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Da hilft nur Tucholsky

Was ist das nun in Afghanistan – Krieg oder nicht Krieg?

Sie rollen mit Panzern durchs Gelände. Sie haben eine Offensive gestartet. Sie werden Opfer von Schusswechseln. Und sie erschießen selbst. Ist es nun ein Krieg, den die Bundeswehr in Afghanistan führt?

Das hängt natürlich von der Definition dessen ab, was wir unter Krieg verstehen wollen. Andere Nato-Soldaten, Amerikaner, Niederländer, Briten, Tschechen, Polen, Rumänen oder Balten, die im Süden und Osten des Landes regelmäßige Schlachten mit Taliban-Verbänden schlagen, halten den Norden des Landes, dort, wo die Deutschen stationiert sind, noch immer für vergleichsweise friedliches Gebiet. Zwar betreibt die Nato keinen Body Count. Doch im Süden des Landes haben nach inoffiziellen Angaben Isaf-Truppen allein im vergangenen Jahr etwa 20 000 Aufständische getötet – oder solche, die sie dafür hielten.

Wie der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen, Winfried Nachtwei, kürzlich bei einem Isaf-Besuch notiert hat, konzentrieren sich die Angriffe auf die Schutztruppen auf die Provinz Helmand (durchschnittlich 10,6 Angriffe pro Tag zwischen Oktober 2008 und Mai 2009), Kandahar (4,6 Angriffe pro Tag) und Kunar (4 Angriffe pro Tag). Die Regionen, in denen die Deutschen stationiert sind, bilden statistisch noch immer die ruhigsten. In Kundus gab es 0,7, in Kabul 0,6, in Badakhschan weniger als 0,1 Angriffe pro Tag.

Doch es sind weder die Krieger anderer Nationen noch Statistiken, die definieren, was in Deutschland als Krieg gilt. Sondern die Bevölkerung. „Das Volk“ hat Kurt Tucholsky einmal gesagt, „versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Über Afghanistan denkt das Volk, die Bundeswehr sei dort, um den Einheimischen einen westlichen Lebensstil aufzuzwingen. Das ist falsch, weil die Afghanen wollen, dass die Nato-Truppen ihnen Schutz, Sicherheit und eigene Entwicklungsmöglichkeiten bieten. 90 Prozent der Afghanen, sagen Umfragen, wollen die Taliban nicht zurück.

Was aber fühlt das Volk, wir Deutschen, über den Afghanistan-Einsatz?

Es fühlt zunächst einmal, dass die alte Rechtfertigung, wonach Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde, zumindest gründlich perforiert ist. Denn erstens hat es in Deutschland bereits Attentatsplanungen gegeben, die rein gar nichts mit Afghanistan zu tun hatten (etwa die „Kofferbomber“ von Kiel, die aus dem Libanon stammten und sich spontan zu ihren Taten entschlossen), sind Deutsche in Bombenexplosionen gestorben, deren Drahtzieher aus Afrika oder Asien kamen (Dscherba, Bali) und ist selbst der 11. September nicht maßgeblich in Afghanistan vorbereitet worden, sondern in Hamburg-Harburg. Sicher, al-Qaida als quasi-militärische Organisation ist zerstört. Aber das Bild vom Funktionsprinzip Internet stimmt eben doch: Wird hier ein Server lahmgelehmt, übernimmt dort ein anderer das Geschäft.

Zweitens hat sich die Haupt-Trainingsdrehscheibe für Wanderdschihadisten längst nach Pakistan verlagert. Doch Bundeswehr-Truppen dorthin zu verlegen, fordert kein Mensch. Deswegen breitet sich das Gefühl aus, Deutschland mache bloß noch aus irgendwie altmodischer Solidarität mit in Afghanistan. Betreibe Verteidigungspolitik im Gänsemarsch, gewissermaßen.

Das Volk fühlt auch, dass sich Kanzlerin, Außenminister und der (rhetorisch ohnehin abzuschreibende, will man mundartliche Wortprägungen wie „friedsche Entwicklung“ nicht als kreativ gelten lassen) Verteidigungsminister vor einer ehrlichen, aktualisierten Diskussion um den Afghanistan-Einsatz drücken. Eine klare Botschaft wäre zum Beispiel die: Deutschland stabilisiert Afghanistan, weil es will, dass aus einem Land mit einer Gesellschafts- und Herrschaftsform aus dem 12. Jahrhundert ein Staat wird, der in der globalisierten Welt wenigstens minimale moralische und markwirtschaftliche Wettbewerbschancen hat. In dem Frauen nicht gesteinigt und Mädchen nicht erschossen werden, nur weil sie zur Schule gehen möchten. In dem nicht mehr 90 Prozent des Opiums für den weltweiten Heroinhandel produziert werden. In dem keine Steinzeitislamisten mehr an die Macht kommen, die Musik verbieten und Burkhas verordnen. „Es wird ja immer gerne Clausewitz zitiert, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist“, sagt unlängst der britische Außenminister David Miliband bei einem Besuch im Brüsseler Hauptquartier der Nato, „aber was wir in Afghanistan wollen, ist Politik als Fortsetzung der militärischen Anstrengungen.“

Das alles wäre eine Rechtfertigung, die ohne al-Qaida-Beschwörung auskäme – ja, ehrlicherweise auskommen müsste. Aber würde das reichen, um die Deutschen bei der Stange zu halten?
Wohl nicht. Denn wenn die Sicherheit Deutschlands nicht gefährdet ist, ja dann, so fühlt das Volk, warum sollen dann deutsche Soldaten dort sterben? Andere Völker mögen ja anders fühlen. Amerikaner zum Beispiel, die es schlicht als heldenhaft erachten, für die Durchsetzung von Menschenrechten in den Gebirgen Mittelasiens zu fallen. Wir, als postheroische Gesellschaft, tun das nicht. Die Bundeswehr kennt keine Helden, sie kennt nur Opfer. An dieser ethischen Grundierung Nachkriegsdeutschlands ändern auch Ehrenmale, Tapferkeitsorden und öffentliche Gelöbnisse nichts.

Das fehlende Faible fürs Heldentum hat aber auch damit zu tun, dass es den Deutschen im vergangenen halben Jahrhundert gelungen ist, tatsächlich eine Armee von Staatsbürgern in Uniform heranzuziehen. Deutschland verfügt über keine Kriegerkaste wie die Angelsachsen, also über keinen Berufstand, der ebenso akzeptiert und geachtet wäre dafür, dass seine Mitglieder auf Geheiß der Regierung ihr Leben opfern. Die Vorstellung, dass es Profis gibt, die genau „dafür da“ sind und deren Corpsgeist eine gewisse Verlustunempfindlichkeit mit sich bringt, ist diesem Land (zum Glück) fremd geworden. „Wenn britische Soldaten ums Leben kommen, tut das politisch nicht weh. Bei uns geht der Verteidigungsminister dagegen zu jedem Begräbnis“, sagt ein ranghoher deutscher Nato-Diplomat, „wenn britische Soldaten Taliban töten, gilt das in der Heimat als Erfolg. Bei uns nimmt nach jeder Tötung der Staatsanwalt Ermittlungen auf.“

Die Deutschen verfügen schlicht über eine niedrigere, nennen wir es einmal: Kriegstoleranz als andere Völker. Laut einer Umfrage des German Marshall Fund glauben nur 25 Prozent der Deutschen, dass es Umstände geben könnte, unter denen ein Krieg gerechtfertigt sein könnte. In Amerika glauben es 74 Prozent.

Mit anderen Worten: Wir Deutschen lehnen einen Krieg doppelt so schnell ab wie andere Nationen. Ob diese Sensibilität in sich selbst richtig ist, das spielt – für das politische Inertialsystem Berlin – keine Rolle. Die wahlkämpfenden Parteien werden nicht versuchen, die Kriegstoleranz der Deutschen zu verändern. Im Gegenteil. Sie werden ihre Gefühle umso ernster nehmen, je näher der 27. September rückt.

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Ein Pirat für die Zukunft

Das neue Europaparlament kommt zu seiner ersten Sitzung zusammen. Hoffnung auf eine regere EU macht vor allem ein einsamer Schwede

Tausend Köpfe drehen sich besorgt nach oben, als der Pole Jerzy Buzek sich als Kandidat für das Präsidentenamt vorstellen möchte. Aus der Decke des Plenarsaals dringt mit einem Mal ein lautes, rauschendes Geräusch. Straßburg-Kennern dämmert es; die Architektur hier kann widerspenstig sein. Kein Jahr ist es her, dass ein Teil des Daches, das den gewaltigen Sitzungssaal des Europaparlaments überspannt, zusammenbrach. Die Trümmer prasselten weit rechts, auf den Sitzen der Anti-Integrationisten, nieder. Das war zur Urlaubszeit, zum Glück.

Heute, scheint’s, bringt das Gebäude immerhin ein ungut dunkles Stöhnen gegen die neuen Bewohner in seinem Bauch auf.

„Das ist die Klimaanlage“, beruhigt der scheidende Präsident Hans-Gert Pöttering, „sie hat sich in Gang gesetzt, weil so viele Menschen im Saal sind.“ 736 Abgeordnete aus 27 Ländern finden sich in der vergangenen Woche im Elsaß zur neuen Völkervertretung der Europäischen Union zusammen, und noch mal ein paar Hundert Journalisten und Gäste verfolgen von drangvoll überfüllten Tribünen aus dessen erste Sitzung. Nach der ersten Wahl des gesamten wiedervereinigten Europas gibt sich das Parlament mit Buzek einen ehemaligen Solidarność-Kämpfer als neuen Präsidenten. „Es gibt jetzt kein ,Ihr’ und kein ‚Wir’ mehr“, freut sich der 68jährige über 555 Stimmen Zustimmung. Und tatsächlich schmilzt mit dem Amtsantritt des Osteuropäers etwas von der alten Nachkriegs-EU hinweg.

Das liegt neben Buzeks Bestallung aber auch daran, dass die Hälfte der jetzigen Abgeordneten neu ins EU-Parlament einziehen – und dass immer weniger von ihnen noch daran glauben, innereuropäische Friedenssicherung könne weiter als Mörtel für das Projekt Europa dienen. Ist die Zeit, möchte man nach dem ersten Schreck über das Hitzeknacken im Gebälk fragen, nicht reif für eine rundum mutigere Betriebstemperatur in diesem Hause?

Die schärfste Hoffnung auf mehr Kontroverse, mehr fruchtbaren Streit ist seit der Wahl am 7. Juni ganze 55 Sitze groß und heißt ECR, Europäische Konservative und Reformer. Die Renegaten gehörten noch in der vergangenen Legislaturperiode zur Europäischen Volkspartei (der stärksten Gruppe im Europaparlament, der auch CDU/CSU angehören), aber aus Protest gegen den, wie sie finden, zu integrationsfreundlichen Kurs ihrer Ex-Kollegen haben sich britische Tories nebst tschechischen und polnischen Bürgerlichen aus der Pötteringschen Parteienfamilie verabschiedet.

Zum ersten Mal entsteht mit den Mitte-Abweichler zwar eine ernst zu nehmende Fraktion im Europaparlament, die sich als Opposition gegen eine immer einheitlichere europäische Wirtschafts- und Rechtsordnung begreift. Doch dass der alte Integrations-Kurs auch der neue bleibt, haben die Mitgliedsstaaten längst entschieden. In 26 Ländern ist der Lissabon-Vertrag, der die EU kontraktionskräftiger machen soll, so gut wie ratifiziert. Bloß in Irland steht noch ein – erneutes – Referendum aus. Welche Angriffsfläche also bleibt den Skeptikern?

Einer von ihnen streift, statt in Schlips und Kragen, in einem grellroten Fahrrad-Trikot samt strammer Hose durch die Sitzreihen. „Ich bin von Prag hierher geradelt“, erzählt der 38 Jahre alte Edvard Kozusnik, der für die tschechisch-bürgerliche ODS ins Parlament einzieht. „Das war ein Versprechen meinen Wählern gegenüber.“ Sobald Kozusnik sich erholt hat („Schon seit ein paar Tagen tut mein Gesäß nicht mehr weh“, informiert seine Webseite), will er den Kampf gegen die Bürokratie der EU aufnehmen. „Denn 50 Prozent der Bürokratie werden in Brüssel produziert“, hat er gezählt. Mit solcher Kritik, das wird der Radler allerdings bald merken, trifft er in Brüssel nicht auf Gegenwind. Sie ist längst Mainstream und altbacken.

Neu und auf Zoff programmiert ist zwar auch die Fraktion „Europa der Freiheit und Demokratie“ mit 30 Mitgliedern. Doch welche europäische Wegweisung lässt sich von einer Melange aus (unter anderem) Lega Nord, Slowakischer National-, Dänischer Volkspartei sowie „Wahren Finnen“ erwarten? Bestenfalls der eindrucksvolle Praxisnachweis, wie gewagt für Xenophobe das Vorhaben ist, mit Fremden zusammenarbeiten. Mrs. Nikki Sinclaire und Mr. Gerard Batten von der United Kingdom Indepedence Party jedenfalls traten kurz ins Plenarrund, pflanzten zwei kleine Union Jacks auf ihre Plätze und suchten sodann das Weite.

Andere Vertreter ihrer Fraktionen blieben mit griesgrämigen Mienen sitzen, als der Präsident die Abgeordneten bat, sich „für die Europahymne“ zu erheben. Denn dass es eine solche gebe, bestreiten die Skeptiker ebenso wie eine Zustimmung der Bürger zum großen europäischen Ganzen. „Wenn Sie nicht auf den Willen der Iren hören“, rief ihr hitzköpfiger Vorsitzender Nigel Farage dem frisch gewählten Präsidenten Buzek zu, „werden Sie dieses Europa in genau die Sowjetunion verwandeln, gegen die Sie so hart gekämpft haben!“

Buzek, politisch gestählt als ehemaliger polnischer Ministerpräsident, nahm’s gelassen. Er mag zwar ein bisschen aussehen wie Hans-Gert Pöttering, drahtig, weißhaarig, beflissen und notarhaft, doch er kann zugeben, „das mangelnde Vertrauen der Bürger uns gegenüber“ sei eine Herausforderung für EU-Parlamentarier. Denn: „Die verstehen nicht immer, was wir hier tun.“ – „Die schwierigste Krise, die es zu meistern gilt, ist der Mangel an Vertrauen vonseiten unserer Bürger.“ Es sind Bekenntnisse wie diese, die man von seinem Vorgänger nicht gehört hätte – und die zugleich die Luft aus dem Totalitarismus-Geschrei der EU-Gegner lassen.

Hoch motiviert und nur gut gelaunt derweil zeigte sich nach seinem ersten Tag ein Neuling, der außerhalb Straßburgs noch als politischer Außerirdischer gilt. Christian Engström von der schwedischen Piratenpartei hat im Europaparlament nicht nur einen freundlichen Fraktions-Hafen bei der Grünen-Gruppe gefunden. Er hat es auch fertig gebracht, innerhalb kürzester Zeit breite Sympathien für sein Anliegen zu schaffen. Es besteht darin, das Internet-Urheberrecht neu zu regeln.

Der Staat, so argumentiert der 49jährige, könne auf Dauer den Austausch von Musik- und Textdateien nicht verhindern, ohne neue Eingriffsmöglichkeiten in die Privatssphäre zu schaffen. „Denn wenn die Möglichkeit zu kostenlosen Downloads unterbunden wird, werden die Leute darauf ausweichen, Dateien per E-Mails auszutauschen. Soll dann etwa die Internet-Kommunikation überwacht werden?“

Immer mehr Abgeordnete lassen sich von diesen Gedanken beeindrucken. Das einzig Ernüchternde an Engström, sagt eine weibliche Abgeordnete, sei vielleicht die Tatsache, dass er eher an einen Versicherungsvertreter erinnere denn an einen Freibeuter.

Rebecca Harms, die deutsche Co-Vorsitzende der europäischen Grünen, bekennt jedenfalls, dass sie sich auf eine „offene Diskussion“ mit der Piratenpartei freue. „Künstler, Autoren und Journalisten sollen ja nicht ohne Rechte dastehen“, sagt Harms, „aber wie man diese Rechte gewährleistet, dazu gibt es unterschiedliche Ideen.“ Vielleicht, schlägt sie vor, ließe sich ja über eine Art „Kultur-Flatrate“ für das Internet nachdenken. Womöglich gehört diese Diskussion zum Kontroversesten, was dieses überraschende Parlament in den nächsten Jahren hervorbringen könnte. Und damit zum Zukunftsweisendsten.

 

Die Entdeckung Europas

Das Lissabon-Urteil zwingt Deutschland zu einer ehrlichen Europapolitik – endlich

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag vom vergangenen Dienstag markiert möglicher Weise eine Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union. Es könnte dazu führten, dass Deutschland schon bald sein wahres europapolitisches Gesicht zeigt. Denn die Bundesrepublik ist jetzt gezwungen, aus dem Schneckenhaus der Nachkriegs-Europapolitik herauszutreten.

Die Folge könnte entweder sein, dass der bisher größte Motor Europas zu Europas größter Bremse wird. Oder, falls es besser ausgeht, derjenige Staat wird, der den Kontinent endlich zu mehr Ehrlichkeit zwingt im Umgang mit dem Werkzeug EU.

Denn das Verfassungsgericht hat, wenn man so will, den Bundestag aus seinem jahrzehntelangen EU-Tiefschlaf wachgerüttelt. Was sein Urteil verlangt, ist de facto ein Parlamentsvorbehalt gegenüber Entscheidungen, die Vertreter der Bundesregierung in Brüssel treffen. Diese Mitwirkungspflicht könnte drastischere Auswirkungen haben, als alle, die sich über das Lissabon-Urteil bloß als Wegbereitung zu einem zweiten irischen Referendum freuen, bisher glauben.

Fünfzig Jahre lang haben die Berliner Abgeordneten im Wesentlichen drei Gründe gehindert, genauer auf das zu schauen, was im Brüsseler Ratsgebäude verbindlich für alle europäischen Staaten entschieden wird.

1. Desinteresse
2. Überlastung
3. Ein historisch begründeter permissiver Konsens gegenüber den meisten Maßnahmen, die die europäische Einigung voranbringen sollen. Schließlich hat Deutschland zwei Weltkriege angezettelt – und in der EU, so sehen es noch heute viele Politiker nicht nur der Kohl-Generation, die Chance zur Resozialisierung erhalten.

Desinteresse und Überlastung hat Karlsruhe dem Bundestag in Europa-Angelegenheiten nunmehr schlicht verboten. „Den deutschen Verfassungsorganen“, schreiben die Richter, „obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung im Rahmen der Mitwirkung. Sie ist darauf gerichtet, bei der Übertragung von Hoheitsrechten und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen (…) entspricht.“ (Paragraph 245 des Urteils).

Und dann, der entscheidende Satz: Von Demokratie könne im Spannungsfeld zwischen nationalen und EU-Entscheidungen nur dann die Rede sein, „wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischem Gewicht behält.“ (Das Europaparlament, so die Richter, sei unter anderem wegen des Nichtvorhandenseins eines europäischen Demos kein hinreichender Ersatz für die Aufsichtsfunktion nationaler Parlamente.) Diese Dauereinmischung ist, wenn die Erfinder von Lissabon ehrlich sind, das Gegenteil dessen, was sie mit dem Vertrag erreichen wollten. Und das ist gut so.

An dieser Frage zunächst, welche Aufgaben also der Bundestag für substantiell hält, wird sich entscheiden, wie sehr Deutschland in Zukunft die Europäische Integration auszubremsen vermögen könnte. Die CSU hat bereits gefordert, dies bei jeder Gelegenheit tun zu können. Sie verlangt, dass Bundestag und Bundesrat „bei der Nutzung aller bereits vorhandenen Kompetenzen durch die Bundesregierung im Brüsseler Rat“ zustimmen müssen.

Was das bedeuten könnte, zeigt das Beispiel Schweden, wo heute schon ein solch strenger Parlamentsvorbehalt gilt. So hat zum Beispiel ganz allein die Blockade des schwedische Parlamentes gegen sämtliche anderen 26 EU-Regierungen verhindert, dass es ein EU-einheitliches Scheidungsrecht gibt. Ein spezieller Ausschuss des Stockholmer Parlaments steht während der Ratssitzungen in ständigem Telefonkontakt mit seinen Ministern in Brüssel, notfalls die ganze Nacht hindurch. Stimmen sie nicht zu, darf die Regierung nicht zustimmen.

Will sich der deutsche Bundestag ein „Lissabon-Begleitgesetz“ mit solchen Befugnissen geben? Ausgeschlossen ist das nicht.

Aber auch wenn die Vorbehalte nicht ganz so streng ausfallen werden, Tatsache ist, dass die deutschen Abgeordneten zum ersten Mal gezwungen sein werden, ihren tatsächlichen europapolitischen Charakter zu erforschen und zu offenbaren. Sie, selbst die europafreundlichsten unter ihnen, werden dabei feststellen, dass es, sobald es um handfeste Interessen geht, nicht mehr ausreicht, Europa als größtes und erfolgreichstes Friedensprojekt aller Zeiten zu preisen und den Rest der Brüsseler Bürokratenschaft zu überlassen. Sie werden vielmehr feststellen, dass die EU keineswegs nur Gutes tut. Der permissive Konsens (oder auch: das freundliche Desinteresse) gegenüber der EU, der in der Nachnachkriegs-Politikergeneration ohnehin bröckelt, wird sich über kurz oder lang erledigen. Diese Ehrlichkeit kann nur förderlich sein.

Denn andererseits werden die deutschen Politiker, selbst die in der CSU, auch entdecken, dass sie Europa öfter und dringender brauchen, als sie bislang geglaubt haben. Weil sich vieles eben nicht mehr nur national regeln lässt, sondern supranational geregelt werden muss. Weil der Nationalstaat vielleicht noch immer die beste Karosserie für Demokratie ist – aber eben nicht mehr immer das beste Werkzeug für die großen Räder einer verzahnten Welt. Wenn sie dies in der konkreten Politik(mit)arbeit erfahren, werden sich hoffentlich mehr deutsche Politiker, statt in Sonntagsreden vergangenheitsgewandte EU-Lobpreisungen herunterzubeten, darauf konzentrieren, was dieser Staatenverbund für die Zukunft wert ist.

Die moderne Wahrheit der deutschen Europapolitik muss also nicht die Blockade sein. Sie kann, wenn auch mit zwei Generationen Verspätung, die Entdeckung Europas werden.

 

Botschaftsasyl für Teherans Demonstranten?

Wie werden sich europäische Botschaften im Iran verhalten, wenn verletzte Demonstranten oder politisch Verfolgte an ihre Türen klopfen? Können, müssen die EU-Staaten ihnen Hilfe oder Asyl gewähren?

„Wir haben von einer Menge von Fällen gehört, in denen Verletzte sich an Botschaften gewandt haben“, sagt Aaron Rhodes von der International Campaign for Human Rights in Iran. Laut Informationen der Organisation sind Demonstranten bei dem Versuch verhaftet worden, sich ihre Wunden in iranischen Krankenhäusern behandeln zu lassen. „Die Angst, verhaftet zu werden, hat verletzte Demonstranten, einige von ihnen in kritischem Zustand, keine Behandlungsmöglichkeit gelassen, und einige von ihnen haben angeblich Hilfe in ausländischen Botschaften gesucht“, so die NGO. In welchen Botschaften und wie viele Fälle dies gewesen sein soll, kann die Organisation allerdings nicht sagen.

Eine per Twitter und Facebook verbreitete Meldung, wonach sich Oppositionelle am Wochenende in die kanadische Botschaft in Teheran geflüchtet haben sollen, hat das kanadische Außenministerium dementiert.

„Bestätigte Berichte:“, jubiliert die Facebook-Gruppe Free Iran am Samstag um 22.18 Uhr, „Ausländische Botschaften akzeptieren verletzte Demonstranten zwecks medizinischer Hilfe. Die kanadische Botschaft ist heute voll.“ – „Bravo!“, kommentierten darauf ein Dutzend Facebook-Nutzer, „Canada… YOU GO!!! – Today I am a happy Canadian!“

Der Sprecher des kanadischen Außenministerium, Simone McAndrew, wies die Nachricht aus der World-Wide-Webküche allerdings zurück: „Berichte, wonach wir iranischen Demonstranten Zuflucht gewähren, sind falsch.“

Zwar erreichen eine Reihe von europäischen Botschaften E-Mails, mit der Bitte, die Türen für Flüchtlinge zu öffnen, doch ein tatsächlicher Fall, in dem dies geschehen wäre, lässt sich bisher nicht bestätigen.

Außenamtssprecher in Deutschland, Frankreich, Dänemark, Österreich, Belgien und Norwegen sagten, ihnen seien keine solchen Fälle bekannt.

Was natürlich nicht heißt, dass sie vorkommen können. Und was dann?

Eine Entscheidung, Oppositionellen in europäischen Botschaften Asyl zu gewähren, hätte „politische“ Auswirkungen, zitiert die Nachrichtenagentur AFP die schwedische Außenamtssprecherin Cecilia Julin. Insbesondere das Verhalten ihres Landes hätte Signalwirkung. Schweden übernimmt zum 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Nach Stand der Dinge, sagt Julin, könne Schweden „kein Asyl auf Botschaftsgelände gewähren“.

Dies ist auch nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (AA) in Berlin auch die deutsche Position. Politisches Asyl muss an den Grenzen zu Deutschland beantragt werden. An Botschaftsschranken ist dies nicht zulässig (anders wäre es allenfalls, wenn die Person sich schon in der Botschaft befände). Leichter zu gewähren wäre kurzfristiges „Botschaftsasyl“, also Zuflucht für Hilfssuchende, die sich in unmittelbarer Gefahr befinden – sei es aufgrund einer Hetzjagd auf der Straße oder aufgrund von Verwundungen – und die an die Tür der Vertretung pochen

„Noch ist ein solcher Fall im Iran nicht eingetreten“, sagt eine Sprecherin des AA in Berlin. „Wenn er vorkommen sollte, müsste man den Einzelfall bewerten.“ Etwa die Art und Schwere der Verletzung und die Umstände der Verfolgung. Von allen europäischen Außenministern hat sich bisher Italiens Franco Frattini am deutlichsten für spontane Hilfe ausgesprochen. Laut einer Pressemitteilung wies er die Botschaften an zu helfen, „wo es Nachfrage oder Bedarf nach Hilfe von verletzten Demonstranten gibt.“

Die Frage allerdings ist, ob nicht alle europäischen Staaten unter Zugzwang gerieten, falls ein Land beginnt, Hilfesuchende aufzunehmen. Die tschechische Ratspräsidentschaft der EU versucht deshalb, die Politik der Botschaften im Iran zu koordinieren. Nach ZEIT-Informationen sollen die EU-Botschafter in Teheran in Kontakt stehen, um ihr Vorgehen abzustimmen. Außerdem hat die tschechische Ratspräsidentschaft alle 27 EU-Ländern aufgefordert, die jeweiligen iranischen Botschafter in die Außenämter einzubestellen. Mit dieser Maßnahme solle ihnen klargemacht werden, dass die EU die Behauptung Irans, die europäischen Regierungen nähmen mit ihrer Kritik ungerechtfertigten Einfluss auf innere Angelegenheiten, „kategorisch zurückweist.“

In Berlin ist das schon geschehen. Am dortigen Wederschen Markt erhielt der iranische Botschafter Ali Reza Sheikh Attar, die Auskunft, „die jetzige Lage sei nicht durch westliche Staaten ausgelöst worden. Vielmehr gehe es um die Achtung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte durch den Iran“.

Aber spielt die Propaganda des Teheraner Regimes wirklich keine Rolle bei der Frage, wie die EU mit Botschaftsflüchtlingen umgehen soll? Aus mehreren Gründen immerhin kämen den EU-Vertretungen Nachrichten über einheimische Gäste ungelegen: Erstens können sie kein Interesse daran haben, dass es zu einem Massenansturm auf die Botschaften kommt, zweitens könnte das Regime solche Fälle als Belege für die These von der westlichen Verschwörung nutzen, und drittens droht Teheran schon jetzt einzelnen EU-Diplomaten mit der Ausweisung, unter anderen den Deutschen. Motive, nicht jeden Flüchtlings-Fall an die große Glocke zu hängen, gäbe es also.

 

Brüsseler Massagen

Wie die Staatschefs der EU die Iren zu einem „Ja“ für den Lissabon-Vertrag bewegen wollen

Fast genau ein Jahr ist vergangen, seit die Iren die Stopp-Taste der Europäischen Union gedrückt haben. Am Freitag, den 13. Juni 2008, sagten 53,4 Prozent der Inselbewohner in einer Volksabstimmung „Nein“ zum Vertrag von Lissabon. In Brüssel brach daraufhin Weltuntergangsstimmung aus, denn nach Ansicht seiner Befürworter ist eben jener Vertrag der einzige Weg ist, eine EU von 27 Mitgliedsländern vor der Unregierbarkeit und also vor dem Untergang zu bewahren.

Nun ist die EU während des vergangenen Jahres zwar weder schlecht regiert worden (sie ist erfolgreich als Krisenmanager im Georgienkrieg eingesprungen, sie hat – immerhin vorerst – den Gasstreit mit Kiew und Moskau beigelegt und arbeitet gerade im Eiltempo an einer paneuropäischen Finanzmarktaufsicht) noch ist sie untergegangen, aber am laut Meinungsumfragen auch in anderen Ländern ungeliebten Lissabon-Vertrag wollen ihre Regierungen trotzdem mit aller Macht festhalten.


Im Brüsseler Ratsgebäude

Sicher, die Regierungschefs hätten ihre Zusammenkunft in Brüssel auch dazu nutzen können, um zunächst einmal darüber zu reden, ob die EU nach der dürftigen Bürgerbeteiligung an der jüngsten Europawahl womöglich in eine Legitimationskrise hineinschlittert. Zu diesem Befund war noch in der Wahlnacht der Spitzenmann der europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, gelangt.

Aber diese Gelegenheit nutzten die Staatschefs schon nach dem Iren-Nein nicht, und sie verschlossen sich auch ein Jahr später erneut dieser – vielleicht viel entscheidenderen – Frage für die Zukunft der Union. Stattdessen widmeten sie sich einen ganzen Vormittag lang der Frage, mit welchen Leckerlis sie den Iren das Reformwerk doch noch schmackhaft machen können. Die „Gefechtslinie“, so hieß es aus deutschen Regierungskreisen, laute: „Maximale Wirkung für Irland und minimaler Schaden für alle anderen.“

Es sei, gab Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der abschließenden Pressekonferenz des Gipfels bekannt, nunmehr eine Lösung gefunden. Diese funktioniert, den Schlussfolgerungen des Ratstreffen gemäß, so: Um klarzustellen, „dass bestimmte Angelegenheiten, die der irischen Bevölkerung Anlass zur Sorge geben, durch dass in Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nicht berührt werden“, soll der Vertrag um rechtliche bindende Interpretationen ergänzt werden.

In diesen Ergänzungen (* Wortlaut am Ende dieses Beitrags) soll festgehalten werden, dass der Vertrag die Bestimmungen der irischen Verfassung über Abtreibung, Familie, seine Steuerhoheit sowie seine tradiotionelle sicherheitspolitische Neutralität gewahrt bleiben. Mit anderen Worten: Brüssel darf keine Iren töten, ihnen kein Geld abnehmen und sie nicht in den Krieg schicken.

Jetzt bleibt den Staatschefs bloß zu wünschen, dass es wirklich diese Sorgen waren, die auf der Insel zur Ablehnung des Vertrages geführt haben. Dass dem so sei, hat der irische Ministerpräsident Brian Cowen seinen europäischen Amtskollegen versichert. Fraglich bloß, ob der Mann sich von den richtigen Meinungsforschern hat beraten lassen. Denn wer sich in Irland zum Lissabon-Vertrag und der Stimmung gegen ihn umhörte, bekam – anekdotisch freilich – andere Auskünfte.

Diejenige zum Beispiel, dass die Bürger nicht gewillt waren, einen Vertrag zu unterschreiben, von dem sie auch nach ausführlichen Informationskampagnen nicht glaubten, ihn verstanden zu haben. Oder die, dass sie mit der grundlegenden Richtung der EU-Politik, einer „ever closer union“, einer immer tieferen Union, nicht einverstanden waren. Und auch mit der Tatsache waren viele nicht einverstanden, dass die Grundsätze der europäischen Demokratie offenbar nicht gelten sollen, wenn den Staatsführern das Ergebnis nicht passt.

Mit diesem Argument jedenfalls gehen bis heute die Gegner des Lissabon-Vertrages auf der Insel hausieren. Immerhin, argumentieren sie, hätten in Irland mehr Wähler gegen den Vertrag gestimmt als Leute in den USA für Barack Obama (52,9 Prozent). Warum werde das eine weniger respektiert als das andere?

„Die Gründe, warum die Menschen Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt haben, wurden nicht addressiert“, kommentiert Patricia McKenna, die Vorsitzende des irischen „People’s Movement“ die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels. „Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Wähler ihre Meinung ändern werden.“

Jüngere Meinungsumfragen allerdings sehen mittlerweile eine knappe Mehrheit für den Vertrag. Was die Politiker in Brüssel womöglich nicht schaffen, schafft offenbar die Wirtschaftskrise. Sie trifft Irland besonders hart und sorgt für ein stärkeres Anlehnungsbedürfnis an den Kontinent.

Die neuen rechtlichen Garantien für die Iren (keine Abtreibungen, keine EU-Steuern, kein Wehrdienst für Brüssel) sollen nun in ein Protokoll aufgenommen werden, das seinerseits dem Lissabon-Vertrag bei seiner nächsten Änderung hinzugefügt werden soll. Die steht an, wenn Kroatien der EU betritt, also vermutlich nicht vor 2011. Die dann fälligen Änderungen der Stimmengewichte im Rat müssen alle EU-Mitglieder ratifizieren. Der Vorteil: Der Lissabon-Vertrag wird ergänzt, ohne dass die Staaten, die ihn jetzt schon ratifiziert haben, dies wiederholen müssten.

Die Iren hingegen werden voraussichtlich im Oktober ein zweites Referendum abhalten. Sie müssten also erst einmal dem alten, unveränderten Lissabon-Vertrag zustimmen, um dann später einen neuen zu bekommen. Ob ihnen das gefällt?

Am Rande des Gipfels äußerte ein erfahrener Europapolitiker übrigens doch noch eine interessante Theorie über die grundsätzlich mangelnde Unterstützung des Projekts EU in der Bevölkerung.

„Was wir ja eigentlich bräuchten, um die Leute zu interessieren, wären polarisierende Meinungen. Aber wollen wir das eigentlich in der EU, Kontroversen? Eigentlich wollen wir ja immer mit einer Stimme sprechen. Und solange das gelingt, so lange die Grundfragen von Europa nicht strittig sind, wird sich auch die Wahlbeteiligung nicht erhöhen.“

Oder, könnte man hinzufügen, solange nicht, wie die etablierten Parteien nicht merken oder wahrhaben wollen, dass sich die Bevölkerung in Sachen EU schon längst polarisiert hat?

* Wortlaut der Garantien für Irland:

DECISION OF THE HEADS OF STATE OR GOVERNMENT OF THE 27 MEMBER STATES OF THE EU, MEETING WITHIN THE EUROPEAN COUNCIL, ON THE CONCERNS OF THE IRISH PEOPLE ON THE TREATY OF LISBON

The Heads of State or Government of the 27 Member States of the European Union, whose Governments are signatories of the Treaty of Lisbon,

Taking note of the outcome of the Irish referendum of 12 June 2008 on the Treaty of Lisbon and of the concerns of the Irish people identified by the Taoiseach,

Desiring to address those concerns in conformity with that Treaty,

Having regard to the Conclusions of the European Council of 11-12 December 2008,

Have agreed on the following Decision:

SECTION A

RIGHT TO LIFE, FAMILY AND EDUCATION

Nothing in the Treaty of Lisbon attributing legal status to the Charter of Fundamental Rights of the European Union, or in the provisions of that Treaty in the area of Freedom, Security and Justice affects in any way the scope and applicability of the protection of the right to life in Article 40.3.1, 40.3.2 and 40.3.3, the protection of the family in Article 41 and the protection of the rights in respect of education in Articles 42 and 44.2.4 and 44.2.5 provided by the Constitution of Ireland.

SECTION B

TAXATION

Nothing in the Treaty of Lisbon makes any change of any kind, for any Member State, to the extent or operation of the competence of the European Union in relation to taxation.

SECTION C

SECURITY AND DEFENCE

The Union’s action on the international scene is guided by the principles of democracy, the rule of law, the universality and indivisibility of human rights and fundamental freedoms, respect for human dignity, the principles of equality and solidarity, and respect for the principles of the United Nations Charter and international law.

The Union’s common security and defence policy is an integral part of the common foreign and security policy and provides the Union with an operational capacity to undertake missions outside the Union for peace-keeping, conflict prevention and strengthening international security in accordance with the principles of the United Nations Charter.

It does not prejudice the security and defence policy of each Member State, including Ireland, or the obligations of any Member State.

The Treaty of Lisbon does not affect or prejudice Ireland’s traditional policy of military neutrality.

It will be for Member States – including Ireland, acting in a spirit of solidarity and without prejudice to its traditional policy of military neutrality – to determine the nature of aid or assistance to be provided to a Member State which is the object of a terrorist attack or the victim of armed aggression on its territory.

Any decision to move to a common defence will require a unanimous decision of the European Council. It would be a matter for the Member States, including Ireland, to decide, in accordance with the provisions of the Treaty of Lisbon and with their respective constitutional requirements, whether or not to adopt a common defence.

Nothing in this Section affects or prejudices the position or policy of any other Member State on security and defence.

It is also a matter for each Member State to decide, in accordance with the provisions of the Treaty of Lisbon and any domestic legal requirements, whether to participate in permanent structured cooperation or the European Defence Agency.

The Treaty of Lisbon does not provide for the creation of a European army or for conscription to any military formation.

It does not affect the right of Ireland or any other Member State to determine the nature and volume of its defence and security expenditure and the nature of its defence capabilities.

It will be a matter for Ireland or any other Member State, to decide, in accordance with any domestic legal requirements, whether or not to participate in any military operation.

 

In der Kritiker-Falle

Der EU-Schreck Hans-Peter Martin sagt viel Richtiges.
Aber leider oft im falschen Ton

Im Europäischen Parlament sitzt Hans-Peter Martin weit außen am Rand. „Gleich hinter mir haben sie diese Rechtsradikalen hingesetzt“, klagt er. „Auch so eine kleine Infamie.“ Selbst beschreibt sich der 51 Jahre alte Österreicher und ehemalige Spiegel-Redakteur als ursozialdemokratisch. Und „sie“, das ist die „verkommene Elite“ der EU-Politiker, die „noch viel schlimmer“ sei als ihr Ruf.
„Sparsamkeit und Effizienz sind ihnen wesensfremd. Beim Abzocken hingegen fehlt weiterhin fast jeder Skrupel: Verschwendung, Lügen, abgeschmackte Intrigen, Prasserei, Umleitung von Euro-Millionen in private Taschen, eine zynische Gier ohne Ende und ein menschenverachtendes Desinteresse am Wähler – all dies bleibt eine Selbstverständlichkeit.“

Passagen wie diese vergiften ein Buch, das andernfalls verdienstvoll gewesen wäre. Aber leider tritt der Autor der „Europafalle“ schnurstracks in die Europakritiker-Falle. Statt schlicht mit kühlem Kopf die Missstände zu benennen, für die der EU-Apparat sich in der Tat schämen sollte, prügelt Martin drauf los, schlägt um sich und schreit wie ein Opfer grausamen Unrechts.
Ein bisschen lässt sich das nachvollziehen. Martin, der sich als „investigativer Abgeordneter“ versteht, deckte 2004 zusammen mit stern TV einen Spesenskandal im Europäischen Parlament auf. Etliche Abgeordnete trugen sich am Freitagmorgen noch schnell in die Anwesenheitsliste ein, die ihnen knapp 300 Euro Tagegeld garantiert, um sich direkt danach ins Wochenende zu verabschieden.

Solches Nachhaken schätzen die Wähler. Bei den Europawahlen am 7. Juni erhielt die Liste Hans-Martin Martin in Österreich 18 Prozent der Stimmen.

Im Straßburger Habitat aber gilt Martin als artfremd. Eine eingeübte Methode des EU-Establishments, Beschuss abzuwehren, funktioniert nämlich so: Kritiker oder Nestbeschmutzer werden schlicht als „EU-Feinde“ abstempelt, denn wer ein EU-Feind ist, sprich: keinen Wohlstand und keine Demokratie will, der hat sie doch wohl nicht alle an der Waffel.

Traurig aber verständlich, dass ein streitbarer Geist wie Martin in einem solchen Klima umso fester zum Außenseiter gedeiht, ja, sich irgendwann in einer fast sklerotischen Märtyrerhaltung wiederfindet. „Das Ende von Wohlstand und Demokratie“, lautet die Unterzeile seiner „Europafalle“. Ach, wer soll das jetzt glauben.

Schade, dass Martin der Europakritiker-Falle nicht auszuweichen versteht. Denn sein Buch birst nur so von spannenden Recherchen und Analysen. Über Gesetzgebung in Hinterzimmern. Über Korruption im Apparat. Oder über das Gesetz der Schweigens („die EU-Omerta“) zwischen Lobbyisten und Parlamentariern. Europafreunde sollten schlucken – und es lesen.

Hans-Peter Martin:
Die Europafalle. Das Ende von Demokratie und Wohlstand
Piper 2009, 286 S., 19,50 Euro

 

Rotes Schlusslicht

Von wegen Kapitalismus-Krise. Die Europawahl zeigt:
Die Bürger wollen keine Systemdebatte

Wir Europäer kennen uns ein bisschen besser seit dem vergangenen Wochenende. Denn allen einzelstaatlichen Dramen, die natürlich auch die Stifte führten, zum Trotz: Diese Europawahl war eine kollektive Antwort auf einen kollektiven Horror. 57 Prozent der Europäer sagten vor der Wahl, dass die Europäische Union mehr tun solle, um Arbeitsplätze zu erhalten. Nur 26 Prozent interessierten sich für den Klimaschutz, und bloß 24 Prozent schreckt noch das Thema Terrorismus.

Die Wahlbeteiligung mag geschwankt haben (zwischen 19,6 Prozent in der Slowakei und 78,8 Prozent auf Malta), geeint aber waren die Europäer nicht nur ihrer Hauptsorge, sondern auch in der Schwierigkeit, ein Urteil zu finden. Denn der Schrecken, der über den Kontinent kam, rollte heran wie eine Naturgewalt aus außerpolitischen Sphären. Für die Finanz- und Wirtschaftskrise kann der Wähler (noch) keine Quittungen verteilen. Er kann, mangels Erfahrung, an den richtigen Ausweg nur glauben.

Wohin also rennt der Europäer im Gewittersturm? Zur Mitte.

Es ist die Bewegung einer verschreckten Herde, die sich in den Wahlergebnissen des Kontinentes abbildet. In Deutschland, Polen, Frankreich, Italien und Spanien finden sich die Mitte-Rechts-Parteien entweder stabilisiert oder gestärkt. In fast allen großen europäischen Staaten liegt gar ein deutlicher Abstand zwischen Konservativen und Sozialdemokraten. In Deutschland und Frankreich beträgt er rund zehn Prozent, in Ungarn klafft zwischen der Ergebnissäule der Fidesz-Partei und dem Balken der Sozialisten gar ein Abgrund von 40 Prozent. Die Sozialdemokratie in Europa scheint auf ein Stammwählerniveau abzumagern, dessen Mitglieder es laut Umfragen sind, die „vor allem die Politik“ für die Krise verantwortlich machen.

Wie anders hatten sich die Europas Sozialdemokraten den Reflex der Völker ausgemalt. In der wirtschaftlichen Eiszeit, dachten sie, sucht der homo EUensis die rote Wärme, die Solidarität mit den Strauchelnden, Schutz von oben. Mag sein. Doch – und vielleicht war das der größte Fehler der Sozialdemokraten – Angst verscheucht man nicht mit Gespenstern.

„Der Kampf geht weiter!“ – Muss das sein?

„Neoliberalismus“ hieß jenes, das sie in den vergangenen Monaten durch Europa trieben. Schuld an der Misere, tönten Fraktionschefs und Spitzenkandidaten, seien die Finanzhaie (die europäischen Vetter der Lehman-Brüder, der EU-Binnenmarktkommissar Charlie McGreevy), die Deregulierer (Merkel, Sarkozy, Barroso) sowie das System (der Kapitalismus und die EU-Kommission). Auch jetzt, nach ihrer Niederlage, geben sie den Anspruch an ein anderes, sozialeres Europa nicht auf. Aber das Soziale der Sozialdemokraten scheint beim Wähler nicht mehr zu verfangen.

„Der Kampf geht weiter!“, ruft in der Wahlnacht ein sichtlich erschöpfter Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, der Deutsche Martin Schulz, seinen Anhänger in einer brüchigen Video-Schalte nach Brüssel zu. Kaum einer der internationalen Genossinnen und Genossen lächelt über die Wortwahl. Womöglich aber war die Rhetorik der vergangenen Monate, wenn auch verpackt in hippen „Rettet-Nemo“-Spots, ein bisschen zu viel des Klassenkampfes für das 21. Jahrhundert. Die Entschlossenheit und die Schein-Sicherheit, mit denen die Sozialdemokraten auftrumpften und anklagten, ließ ihr Heilversprechen in den Verdacht geraten, letztlich eher aus Weltanschauung gespeist zu sein denn aus Durchblick.

„WUMS“ war nicht dumm

In Frankreich ergingen sich die Sozialisten in wildem Anti-Sarkozismus; alles, aber auch alles, was aus dem Elysée drang, hatte falsch zu sein. Bloß, wo war das eigene, glaubwürdige Projekt?
Dieses Suchende verband die Sozialdemokraten beinah ein wenig mit jenen Parteien, die im neuen EU-Parlament bunte, wirre Fransen bilden werden. Den EU-Skeptikern aus dem Westen, den Internet-Piraten aus dem Norden, den Volkstribunen aus den Osten – jenen „Anderen“, die im Brüsseler Plenarrund fortan beachtliche 93 von 736 Sitzen okkupieren werden.

In Paris strahlt derweil der Grünen-Spitzenkandidat Daniel Cohn-Bendit. Mit 16,3 Prozent führte er seine Europe écologie bis auf zwei Zehntelprozentpunkte an die Sozialisten heran. Und in Berlin jubelt Spitzenkandidat Reinhard Bütikofer über 12,1 Prozent. Warum? Weil „WUMS“ nicht dumm war. Ökologische Ökonomie, oder auf Französisch, grünes Wachstum, erfüllt gleich drei Wünsche der Europäer. Aufschwung, Innovation und Umweltschutz. Darüber, ob „WUMS“ noch links ist, mögen Wissenschaftler streiten. Es war jedenfalls eine konstruktive Wahl.

Die Krise ist keine Folge von Systemversagen

Was boten dagegen die Sozialdemokraten? Eher Systemdebatten aus der Mottenkiste. Kein Wunder, wenn viele Europäer dem Ideologiestreit, den sie anfeuern wollten, mit Skepsis begegnen. Schließlich legt die Indizienlage als Ursache für die Krise eher menschliches Versagen nahe. Mehr jedenfalls spricht dafür, dass die gegenwärtige Krise aus den Fehlern weniger, zu mächtiger Manager und Banker erwuchs, die unheimlich viel über Profitsteigerung wussten und grauenhaft wenig über die Vitalfunktionen einer Volkswirtschaft, als dafür, dass Europas Marktgebälk wesentliche Konstruktionsfehler aufwiese. Wie, wenn nicht mit der tief sitzenden Überzeugung der meisten Europäer, dass der Kapitalismus eben keine gescheiterte Ideologie ist, wäre die klare Mehrheit für die Marktfreunde in den Parlamenten zu erklären? Er soll und muss repariert werden kann – aber mit bitte Vorsicht.

Muss man ein schlechter Mensch sein, um an das Gute in den Selbstreinigungskräften des Marktes zu glauben? Die Mehrheit der Europäer scheint das nicht zu denken. Selbst im 2004 beigetretenen Osten der EU, wo Jobverluste und Währungsverfall bedrohliche Ausmaße annehmen, haben die Wähler nicht das Vertrauen in diejenigen Politiker verloren, die in letzter Konsequenz auf die Vitalität der gesamten Gesellschaft hoffen statt auf die Portemonnaies der Reichsten.

„Ja, wir haben uns übernommen“, gesteht eine ranghohe Politikerin aus Lettland, „und wir sind abgestürzt.“ Aber genauso selbstverständlich redet sie vom „Wir“, von der Basis, mit deren Hilfe es bald wieder aufwärts gehen müsse. Ansonsten, das wissen manche 89er-Revolutionäre vielleicht genauer als andere, ist da nämlich niemand.

Europas Bürger, sie ahnen offenbar, dass der Staat kein systemrelevanter Akteur sein muss, damit dieser Kontinent sich erholt. Neu-Europäer (Ost) und Alt-Europäer (West), scheint es, haben zähneknirschend die Einsicht in die postindustrielle Notwendigkeit gewählt. Eine Herde mit guten Ideen, reden sie sich in der Mitte zu, überlebt auch mal eine geregelte Insolvenz.

 

Halb so schlimm

50 Prozent Wahlbeteiligung wären eine gute Quote für die Europawahlen am Sonntag.
Eine Provokation

Schlimm, schlimm, schallt es dieser Tage auf Brüssels Abendempfängen. Wohl nur an 50 Prozent der EU-Einwohner werden voraussichtlich am Sonntag zu den Europawahlen gehen. Bei der letzten Abstimmung 2004 lag die Wahlbeteiligung ja auch schon so niedrig, bei europaweit 45,5 Prozent. Schlimm, schlimm.

Nein, überhaupt nicht so schlimm. Fünfzig Prozent Beteilung wären vielmehr eine beachtliche Quote für die Europawahlen. Im Gegenteil, die Parlamentarier in Brüssel sollten sich Gedanken machen, ob die EU ihre Arbeit gut macht, wenn sich mehr Leute ernsthafter für das interessieren sollten, was hier passiert.

Huch. Warum das?

Aus mehreren Gründen sollte es niemand tragisch nehmen, wenn die Wahlbeteiligung für die EU deutlich unter der für den Bundestag liegt. Denn erstens darf man vermuten, dass längst nicht die Hälfte aller Europäer auch nur ansatzweise versteht, wie die Gesetzgebung in Brüssel im Vergleich zu den Nationalstaaten funktioniert. Wie viele Wähler kennen wohl den Unterschied zwischen Kommission und Rat? Wer weiß, was der oder die EVP ist? Die oder das ALDE? (Es ist die konservative beziehungsweise liberale Gruppe im Europäischen Parlament.) Und: Wenn diese Fraktionen erst gewählt sind, wählen sie ihrerseits keine Regierung – was im nationalen Wahlspektakel den Hauptanreiz für die Bürger darstellt, ihre Stimme abzugeben.

Aber siehe an: die Europawahl bewegt sie doch. Immerhin zur Hälfte. Nicht übel!

Sicher, man mag bedauern, dass das politische Interesse der meisten Europäer nicht konsequenter über den nationalen Tellerrand hinausreicht. Aber vielleicht sollte man sich damit abfinden, dass der Bürger nur über eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität verfügt. Sie erlaubt es ihm vielleicht noch, der nationalen Politik einigermaßen konsequent zu folgen. Um seine Interesse auf die wesentlich komplexere Europapolitik zu richten, fehlt ihm hingegen regelmäßig nicht nur die Zeit, sondern auch der Anlass.

Das ist nicht nur nachvollziehbar. Es ist demokratiepolitisch auch nicht weiter gefährlich.

Denn, und damit zum zweiten Einwand gegen die Apathie-Panik, die EU soll gar nichts regeln, was die Menschen im Innersten bewegen könnte. Brüssels Organe sind schließlich der Subsidiarität verpflichtet. Dieses Wort, pardon, ist leider genauso kompliziert wie wichtig. Denn das Subsidiaritäts-Prinzip besagt: Nur solche Regelungen, die nicht besser auf lokaler oder nationaler Ebene geregelt werden können, dürfen auf supranationaler Ebene geregelt werden.

Die EU soll, anders gesagt, als Gesetzgeber nur dann einspringen, wenn die Regelungsmacht von Kommunen, Ländern und Staaten versagt.

Das bedeutet in der großen Mehrheit aller gesetzgeberischen Maßnahmen aber eben zugleich: Nur solche Regelungen, die den äußersten Ring der Bürgerinteressen berühren, sind EU-Angelegenheiten. Alles andere soll und muss Sache der lokalen oder nationalen Politik bleiben.

Die EU hat die Aufgabe, das Leben und Wirtschaften auf dem Kontinent zu verschönern und zu erleichtern. Sie soll für jene Reibungslosigkeit sorgen, deren Notwendigkeit sich aus der engen europäischen Staatennachbarschaft ergibt. Den Binnenhandel liberalisieren und den Wettbewerb schützen, zum Beispiel. Die Gemeinschaftswährung hüten. Für Lebensmittel-, Transport- und Spielzeugsicherheit sorgen, dafür, dass keine ungeprüften Chemikalien in Umlauf kommen, und, falls etwas davon einmal nicht klappt, dafür, dass man überall zum Arzt gehen kann. Alles Dinge, die unstreitig schön sind; und die genau deswegen niemanden aufregen.

Das politikwissenschaftliche Schlagwort von der „second-order election“ Europawahl darf man deshalb ruhig ohne defätistischen Beiklang aussprechen.

Die EU soll hingegen gerade nicht Dinge regeln, die keinen supranationalen Regelungsbedarf aufweisen oder die in Rechte und Freiheiten der Bürger eingreifen. Per Richtlinie die Ausgabe von biometrischen Pässen anzuordnen, war zum Beispiel ein schwerer Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip. Ebenso das Verbot der Glühbirne. Oder die ernsthafte Diskussion über europäische Normen für den Salzgehalt von Brot. All dies sind Dinge, welche die Nationalstaaten nicht nur selber regeln könnten, sondern sogar müssen – weil der Bürger ein umso größeres Recht auf klare Erkennbarkeit der politisch Verantwortlichen hat, je tiefer die politischen Maßnahmen in seine Freiheit eingreifen.

Immer wenn sie diese Grenze hinein in die tieferen Bürgersphären überschreitet, zieht die EU – zu Recht – negative Aufmerksamkeit auf sich.

Immer wieder werden Zahlen zitiert, nach denen zwischen 70 und 85 Prozent aller Gesetzgebung aus Brüssel stammt. Das mag ungefähr stimmen. Aber entscheidend für das Bürgerinteresse ist nicht die Anzahl der Paragraphen, sondern deren Relevanz. Und da sieht die Bilanz schon trister aus.

Die EU ist, grob gesprochen, vor allem eine große Normierungsinstanz. Wenn es um Sicherheitsstandards für Kindersitze, Mobiltelefone, Trinkwasser, Festigkeit von Baubeton oder den Abstand von Straßenlaternen geht, schleudert die Gesetzesmaschine Brüssel umfängliche Richtlinien in die Welt. „Achtzig Prozent der europäischen Normen sind technische Normen“, sagt der Fraktionschef der EVP im Europaparlament, Joseph Daul, diese Woche in der FAZ.

Und das soll die Bürger bewegen? Brüssel produziert, seien wir ehrlich, im Großen und Ganzen die wahrscheinlich langweiligsten Gesetze der Welt.

Auf Europas Einigungsgeschichte, besonders auf die der vergangenen 20 Jahre, mögen die Europäer mit Stolz zurückblicken. Der Betriebsalltag der EU hingegen ist kein bisschen herzerwärmend.

Selbst wenn also Kommission und Parlament bewunderswerte, glänzende Arbeit im Geiste der europäischen Verträge leisten, führt das nicht zu einem gesteigerten Bürgerinteresse am Brüsseler Harmonisierungsapparat. Man nimmt’s halt hin – ähnlich wie die Serviceleistung einer Stadtverwaltung, bloß in groß. Noch mal der EVP-Fraktionschef Joseph Daul: „Wenn wir die Abgaswerte von Autos regeln müssen, ist dann ist das doch keine Frage von rechts oder links. Das ist gut für die Umwelt und gut für die Bürger.“

Nichts zu sagen hat das Europaparlament derweil in der Steuergesetzgebung, der Sozialpolitik und, nein, auch nichts in der Konjunkturpolitik.

„Die Zuständigkeit für die Haushalts-, die Steuer- und die Sozialpolitik liegt aus guten Gründen bei den Mitgliedsstaaten“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 27. Mai in ihrer Berliner Humboldt-Rede zu Europa. „Maßnahmen zur Stützung der Konjunktur, auch so genannte Bankenrettungspakete, sind nationalstaatliche Aufgaben.“ Die EU, so die Kanzlerin, könnte hier lediglich den „Ordnungsrahmen“ bilden, in dem die Mitgliedsstaaten über ihre Handlungsoptionen entscheiden.

Aber selbst darauf, wie dieser Ordnungsrahmen in Zukunft aussehen soll, kann der Wähler bei der Europawahl keinen maßgeblichen Einfluss nehmen. Was zum Beispiel, wenn er den Lissabon-Vertrag, der EU-Eingriffe in Bürgerrechte künftig sehr viel einfacher macht und Europa eine Quasi-Staatlichkeit verleiht, nicht möchte?

Davon abgesehen, dass alle ernst zu nehmenden Parteien (CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP) für den Reform-Vertrag sind und sich dem Wähler daher keine echte Alternative zum Integrationskurs bietet, hat das Europaparlament gar keine Einflussmöglichkeit auf die Zukunft von Lissabon. Selbst wenn sich – urplötzlich – eine Mehrheit im Parlament gegen den Vertrag stellen würde, seine Inkraftsetzung bliebe Sache der Mitgliedsländer.

„Hören wir doch auf, die Illusion der Bürgernähe der EU zu erzeugen“, sagt ein deutscher Europaabgeordneter nach diversen Marktplatzgesprächen der vergangenen Wahlkampfwochen. „Das führt bei den Leuten nur zu Frust.“

Kurzum: Es ist nicht kein von vorneherein schlechtes Zeichen, wenn lediglich die Hälfte der Europäer wählen gehen.

Die EU soll schließlich keine Innenpolitik zweiten Grades betreiben, sondern lediglich störende binneneuropäische Barrieren beseitigen. Solange sie das gut macht, kann sie ein gewisses Desinteresse der Bürger entspannt hinnehmen.

Anders hingegen sieht es aus, wenn die Wahlbeteiligung in einigen osteuropäischen Staaten, etwa in Polen oder in den Baltenstaaten, auf unter 20 Prozent rutschen würden. Diese Quote ließe sich dann nicht mehr mit einem freundlichen Desinteresse erklären. Eher schon mit grundsätzlicher Feindseligkeit gegen eine neue politische Oberaufsicht, wie sie diese Staaten erst vor 20 Jahren abgeschüttelt haben.

Eine Gleichsetzung der EU mit dem Sowjetimperialismus verbietet sich zwar. Aber vielleicht gilt emotional in diesen Ländern ein analoger Gedanke, wie ihn die ostdeutsche Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nach der 1989er-Revolution in der DDR formuliert hat. „Wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen.“

In Osteuropa denken vermutlich viele, sie wollten Europa und haben die EU bekommen. Aber seien wir auch hier ehrlich: Es gibt schlimmere Enttäuschungen.

 

Das Leatherman-Parlament

Am 7. Juni sind Europawahlen.

Doch was für ein seltsames Wesen ist eigentlich die Brüsseler Volksvertretung?

Eine Erkundung

Brüssel / Straßburg

„Ja!“, schreit Daniel Cohn-Bendit. „Politik! Echte Politik!“ Er springt aus seinem Sessel auf. „Genau! Das braucht Europa!“ Wie aufgeputscht geht der Fraktionsvorsitzende der Grünen in seinem Abgeordnetenbüro auf und ab. Der Blick hinaus streift die hochhausartige Spiegelfassade des Europäischen Parlaments. Rechts im Tal darunter erstrecken sich die profanen Schindeldächer Brüssels. Auf dem Fensterbrett vor dem Alt-Revolutionär Cohn-Bendit liegen zwei Pflastersteine. Relikte aus einer Zeit, als Politik noch greifbar war. Als Meinungsstreit noch Richtungsstreit war und Ideen Straßen aufheizten.

Das andere Ende der Intensitätsskala heißt Europaparlament. Es ist ein Organ, von dessen Natur und Funktion kaum ein Bürger eine Vorstellung hat. Im gefühlten politischen Bewusstsein changiert es zwischen geheimnisvoller Hypermacht und zweitklassig bestückter Folkloretruppe. Vielleicht scherten sich deswegen bei der letzten Wahl 2004 nur 47,5 Prozent der Europäer die Bestellung ihrer Abgeordneten. Vielleicht sagen auch deswegen heute 51 Prozent der 375 Millionen wahlberechtigten EU-Einwohner, sie interessierten sich nicht für die nächsten Europawahlen am 7. Juni.

Ist das dumpfe Gefühl, dass es sich beim Europaparlament bloß um eine Simulation von Politik handelt, womöglich richtig – und das niedrige Bürgerinteresse mithin berechtigt? Oder scheitern an dem, was dieses Gebilde in Wirklichkeit ist, die gewohnten Kategorien von Politik – mit der Folge, dass die Wählerhirne das Europaparlament zu Unrecht übersehen?

Daniel Cohn-Bendit greift sein Jackett, bedenkt die drei Mitarbeiterinnen in seinem Vorzimmer mit ausgiebigen Bussis und tritt hinaus in die Parlamentsflure. Es ist ein Labyrinth, das jeden Neuling das Kafkaeske dieses Apparates spüren lässt. Die Büros der 785 Abgeordneten aus 27 Ländern tragen Postleitzahlen wie ASP 7G 351 und sind so eng, dass man aufpassen muss, keine Bilderrahmen von der Wand zu fegen, wenn man sich in ihnen herumdreht. Im Foyer sortieren Assistenten Dokumente in riesige, tausendfächrige Regalablagen. Noch der kleinste Änderungsantrag muss ins Gälische oder Maltesische übersetzt werden muss, bevor ein Rädchen sich weiterdreht.

Cohn-Bendit findet blind seinen Weg durch das Gewirr der Gänge, im Gehen tippt er Kurzmitteilungen an die Fraktionsmitglieder in sein Handy. „Ja, sicher!“, ruft er wieder und wedelt mit der sommerbesprossten Hand, „wir müssen die Auseinandersetzung hier politisieren!“ Dann redet er von Klimaschutz, von neuen Bankenregeln, von einer anderen Afghanistanpolitik, von einem sozialeren Europa. Doch für mindestens die Hälfte all dieser Angelegenheiten haben er und seine Kollegen überhaupt kein Mandat.

Das Europaparlament besitzt kein Initiativrecht für Gesetzgebung. Es kann lediglich mitentscheiden über Vorhaben der EU-Kommission, die im weitesten Sinne den Binnenmarkt betreffen. Die Folgen dieser Richtlinien spüren zwar sämtliche Europäer jeden Tag. Etwa dann, wenn Flug- oder Telefonkosten sinken, wenn plötzlich biometrische Pässe ausgegeben werden, wenn die Glühbirne verboten wird oder neue, CO2-sparende Autos auf den Markt kommen. Doch um unliebsame Ideen der Brüsseler Kommission zu kippen, muss das Parlament eine absolute Mehrheit aufbringen. In der Praxis führt das zu einer permanenten Großen Koalition zwischen den beiden großen Fraktionen, der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) und den Sozialdemokraten (SPE). „Es gibt hier den institutionalisierten Zwang zum Kompromiss“, sagt ein EVP-Abgeordneter. Die Folge: „Man duzt sich“, auch politisch.

Im Falle von Daniel Cohn-Bendit wirkt diese Grundharmonie regelrecht tragisch. Im riesigen Hémicycle, dem zweitgrößten Plenum nach der indischen Volksversammlung, sieht man den Grünen-Chef versunken in der taz-Lektüre, während um ihn herum das Händegepaddel der Abstimmungen die Saalluft aufwühlt. Von der außerparlamentarischen Opposition hat ihn sein Weg in ein oppositionsloses Parlament geführt. „Dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Angenommen“, schallt es in einer Endlosschleife vom Präsidiumspult.

Als „Corporate Identity“ beschreibt der deutsche Sozialdemokrat und EU-Veteran Jo Leinen die Stimmung, die im Haus oft herrsche. Anders als in den „Konkurrenzdemokratien“ der Landtage oder des Bundestages teilt sich das EP überdies nicht in Regierungsfraktion und Gegenlager auf, sondern steht vereint gegen 27 nationale Regierungen, denen – so sieht es Leinen – das große europäische Ganze oft immer noch nicht klar genug sei. Einen zusätzlichen Kitt bilde „der Schulterschluss gegen das Lager der Anti-Europäer“. Die mögen zwar in Wahrheit oft nur EU-Kritiker sein, aber solche Unterscheidungen stören nur das Kollektivbewusstsein.

Komplexe Materien, unbekannte Gesichter, statt Streit Stigmatisierung von Querdenkern – kein Wunder, dass Europapolitik verlangweilt, ja, dass sich beim Wähler der Eindruck breit macht, diese Volksvertretung sei recht eigentlich eine bessere NGO mit dem Vereinsziel europäische Integration.

„Die Abwesenheit von Politik gilt ja quasi als Errungenschaft dieses Parlaments“, sagt die Spitzenkandidatin der FDP, Silvana Koch-Mehrin (Foto). „Man muss sich schon entscheiden: Will man eine Harmonieveranstaltung sein oder ein streitbare Versammlung?“ Sie hat es sich angewöhnt, statt Brüsseler Abgeordneten lieber Berliner Minister für Entscheidungen anzugreifen, die sie bei EU-Treffen mittragen. Das, sagt sie, bringe daheim wenigstens Schlagzeilen.

Sahra Wagenknecht fühlt denselben Frust. Die (Noch-)Europaabgeordnete der Linken fremdelt mit der französischen Bedienung im Restaurant des Parlaments, als sie sich – eher widerwillig – ein überteuertes Fischgericht bestellt. Ihre Brüsselbilanz klingt, als ziehe sie Gräten aus der Erinnerung. „Im Bundestag haben wir als Linkspartei ja immerhin noch die Möglichkeit, Themen an die Öffentlichkeit zu ziehen und damit andere Parteien unter Druck zu setzen. Hier hingegen arbeitet man wie unter einer Glocke.“ Nach fünf Jahren verzieht sich Wagenknecht aus dem Teflonparlament – aufgefallen ist ihr Auslandsaufenthalt daheim in Berlin ohnehin kaum jemandem. „Die Leute auf der Straße gehen oft davon aus, ich sei im Bundestag.“

Und doch, es gibt Opposition im EU-Parlament. Allerdings richtet die sich regelmäßig nur gegen die Details von Harmonisierungsgesetzen, nicht auf die Frage, ob dieses oder jenes Harmonisierungsgesetz tatsächlich notwendig ist. Warum etwa muss die EU die Länge des Mutterschutzurlaubes vereinheitlichen? Warum muss sie sich mit der Untertitelung von Filmen beschäftigen? Warum in einem intransparenten Verfahren die Glühbirne verbieten?

Am 19. Februar 2009 öffnet, aus protokollarischem Zwang, das blaue Brüsseler Rund einem seiner schärfsten Kritiker die Tore. Der tschechische Präsident Vaclav Klaus darf anlässlich der EU-Präsidentschaft eine Rede im Europaparlament halten. Die Stimmung ist angespannt. Und Klaus enttäuscht nicht. „Sind Sie sicher“, provoziert der Tscheche, „dass Sie über Sachen entscheiden, die gerade hier in diesem Saal und nicht näher am Bürger entschieden werden müssen?“ Buh-Rufe fliegen ihm entgegen, aber auch vereinzelter Beifall. Dann jedoch sprengt Klaus die Schmerzgrenze.

„In unserem Teil Europas“, sagt er, „haben wir die bittere Erfahrung gemacht, dass dort, wo es keine Opposition gibt, die Freiheit verkommt.“ Mehrere Abgeordnete, unter ihnen auch der Deutsche Jo Leinen, verlassen daraufhin den Saal. Die Kränkung war zu existentiell. Und ein bisschen zu wahr wohl auch die Erinnerung daran, dass Menschen sich immer noch am liebsten regional und national, nicht supranational regieren lassen.

Eine Folge der eingeschränkten Initiativmacht des EP ist ein dauernder Energieüberschuss bei vielen seiner Mitglieder. Der führt zu zweierlei. Einerseits zu einer Flucht in NGO-hafte Awareness-Politik. Andererseits aber auch dazu, dass sich das Parlament zur Auxiliartruppe europäischer Außenpolitik erklärt.

An einem Herbsttag lädt die estnische Abgeordnete Marianne Mikko in den Pressesaal „Anna Politkowskaia“ ein (benannt nach der ermordeten russischen Enthüllungjournalistin). Sie möchte einen Erfolg feiern, denn gerade hat das Parlament mit 307 zu 262 Stimmen Mikkos Bericht über „Gemeinnützige Bürger- und Alternativmedien in Europa“ angenommen. Darin fordert die Sozialdemokratin eine „Diskussion“ darüber, welcher Rechte und Pflichten Blogger haben sollten. Denn, so mahnt sie: „Worte können töten“.

Aber, Frau Mikko, es gibt doch bereits Presse- und Strafrechtsregelungen. Wo also ist der Handlungsbedarf?

„Ich rufe“, antwortet sie etwas verdruckst, „dazu auf, dass Blogger wie menschliche Wesen handeln. Ich rufe zur Menschlichkeit auf!“

Mikkos Bericht wird von der EU-Kommission, wie zahllose andere Berichte und Resolutionen auch, betreffend etwa die Situation der Bären in China oder die Lage in Ostjerusalem, wohlwollend zu den Akten genommen werden.

Anderseits kann das EP durchaus schmerzhafte Tritte erteilen. Etwa dann, wenn nationale Einzeldiplomatie zu unentschieden erscheint. Es ist ein kalter Wintertag, und seit kurzem ist die russische Gaszufuhr Richtung EU abgeklemmt. In Rumänien frieren EU-Bürger. Im Sitzungssaal des Auswärtigen Ausschuss des EU-Parlaments drängen sich die Journalisten, denn eine Politiker-Delegation aus der Ukraine hat sich eingefunden.

Verständnisheischend lächelt der stellvertretende Ministerpräsident aus Kiew in die Runde – und versucht erwartungsgemäß, die Schuld an dem Lieferengpass allein Russland zuzuschieben. Dem deutschen Ausschussmitglied Alexander Graf Lambsdorff (FDP) platzt daraufhin der Kragen. „Regelt das zwischen Euch!“, entfährt es ihm. „Wir wollen keine warmen Worte, wir wollen warme Wohnung. Also regelt das!“

Der Ukrainer ist sichtlich erschüttert. Es dürften die klarsten Worte gewesen sein, die er von seinem Europa-Tripp mit nach Hause nahm. Wenige Tage später rauscht das Gas wieder. „Diskursive Diplomatie“ nennt Lambsdorff die Methode – und die kann auch anderswo viel Gutes tun.

„Kara-kal-pak-stan“, buchstabiert Elisabeth Jeggle (Foto). Sie hat noch immer Mühe, den Landesnamen richtig auszusprechen. „Karakalpakstan ist ein Non-Land rund um den Aralsee, wo die Kinder mit TBC auf die Welt kommen.“ Noch nie, sagt Jeggle, eine Landwirtin und CDU-Abgeordnete aus der Nähe von Ulm, habe sie „so viele, so dünne Kinder“ gesehen. „Als ich dort ankam, haben sie uns englische Willkommenslieder gesungen, einige haben sich an mich geklammert. Das hat mich so beeindruckt.“ Seitdem kümmert sich Jeggle neben ihrer Arbeit im Agrarausschuss um eine förderliche Zukunft Zentralasiens. Sie reist nach Usbekistan, Kasachstan, besichtigt an der Seite des Roten Kreuzes ein Gefängnishospital, holt Praktikanten aus der Region in ihr Büro, mahnt bei Außenministern die Menschenrechte an.

„Diese Länder“, sagt Jeggle und macht blinkende Handbewegungen, „gucken mit solchen Augen auf uns. Es hat Wirkung, was wir sagen. Das Sehnsuchtsziel der Menschen dort heißt nicht Amerika. Sondern Europa.“ Mit genauso großen Augen, gibt Jeggle zu, schauen sie ihre Wähler daheim in Württtemberg an, wenn sie ihnen ihre Reisegeschichten auftischt. „Natürlich fragen die mich, ob ich keine anderen Probleme habe, für die ich Steuergelder verschwenden könnte. Aber dann sage ich ganz offen: Ich will, dass es diesen Ländern besser geht. Weil es Menschen gibt, die in den vergangenen 50 Jahren nicht so viel Glück hatten wie wir.“ Dem Auswärtigen Amt ist das Engagement von Jeggle willkommen. Sie und andere EU-Parlamentarier bilden eine sanfte Vorhut Europas, die sich nicht an die üblichen protokollarischen Beschränkungen von Staatendiplomatie halten muss. Außenpolitik per menschlicher Osmose, wenn man so will.

Steuergelder verschwendet das Europaparlament derweil auf andere Art. Der Versöhnung Europas soll der Legende die Regelung dienen, das Parlament an zwei Standorten tagen zu lassen. Alle drei Wochen brechen Lastwagenkolonnen aus dem Brüsseler EU-Viertel auf nach Straßburg, bepackt mit Aktenkisten von sämtlichen Abgeordnete, Assistenten und Übersetzern die per Bahn, Auto oder Flugzeug ins Elsaß nachkommen. Was diese Pendelei in Wahrheit demonstriert, ist die Unversöhnlichkeit der französischen Regierung mit dem Gedanken, auf eine Spesenschleuder zu verzichten, die vor allem Straßburgs Gastronomie- und Taxigewerbe Spitzenumsätze garantiert. Schätzungsweise 250 Millionen Euro kostet dieser Irrsinn die Wähler jedes Jahr.

In der letzten Straßburg-Woche vor Beginn des Wahlkampfes begrüßt die Abgeordneten vor dem eindrucksvollen Ovalbau ein großer, aufgeblasener Seehund. Drinnen, vorm Abstimmungssaal, verteilen schlanke Blondinen puschelige Stoffrobben. „Ihr könnt Geschichte machen!“, appellieren die Tierchen auf angetackerten Zetteln. „Beendet den Fellhandel!“

„Vielleicht sollten wir im 3. Stock noch ein Kinderkarussell aufstellen“, spottet Werner Langen, „dann wäre der Zirkus perfekt.“ Der 59 Jahre alte Ingenieur aus Rheinland-Pfalz ist ein humorvoller Mensch. Zugleich gilt der Chef der CDU/CSU-Gruppe als einer der mächtigsten Politiker im Parlament. Das bunte Treiben der Lobbyisten auf den Fluren gehe ihm zunehmend auf die Nerven, sagt er. Und gibt ihm selben Atemzug zu, dass er selber einer ist. Das Straßburger Abgeordnetencafé halt von temperamentvollen Gesprächen italienischer und französischer Abgeordneten wider.

„Natürlich“, sagt Langen und hebt die Stimme, „verteidigen wir hier die Interessen der deutschen Autoindustrie.“ Er selbst hat federführend dafür gesorgt, dass der Grenzwert für den CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2020 auf lediglich 95 Gramm pro gefahrenem Autokilometer begrenzt wird. Ein niedrigerer Grenzwert könnte schießlich dem deutschen Limousinenbau schaden. „Jeder hat hier seine Interessen, bei denen die Gemeinsamkeit aufhört“, sagt Langen. Bei den Briten ist es das Bankenwesen, bei den Franzosen sind es die Agrarsubventionen.

Echte Politik, siehe an, es gibt sie im Europaparlament. Doch sie ist von viel bürokratischerer, technischerer Art, als ein Daniel Cohn-Bendit sie erträumt. Vielleicht ist dieses seltsame Organ ja am besten als Leatherman-Parlament beschrieben. Viele, mitunter zu viele kleine Schraubenzieher bilden sein Mittelarsenal, dazu eine beachtliche Kneifzange – sowie ein Fächer überflüssiger Gimmicks, die es eher zum Schmuck ausklappt. Keine große Keule eben. Ist es eher ein Feinwerkzeug für Liebhaber leiser politischer Mechanik.

 

Mülldurchsuchung

Ein Inspektor der Kommunalverwaltung, steht in dem Einschreiben, habe meinen Papiermüll durchwühlt. Er fand darin, heißt es im Annex, mehrere Umschläge mit meinem Namen, einer habe einen Stempel getragen: „DIE ZEIT“. Ob ich gestehen wolle?

In Brüssel setzt es harte Strafen für Leute, die ihren Müll zu früh auf die Straße stellen. Weil auf den engen Gässchen kein Platz für Abfalltonnen ist, benutzt man spezielle Säcke. Die allerdings dürften nicht vor 18 Uhr vor der Tür postiert werden. Ein Verstoß kostet 80 Euro.


Lotterleben: Im EU-Korrespondentenviertel

Ich halte das für eine angemessene Sanktion für eine einfache Regel. Weswegen ich zu ihren treuesten Befolgern zähle.

In diesem Sinne schreibe ich der Kommunalverwaltung zurück. Es könne sich nur um einen Irrtum handeln, beteure ich – und stelle schon einmal klar, dass ich ohne weitere Beweise nicht einen Cent zahlen werde. Ein Foto von dem allein stehenden Papiersack, schlage ich vor, wäre ein guter Anfang. Anhand der Länge seines Schattenwurfs ließe sich schließlich die genaue Uhrzeit rückbestimmen.

Ein paar Tage später, eine unbeeindruckte Mail: „Vielleicht haben Sie sich einfach im Tag geirrt, Monsieur?“ Nein, das habe ich nicht, denke ich, und, zunehmend entschlossen: Meine Zeit in belgischer Erzwingungshaft, das wäre doch mal eine Geschichte, die ich meinen Enkeln erzählen könnte.

Während ich über den nächsten Schritt nachgrüble, kommt plötzlich eine zweite Mail. Man habe sich, heißt es da, entschieden, meinen Worten Glauben zu schenken. Diesmal käme ich noch mit einer Verwarnung davon. „Aber geben Sie bitte in Zukunft besser Acht.“

Na gut, ist in Ordnung.