich die Türen des Kaminzimmers allerdings wieder öffnen und Merkel in die Fernsehscheinwerfer tritt, erstarrt sie sofort in gewohnte europäischer Konsenssklerose. Man sei, man habe, wichtige Schritte, guten Fortschritt, in guter Atmosphäre, unter Einbeziehung aller, wie Sie wissen, vielen Dank.

Es ist spät geworden. Die Polizeibarrieren an der Rue de la Loi sind abgebaut, die Staatslimousinen und Ü-Wagen vorm Ratsgebäude verschwunden. Nur drüben, im Berlaymont, brennt noch Licht.

 

Topolanek: „Der Vertrag ist schlecht“

Es ist schon erstaunlich, welches Geständnis der Europa-Korrespondent der BBC, Mark Mardell, dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek über den Vertrag von Lissabon entlockt hat.

„Der Vertrag ist schlecht, und wir sind uns im Klaren darüber.“

Topolaneks christdemokratische Regierung hat in den vergangenen Monaten die EU-Ratspräsidentschaft innegehabt. Während dieser Zeit hat er sein politisches Gewicht dafür eingesetzt, den Vertrag durch den Prager Senat zu bekommen. Der stimmte dem Reformwerk Anfang Mai – zum großen Aufatmen Brüssels – zu.

Was hat Topolanek dazu bewogen, die Ratifizierung eines Vertrags voranzutreiben, den er für nicht gelungen hält?

„Wir haben den Vertrag unter anderem deshalb unterstützt“, sagte er Mark Mardell, „weil wir die Regierungspartei waren und weil wir einem Kompromiss auf Ebene des Europäischen Rates zugestimmt haben. Wenn wir den Lissabon-Vertrag nicht unterzeichnet hätten, hätten wir keine Chance, unsere nationalen Interessen voranzubringen.
Das ist der Hauptgrund gewesen. Es war das kleinere von zwei Übeln.“

Fragt sich bloß, wie gut dieser Handel war. Ob es Tschechien also langfristig mehr nützt, mit einer – nach Topolaneks Ansicht – schlechten EU-Verfassung zu leben als sich dieser Perspektive entgegenzustellen.

 

Die Mitbewerber

Hans-Gert Pöttering (CDU) und Martin Schulz (SPD) sind die deutschen Spitzenkandidaten für die Europawahl.

Darf man sich da streiten?

Kann ein Mensch an einer Überdosis Würde leiden? An zu viel der Gravitas, die er glaubt, in sein Amt legen zu müssen?
Es ist sein Tag im gewaltigen Plenarrund des Europäischen Parlaments in Straßburg. Eine der letzten Sitzungen dieser Legislaturperiode ist dem Abgang von Hans-Gert Pöttering gewidmet. Nach der üblichen Halbzeit von zweieinhalb Jahren räumt der 63jährige Niedersachse den Posten des Parlamentspräsidenten. Bei der Europawahl am 7. Juni geht er, Grand Seigneur der deutschen EU-Politikergarde, noch einmal als CDU-Spitzenkandidat ins Rennen.

Als „außerordentlich würdig“ lobt seine Mehrheitsfraktion, die konservative Europäische Volkspartei (EVP), die zurückliegende Amtsführung. „Große Würde“ bescheinigen ihm auch die Sozialdemokraten. „Fairness und Bescheidenheit“, rufen ihm die Liberalen nach, eine „ehrenvolle Zeit“ Grüne und Linke.

Dann aber erhebt sich der unabhängige britische Abgeordnete Daniel Hannan aus seinem blauen Sessel weiter hinten im Saal. „Sie, Herr Präsident“, zürnt er gegen die Mehrheitsstimmung an, „haben eine intuitive Abneigung gegen Minderheitengruppen! Warum haben Sie uns unsere Plakate gegen den Lissabon-Vertrag entreißen lassen, während sie andere Meinungskundgaben geduldet haben? Für Sie ist nicht die Meinungsfreiheit das höchste Gut, sondern die EU!“

Pöttering sitzt aufrecht, massiert gewohnt gelassen die Hände vor der Brust. Mehr als 27 Jahre lang hat er, eine Halbwaise des Zweiten Weltkrieges, auf den Posten des EP-Präsidenten hingearbeitet, schon 1979 ist er eingezogen ins erste direkt gewählte Europaparlament, er wollte nie weg aus Brüssel, anders als andere Politiker, denen das Europaparlament bisweilen nur als Wartesaal für prominentere, nationale Posten dient. Die vergangenen Jahre waren die Krönung seiner Laufbahn. Und jetzt, da ihm die Messe gelesen wird, wagt einer eine handfeste Beleidigung.

Doch was antwortet Pöttering?

„Okay“, sagt er ohne erkennbare Regung, „nehmen wir das mal so zur Kenntnis.“

Wäre die technische Wissenschaft schon so weit, dass sie für Aufgaben wie Europaparlamentsvorsitzende Protokollroboter herstellen könnte, es würde etwas sehr Pöttering-ähnliches dabei herauskommen. „Natürlich lehne ich eine Haltung ab, die sich gegen die europäische Einigung stellt“, sagt er später über den Ausbruch des Briten. „Aber ich respektiere natürlich den Menschen. Denn die Würde des Menschen steht für mich im Mittelpunkt. Bei allem.“

Mit einer Beleidigung im selben Hause hingegen begann der – jedenfalls mediale – Aufstieg des europäischen Spitzenkandidaten der SPD, Martin Schulz. Am 2. Juli 2003 spricht anlässlich der Ratspräsidentschaft seines Landes der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi im Europäischen Parlament. Schulz, schon damals Fraktionsvorsitzender der Europäischen Sozialdemokraten, will die Gelegenheit nutzen, um, wie er heute sagt, „auf Demokratiedefizite hinzuweisen.“

Der gelernte Buchhändler aus Würselen bei Aachen nennt sich selbst „ein recht unverstelltes rheinisches Temperament.“ Der entsprechende Dialekt („Frau Merkel amüsiert sich immer darüber.“) trägt ein theatralisches Detail zu seinem Ruf des Kämpfers, ja des Geiferers bei. Wenn Schulz „Europäische Union“ sagt, sagt er „EuropäICHe Union“. Wenn ihm einer im Parlament querkommt, schallt es schon mal „Arschloch“ durch die Reihen.

Dieser Martin Schulz also fragt Berlusconi an diesem Sommertag, ob Berlusconi nicht den europäischen Haftbefehl vorantreiben wolle (der ihm selbst gefährlich werden könnte)? Der Italiener antwortet Schulz, bei ihm zuhause werde gerade ein Film über ein Konzentrationslager gedreht. „Ich werde Sie für die Rolle des Kapo vorschlagen. Sie sind perfekt geeinigt dafür!“ Kapos waren KZ-Häftlinge, die die SS auswählte, um andere Gefangene zu beaufsichtigen.

Der Vergleich entlarvt nicht nur live Berlusconis Denken, er eint auch die Staatschefs der EU in Entsetzen. Schulz verhilft so, bei aller Unrühmlichkeit des Anlasses, der EU zu einem identitätsstiftenden Moment. Und sich selbst zu Berühmtheit. In Italien jedenfalls kennt den 53jährigen bis heute jedes Kind – kaum jemand hingegen die nationalen EU-Abgeordneten. Kein Wunder, dass die gerade begonnene Wahlkampftour des SPD-Spitzenkandidaten neben Frankreich und Schweden (es stellt ab 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft) auch nach Italien führt. „Junge Leute auf den Marktplätzen wollen den Schulz anfassen!“, schwört ein Mitarbeiter seines Pressestabes.

Und Schulz selbst? Würde er sich nicht über ein zweites Treffen mit Berlusconi freuen?
„Zunächst einmal hat er mich beleidigt und sich bis heute nicht dafür entschuldigt“, antwortet Schulz. „Was sollte mich bewegen, ihn treffen zu wollen?“

Was bewegt Drachentöter?

„Ach ja…“ Leicht genervte Mimik. Themawechsel, bitte.

Ein sozialeres Europa, darum geht es ihm im Wahlkampf. „Wir erleben doch gerade eine epochale Wende. Die Menschen verlangen nach mehr Beteiligung am transnationalen Wirtschaftsgeschehen. Das heißt, nach mehr Parlamentarismus. Denn der führt zu mehr sozialer Sicherheit.“

Das klingt theoretisch gut. Auf die Europapolitik allerdings lässt sich diese Gleichung allenfalls beschränkt anwenden. Denn Brüssel besitzt zwar reichlich Kompetenzen für Marktliberalisierung. So gut wie keine Macht hingegen hat es in der Sozialgesetzgebung.

Schulz fechten solche Einwände ebenso wenig an wie seinen Parlamentskollegen Pöttering die Frage, ob er seiner Person sich in den vergangenen Jahren nicht etwas zu viel Bedeutung beigemessen habe. Auf dem Höhepunkt des Gaza-Krise um den Jahreswechsel ließ es sich der EP-Präsident nicht nehmen, eine eigene Reise in die Region zu unternehmen. „Frieden im Nahen Osten“, sagt er, „ist mir eine Herzensangelegenheit.“ Aber ist solches Streben nicht auch eine Luxusschäftigung für einen Politiker, dessen tatsächliche Zuständigkeiten eher im Reich der Kinderspielzeugsicherheit und der Lebensmitteletikettierung liegen? Was erhofft sich Pöttering von Eskapismen á la Gaza?

„Das will ich Ihnen ganz anschaulich berichten“, sagt er. Um dann zu erzählen von einer Euro-Mediterranen Parlamentarischen Versammlung, deren Präsident er bis März gewesen sei, und von einer Islamischen Parlamentarischen Versammlung („Ich wusste auch nicht, dass es so etwas gibt“) und davon, dass die Zusammenarbeit dieser beiden Organe gefährdet gewesen sei. Mit seiner Reise in die Region habe er, Pöttering, dafür gesorgt, dass der Dialog weiterging.

Er schaut sehr zufrieden drein. Anschaulichkeit ist Ansichtssache in Brüssel.

Der SPD-Mann Martin Schulz stimmt Pöttering nicht nur darin zu, dass ein Europapolitiker auch immer Außenpolitiker sein müsse. Er stimmt ihm in überhaupt ziemlich Vielem zu. Das liegt daran, dass das Europaparlament kaum eine innere Opposition ausbildet, sondern vielmehr als geschlossene Opposition nach außen auftritt. Gegen all jene, die die Wichtigkeit der europäischen Einigung noch immer nicht hinreichend begriffen haben. Wie Europäische Regierungen, zum Beispiel. „Pöttering und ich haben zu Beginn dieser Legislaturperiode eine faktische Große Koalition geschlossen“, sagt Schulz über seinen katholischen Duz-Freund und das gemeinsame Projekt. Das schärfste Wort, das Pöttering seinerseits über den SPD-Spitzenmann zu entlocken ist, lautet: „Mein Mitbewerber.“

Was, bitte, entzweit die beiden? Na, die Türkei, sagt Pöttering. „Da gibt es einen fundamentalen Unterschied. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die EU überfordert wäre, die Türkei aufzunehmen, aus politischen, kulturellen und geografischen Gründen.“ Leider ist der Unterschied nur kein bisschen wählerrelevant. Denn über einen – derzeit völlig fern liegenden EU-Beitritt der Türkei – hat das Europaparlament nicht entscheidend mitzureden. Ein Ja oder Nein obliegt allein den 27 Regierungen der EU.

Dennoch, in der Erweiterungsfrage scheinen zwei Denkarten der Spitzenkandidaten auf, die nicht nur einen Rest unverschütteten Parteicharaktere offenbaren, sondern auch etwas über die Zeitmarke aussagen, an der die EU über fünfzig Jahre nach ihrer Gründung angekommen ist. Pöttering rechtfertigt diese Union noch immer vor allem aus der Vergangenheit, aus Krieg, Armut und Teilung. Schulz rechtfertigt sie vor allem in die Zukunft, aus dem Ziel, den sozialsten Arbeitsplatz, den menschenfreundlichster Wirtschaftsraum der Welt zu bauen.

Ginge es nach der Berliner SPD-Führung, würde Schulz der nächste deutsche EU-Kommissar, um dort, aus der europäischen Normenfabrik heraus, gegen den „Neoliberalismus“ (sprich: für verantwortliches Bankenmanagement) zu streiten. Große Chancen auf den Posten hat er indes nicht; historisch ist unbestritten die Union mit der Besetzung an der Reihe. Hans-Gert Pöttering zählt allerdings nicht zur denen, die dafür gerüchteweise gehandelt werden. Schulz hingegen traut man zu, als nächster Präsident des Europaparlaments gewählt zu werden. Diese Option, sagt er, sei „hypothetICH“. Kein Zweifel, der Hauptunterschied zwischen Pöttering und Schulz lautet: Der eine ist ein Gehender, der andere ein Kommender.

 

„Ein Akt der Selbstzerstörung“

Die Libertas-Partei des Iren Declan Ganley will die Europawahlen zum Referendum gegen die EU machen.
Doch sie wird zum Opfer ihres eigenen Ehrgeizes

Brüssel/Duisburg
Das Hauptquartier der Freiheitskämpfer liegt inmitten feindlicher Gemäuer. Gegenüber hat der „Europäische Personalauswahl-Dienst“ sein Büro, und durch die Häuserlücken schimmert die Glasfassade der EU-Kommission. „Libertas? Nein, das sind wir nicht!“, stellt die Dame an der Gegensprechanlage klar. „Fahren Sie hoch in den siebten Stock.“ Ein Klingelschild fehlt der neuen Partei kurz nach ihrem Einzug in Brüssel noch. Wie überhaupt vieles etwas provisorisch wirkt für eine Bewegung, die sich vorgenommen hat, bei den Europawahlen am 7. Juni „die politische Landschaft des Kontinents zu verändern.“

Oben, in einer loftartigen Etage, wartet der Anführer der Rebellen, ein Mann, dem seine Anhänger magische Eigenschaften nachsagen. „Unglaublich energetisch“, sagt einer seiner Wahlkampfmitstreiter. Er habe, schwört ein anderer, jahrelang in der Industrie gearbeitet, aber „keinen vergleichbaren Menschen kennen gelernt“. Declan Ganley, 40, Ire, millionenschwerer Telekommunikationsunternehmer, bürgerlicher Heiland für die einen, populistischer Rattenfänger für die anderen, hat es im vergangenen Juni in seiner Heimat fertig gebracht, für ein knappes Nein beim Referendum über den EU-Reformvertrag zu sorgen. Jetzt will er das Brüsseler Establishment das Fürchten lehren, indem ganz Europa gegen die EU mobilisiert.

Europa, sagt er, das liebe er. Die EU hingegen, die ist seiner Ansicht nach zu einer anti-demokratischen, gesichtslosen und entrückten Gesetzesmaschine degeneriert.

„Es ist doch mugabeesk, was hier passiert“, sagt Ganley in Anspielung auf den Diktator vom Simbabwe und zeigt hinüber Richtung Kommission. „Wenn ein Abstimmungsergebnis diesen Eliten nicht passt, dann wird eben noch mal abgestimmt.“ Damit diese Kommissare („ungewählte, arrogante Bürokraten, die achtzig Prozent der Gesetze in Europa erlassen“) nicht noch mächtiger werden, will Ganley die Europawahlen zu einem Referendum über den Lissabon-Vertrag machen, und er findet dafür eine wachsende Schar Anhänger in immer mehr Ländern.

Libertas hat schon Ableger in Frankreich, Großbritannien, Spanien, Dänemark, Schweden, Polen, Ungarn, Tschechien und einer ganzen Reihe kleinerer Länder gegründet. Die Gegenbewegung, die da sprießt, ist bemerkenswerter Weise die erste wirklich pan-europäische Partei, und selbst in Brüssel gibt manch ein Beamter hinter vorgehaltener Hand zu, es sei in Tat an der Zeit für mehr gesunden Widerspruch gegen den Wildwuchs von Kompetenten in der EU-Zentrale. Keine Frage, Ganley hat eine politische Marktlücke entdeckt: Er will all jenen, die am scheinbar unumstößlichen Integrationskurs der EU stören, eine ideologisch unverseuchte Wahlalternative zu den links- und rechtsextremen Europahassern bietet. Ein zweistelliges Ergebnis, glaubt er, könnte Libertas schon einfahren am 7. Juni. „Und dann können sie“, Kopfbewegung aus dem Fenster, „die Bürger nicht mehr ignorieren.“

Die Absicht, die Brüsseler Geschäftsführerdemokratie mit konstruktiver Opposition aufzumischen, nobel sein. Doch in der EU-Apo des Declan Ganley zeichnet sich bereits der Schicksalszug der klassischen Tragödie ab. Je mehr die Neuropäer tun, um ihrem Scheitern zu entrinnen, nämlich als obskure EU-Feinde abgeschrieben zu werden, desto zielstrebiger gehen sie ihm entgegen.

Es ist ein Abend im April, an dem sich zeigt, dass Libertas zum Opfer eines überspannten Einzelkämpferethos zu werden droht. Was freilich auch an der Aggressivität liegt, mit der das etablierte Brüssel Kräfte abstößt, die es als Spielverderber identifiziert hat. Es ist der Abend der „Big Debate“, einem Ereignis, das schon wochenlang vorher wie ein Ringkampf angekündigt wurde. Declan Ganley trifft Daniel Cohn-Bendit, EU-Guerillero contra Ex-Guerillo. Hunderte Gäste aus der Europa-Community strömen herbei, erwarten einen der spannendsten Schlagabtausche des Jahres. Was sie erleben, ist ein Big Debakel. Ganley hält ein Buch in die Höhe, in dem Cohn-Bendit schildert, wie er als Erzieher in den siebziger Jahren Kinder gestreichelt habe. Die Botschaft: Ein Kinderschänder! Cohn-Bendit hält Ganley vor, er unterhalte Geschäftsbeziehungen in die USA. Will sagen: Ein neokonservativer Einflussagent! Die Chance, darüber zu reden, ob es eine bessere, bürgernähere EU geben kann, zerstiebt im emotionalen Sperrfeuer.

Genau das Gleiche passiert innerhalb von Libertas selbst. Zwar versichern ihre PR-Beauftragten, Hitzköpfe von der Partei fernzuhalten, aber auf Libertas-freundlichen Websites finden sich Stellungnahmen wie: „Unsere Kandidaten müssen einen absoluten Hass auf die EU haben, nicht, dass wir unwissentlich Maulwürfe wählen, die weitermachen wie bisher“ oder „Wir werden von deutschlandfeindlichen Politikern regiert“. Kein Wunder, dass sich gestandene EU-Kritiker, die im Wahlkampf als Zugkräfte dienen könnten, von Libertas fernhalten. Der CSU-Mann Peter Gauweiler, der vorm Bundesverfassungsgericht gegen den Lissabon-Vertrag klagt, sagt, er halte die Arbeit von Libertas zwar für „verdienstvoll“, aber deswegen aus der Bayern-Partei austreten? I wo.

Ebenso wenig wollen die prominentesten Brüsseler Abweichler-Abgeordneten Hans-Peter Martin (Österreich) und Jens-Peter Bonde (Dänemark) auf der Libertas-Liste kandidieren. Er berate Declan Ganley gern, sagt Martin, „aber die Unabhängigkeit ist ein hohes Gut.“ Genauso wie der gute Ruf. In Frankreich führt der als rechtsgerichtet geltende Philippe de Villiers Libertas an, in Polen kamen Gerüchte über Antisemiten in den Reihen der neuen Partei auf, in Prag unterstützt der von Kritikern als „Tschechischer Berlusconi“ gescholtene Medienunternehmer Vladimir Zelezny die Gruppe. Und in Großbritannien, dort wo Libertas mit großen Sympathien rechnen könnte, beugen ihr die bürgerlichen Tories vor, indem sie selbst ein Referendum über den Lissabon-Vertrag fordern.

Und im größten europäischen Land? Da gibt es einen Rechtsanwalt in Duisburg, der vor wenigen Monaten noch Feuer und Flamme für Libertas war. Mittlerweile bezeichnet er seine kurze Präsidentschaft von Libertas Deutschland als „meinen One Night Stand mit der Politik“. Hinter dem Schreibtisch von Carlos A. Gebauer hängen zwei große Fotos; eines zeigt ihn einer Sabine-Christiansen-Sendung, wo er einmal über Gesundheitspolitik mitdiskutierte. Von dem anderen lächelt die Crew der RTL-Sendung „Strafgericht“ herunter. Gebauer spielte dort nebenberuflich jahrelang den Strafverteidiger.

Den smarten Advokaten und Ex-FDP-Mitglied (nicht mehr liberal genug) trieb die Lust des intellektuellen Tabubruchs, und in der EU fand er einen Fetisch. Beim Treffen im März zitierte er noch, mit einigem Fug, Luhmanns Theorie von den selbstschöpfenden Systemen, wenn er über Brüssel redete, und als nächstes Declan Ganley, der ihm am Telefon überzeugte, Deutschland-Chef zu werden, und mit den schlichten Worten: „It has to be done.“ – „Der Satz hat etwas in mir getroffen.“

Was folgte, waren schmerzhafte Tiefschläge. Zur Libertas-Gründungs-Pressekonferenz in Berlin kamen gerade einmal zwei Journalisten, und als Gebauer seine Kandidatenliste im Brüsseler Hauptquartier einreichte, sagten ihm „die internationalen Wahlkampfexperten“ dort, 16 Namen sei viel zu wenig. „Damit blamiere man sich in der Presse, hieß es.“ Also rekrutierte Gebauer in aller Eile nach, aber um die notwendigen 4000 Unterschriften für die Parteizulassung zusammenzubekommen, blieb gerade noch eine gute Woche Zeit. „Tja, und bei 3500 sind wir dann verhungert.“ Libertas wird in Deutschland nicht zur Wahl antreten.

„Es war ein Akt der Selbstzerstörung“, sagt Gebauer.

Doch vielleicht hat der ihn vor einer längeren Selbstzerfleischung bewahrt. Denn auf die Frage, was die Libertas-Abgeordneten denn eigentlich nach der Wahl tun wollen, hat keiner von ihnen eine überzeugende Antwort. Im EuropäischenParlament sitzen und motzend ein System mittragen, dessen Teil sie nie sein wollten? Carlos Gebauer jedenfalls ist noch nicht vollends abgeschreckt. „Es gibt ja noch die Bundestagswahlen“, sagt er. „Das stelle ich mir spannend vor.“

 

Geld gegen Dorsch

Die Isländer möchten der Euro-Zone beitreten. Und stellen Bedingungen

(Video-Beitrag inklusive)

Reykjavik
Der Außenminister legt die Füße auf den Couchtisch und macht ein paar Vorschläge zur Umgestaltung der Europäischen Union. „Natürlich möchten wir den Fischereikommissar stellen, wenn wir Mitglied werden“, sagt Össur Skarphédinsson. Wer verstehe schließlich mehr von diesem Geschäft als die Isländer? Als Gegenleistung würden die Inselbewohner den Kontinentaleuropäern dann erklären, wie sie endlich die Erdwärme nutzen könnten, die auch unter ihren Füßen schlummere.

In Ungarn zum Beispiel, schwört Skarphédinsson, habe die Geothermie eine echte Zukunft, in Slowenien, auch in Deutschland. „Amsterdam und Paris liegen auf Wärmepools, sagen unsere Wissenschaftler. Unser Know-How könnte der EU helfen, ihre Klimaschutz-Ziele zu erreichen.“ Skarphédinsson nimmt die Füße vom Tisch und träufelt sich ein Häuflein Schnupftabak auf den Daumenballen. Er meint das alles ernst.

Am Wochenende haben die Isländer gewählt, und die Sozialdemokraten, zu denen Skarphédinsson gehört, haben zusammen mit den Linksgrünen einen deutlichen Sieg davon getragen. Schon im Januar hatten die krisengeschockten Isländer nach 18 Jahren ungebrochener Herrschaft die konservative und Brüssel-feindliche Unabhängigkeitspartei aus dem Amt gejagt.

In einem Akt, der als die Küchengerät-Revolution in die Geschichte des Landes eingehen könnte, zogen Tausende Isländer eine Woche lang mit Töpfen und Pfannen vor den Regierungssitz, um sich Neuwahlen zu ertrommeln. Für die Mehrheit der Bevölkerung steht seit Monaten fest, dass die Konservativen den Absturz des Landes durch eine laisser-faire-Politik gegenüber den Banken nicht nur heraufbeschworen, sondern auch beim Management der ‚kreppa“, der Krise, jämmerlich versagt haben. Als beim abendlichen Kochlöffelschwingen Handgreiflichkeiten gegen Minister drohten und die Polizei zum ersten Mal seit den Protesten gegen den Nato-Beitritt Islands 1949 Tränengas einsetzen musste, sahen die Konservativen ein, dass es Zeit war zu gehen.

Die politische Thermodynamik allerdings verhält sich etwas anders als Skarphédinsson und Rehn wähnen: Island braucht die Wärme der Europäischen Union, vor allem die des Euro, viel dringender als umgekehrt. Alle drei Banken der Insel sind im vergangenen Krisenjahr kollabiert, die Arbeitslosigkeit ist von zwei auf zehn, die Inflation auf knapp zwanzig Prozent emporgeschnellt. Jeden Tag gehen im Schnitt drei Firmen Pleite. Island, die Finanzumwälzpumpe im Nordatlantik, die jahrelang mit zweistelligen Zinssätzen Kapital anzog und für Investitionen in aller Welt weiterleitete, ist den Infarkttod gestorben. Der Wert der einst hochgehandelten Krone hat sich binnen eines Jahres mehr als halbiert. Die Währung ist, schlicht gesagt, im Eimer. „Wenn die Isländer jetzt sagen, sie wollen der Euro-Zone beitreten, löst das hier schallendes Gelächter“, sagt ein Brüsseler Diplomat.

Genau das sagen sie aber. Das Ansinnen einer Währungsunion mit Norwegen hat Oslo unlängst dankend zurückgewiesen, und der Dollar ist für ein Land, das 80 Prozent seines Außenhandels mit Europa betreibt, keine ernsthafte Option. Immer mehr hartgesottene EU-Gegner auf der Insel erkennen deshalb an, dass die Zukunft entweder Brüssel heißt oder Niflheim – wie die lebenserstickende Eiswelt der Sagas.

Der notwendige Papierkram für einen Aufnahmeantrag an die Europäische Union, glaubt der Außenminister, könnte bis Juni erledigt sein. Island könnte dann, eher unerwartet, das 28. Mitglied der Union werden. In Brüssel breitet der Erweiterungskommissar schon die Arme aus. „Die Verhandlungen könnten schnell vonstatten gehen“, sagt der Finne Olli Rehn. Immerhin sei Island eine der ältesten Demokratien der Welt – und seine Mitgliedschaft würde die EU atlantisch abrunden.

Als nächstes, so der Außenminister, könne dann ein Referendum über den EU-Beitritt angehalten werden. Die Frage ist bloß: Zu welchen Bedingungen ist der denkbar? Der Streit darüber wird dieser Tage in Zeitungsbeiträgen, Fernsehdebatten und Kneipen ausgetragen. Auf der Contraseite dabei immer: die sturköpfigen Fischer.

Steindór Oliversson (VIDEO-Interview hier) sitzt an einer Bucht im Hafenstädtchen Akranes und klopft seine Pfeife an einem Basaltstein aus. Sein Vollbart umwuchert den Großteil des Gesichts, und aus der Baseballkappe hängt ein angegrauter Zopf heraus. Seit 23 Jahren zieht Oliversson Dorsche und Schellfisch aus dem Nordatlantik, in Handarbeit. Vor ein paar Jahren ist ihm dabei einmal ein Köderhaken ins Auge geflogen, so groß wie eine Wäscheklammer. „Aber ich habe trotzdem noch die Leinen eingeholt“, erzählt er.

Die Fangquote, die vom Staat kaufen muss, sei schließlich zu teuer, um sie zu verschwenden. Oliversson und seine Berufskollegen müssen Kredite aufnehmen, um sich die jährlichen Anlande-Erlaubnis leisten zu können. Jetzt, mit dem Währungszusammenbruch, schießen die Zinsraten ins Unermessliche. Wahrscheinlich, stimmt Oliversson nickend zu, wäre der Euro schon gut. Aber was, fragt er, wenn dafür irgendwelche Bürokraten mit ihren viel zu hohen Fangquoten die ganze isländische Fischerei ruinieren?

„Ich sage ja nicht, dass das in Brüssel schlechte Menschen sind“, meint Oliversson. „Aber sie sind ist so weit weg. Verstehen die überhaupt etwas von unserer See? Und wenn schnell mal was geklärt werden muss“, er legt die muskulöse Hand ans Ohr, „kann man da doch keinen anrufen.“

Was der 56jährigere eher intuitiv formuliert, sagt wahrscheinlich mehr über ein schwelendes Strukturproblem der EU aus, als ihm klar ist. Zu viele Entscheidungen werden in einer Entfernung von den Betroffenen getroffen, die nicht zur Weisheit der Regelungen beiträgt, besonders in der Fisch- und Agrarpolitik. Wäre es anders, hätten die Isländer überhaupt kein Problem mit der Brüsseler Perspektive. Immerhin ist das Land seit 1994 Mitglied im Europäischen Wirtschaftsraum, nimmt an Schengen teil, übernimmt fast jede Binnenmarktregel und beteiligt sich sogar an EU-Sanktionen gegenüber Weißrussland, Serbien oder Zimbabwe.

Grundlegende Fehlentwicklungen des Brüsseler Zentralismus registriert das Inselvolk andererseits sensibler als andere Staaten. Der Fischfang steht in Island stellvertretend für Souveränität – und damit für die Grenzen akzeptabler Einmischung. Um seine Küstengewässer vor Überfischung zu schützen, weitete Island sein Hoheitsgebiet bis 1976 auf 200 Meilen aus. Dabei kam es im wörtlichen Sinne zu Zusammenstößen zwischen isländischen Trawlern und britischen Kriegsschiffen. Bis Westminsters Flotte schließlich beidrehte.

„Wir sind wahrscheinlich das einzige Land, das das britische Empire jemals auf See besiegt hat“, witzelt der Reykjaviker Politikprofessor Ólafur Hardarsson und stößt seine Gabel in ein Stück Hummerschwanz. „Ich will damit sagen, dass unsere Fischgründe uns als vitale Ressource gelten. Sollte ein EU-Beitritt bedeuten, dass spanische oder schottische Trawler hier herumkurven dürfen, dann“, er reißt die Augen auf, „vergiß’ es! Ganz einfach.“

Dass dies unter dem Einfluss des Imperiums EU passieren könnte, ist zwar so gut wie ausgeschlossen. Dennoch, die Brüsseler Grundregel lautet: Wer in europäischen Gewässern wie viel Fisch fangen darf, legen die Nationen nicht für sich allein fest, sondern per Mehrheitsbeschluss im europäischen Ministerrat. So soll vermieden werden, dass einzelne Ländern sich maßlos an wandernden Fischschwärmen bereichern und damit auch die Bestände für andere schädigen.

Der Gedanke gemeinsamer Regulierung sei ja gut, sagt der Chef der isländischen Fischerboot-Vereinigung, Fridrik Arngrímsson. Aber warum müssten italienische oder polnische Politiker darüber mitentscheiden, wer welche Menge aus dem Nordmeer ziehen dürfe? „Wir regeln per Abkommen mit Großbritannien, Norwegen und Russland schon selber, wer welchen Anteil an den Heringsschwärmen bekommt“, sagt er. Das funktioniere gut. Zudem sei der EU-Wahnsinn, untermäßigen Fang zurück ins Meer zu kippen, in Island schlicht verboten.

Tatsächlich hält selbst die Brüsseler Kommission die EU-Politik für missraten. „Die meisten europäischen Bestände sind überfischt“, heißt es in einem Arbeitspapier, niedrige wirtschaftliche Effizienz stehe hohen Umweltschäden gegenüber.

„Unser Rezept dagegen lautet, dass kein einziger Fischer Subventionen bekommt“, sagt Arngrímsson mit erhobenem Zeigefinger. Stattdessen garantiere die teure isländische Staatsquote, dass sie ihre Lebensgrundlage sorgfältig schützten. Anders vielleicht, will er damit andeuten, als manch zuwendungsgewohnter Berufskollege in Spanien oder Frankreich. Aber wenn das Überleben der gesamten isländischen Wirtschaft nun doch an der Euro-Mitgliedschaft hängt? „Dann“, antwortet Arngrímsson, „sollten wir eben darüber nachdenken, den Euro einseitig einzuführen.“

Vor diesem Schritt allerdings hat die Europäische Zentralbank die Isländer schon eindringlich gewarnt. Auf eine Rosinenpickerei europäischer Errungenschaften, droht auch die Kommission, könnte die EU durchaus giftig reagieren.

Unverantwortliche Angstmacherei werfen die EU-Freunde auf der Insel den Fischern vor. Es sei einfach „Unsinn“ zu behaupten, die EU erhalte die Kontrolle über die Fischerei. „Die Union hat noch niemals vitale Ressourcen eines Landes unter ihre Verwaltungshoheit genommen, weder den finnischen Wald, noch das britische Öl“, sagt Andrés Pétursson von der „Europäischen Bewegung“ in Island. Kiefern und Ölquellen pflegen allerdings auch nicht über Ländergrenzen hinweg zu schwimmen. Die Angst der Angler ist deshalb nicht ganz unberechtigt.

Womöglich aber nehmen größere Fische den Isländern die Entscheidung über einen EU-Beitritt ab. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben mehrfach betont, ohne den Lissabon-Vertrag könne die Union keine neuen Mitglieder aufnehmen. Das gelte, heißt es aus offiziellen Quellen, auch für Island.

Der Außenminister in Reykjavik will das nicht ganz glauben. „Ich spüre keinen Widerstand bei den Deutschen, kein bisschen“, sagt Össur Skarphédinsson. Man könne Island doch auch nicht allen Ernstes mit EU-Kandidatenländen auf dem Balkan vergleichen. Reykjavik habe Europa schließlich die Sagas gebracht, später die Abrüstungsverhandlungen – und als nächstes vielleicht ein klügeres Fischereimanagement. Skarphédinsson weist mit dem Daumen auf den Reykjaviker Hafen hinaus. „Wir können das besser“, sagt er. „Aber das Gelegenheitsfenster bleibt nicht lange offen. Wir müssen uns jetzt alle ein bisschen beeilen.“

Fotos: JB

 

Rasmussen ist der neue Nato-Chef

Das Bündnis trifft damit – trotz allem – eine hoffnungsvolle Entscheidung

Dass es so schnell gehen würde, war dann doch eine Überraschung: Der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen wird zum 1. August neuer Nato-Generalsekretär. Das beschlossen die 28 Regierungschefs des Bündnisses zum Abschluss ihres Gipfels in Straßburg. Einstimmig, wie sie betonten. Der Widerstand der Türkei ist gebrochen. Deren Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte zuvor darauf bestanden, der Däne könne den Posten nicht bekommen, wegen seiner Rolle im Mohammed-Karikaturenstreit von 2006.

Ist Rasmussen nun der richtige Kandidat, um die das Prioritätsprojekt der Nato, die Stabilisierung Afghanistans, zum Erfolg zu führen? Oder ist er dafür der denkbar schlechteste Mann?

Sicher, die „Kunden“, der Nato, jene Muslime in Afghanistan, dessen Herzen und Verstand die Nato gewinnen will, werden Rasmussen noch lange in Verbindung bringen mit den aus ihrer Sicht gotteslästerlichen Karikaturen, die die Zeitung Jyllands Posten veröffentlicht hatte. Der Däne wird einen schweren Stand haben bei seinen Reisen an den Hindukusch. Er wird erklären müssen, dass er weder ein Islamfeind noch ein Fürsprecher religiöser Gefühlverletzungen ist. Sondern dass er sich schlicht weigerte, ein wichtiges Gut anzutasten: die Pressefreiheit.

Man mag dem Rasmussen mit Recht vorwerfen, dass er in der Karikaturenkrise einen Fehler gemacht hat, weil er 22 Botschaftern muslimischer Staaten den Dialog verweigerte. Aber darum ging es Erdogan bei seiner neuerlichen Kritik ja gar nicht. Der türkische Regierungschef sprach Rasmussen vielmehr deswegen die Eignung als Nato-Generalsekreträr ab, weil dieser sich bis heute nicht für die Veröffentlichungen in der dänischen Zeitung „entschuldigt“ hat.

Derlei zu fordern, ist für ein Mitglied eines Bündnis, das sich der Ausbreitung freiheitlicher Werte verschrieben hat, völlig unakzeptabel. Hätte die Nato dem Druck Erdogans nachgegeben, sie hätte ihr Gesicht verloren.

Aber: Hätte die westliche Allianz bei ihrer Personalentscheidung nicht trotzdem auf die Ressentiments der arabischen Welt Rücksicht nehmen müssen? Auch wenn diese Ressentiments unbegründet, ja irritational sind? Wäre es nicht im Interesse einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit dem Islam, also im Interesse ihres eigenen Erfolgs, wenn die Nato einen anderen Kandidaten gefunden hätte?

Der Ansicht könnte man sein. Doch: wo soll dann die Bereitschaft zur Berücksichtigung muslimischer Vorbehalte enden?

Wahrscheinlich würde die „arabische Strasse“ und die dortigen Autokraten auch vor Entsetzen kochen, wenn die Nato eine Frau als Chefin ausgerufen hätte.

Was wäre gar mit einem Homosexuellen?

Wer nicht will, dass islamische Tabu-Ideen, die westlichen Freiheit-Vorstellungen widersprechen, Einfluss auf westliche Richtungsentscheidungen haben, der, nein, muss sich über den Triumph von Rasmussen nicht freuen.

Aber der sollte schon die Gelegenheit sehen, die dieser Wahl innewohnt. Sie besteht darin, dass der geschmähte Däne Rasmussen seinen Gegnern in der islamischen Welt beweisen kann, dass sie einer weiteren Hass-Projektion gegenüber dem Westen aufsaßen. Genau das hat er kurz nach seiner Wahl als eines seiner Ziele benannt. Wenn ihm das gelingt, dann wachsen die beiden Welten tatsächlich enger zusammen.