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Tagebuch des allmählichen Untergangs (1)

 

Aus dem Leben gegriffen, das sagt sich so leicht. Wie findet ein Schriftsteller Inspiration zwischen all diesen Terrornachrichten? Matthias Nawrat schreibt für uns ein Journal.

September 2014

Geträumt, ich sei mit L. in einem Land gewesen, auf der Flucht entweder, oder in dem Land war man von vornherein verdächtig. Bei der Einreise stellte ich im Zug fest, dass ich mir keinen Pass und keine Zugtickets ausgedruckt hatte, in diesem Moment sah man schon den Grenzbeamten zwischen den Sitzreihen näher kommen. Ich fragte L., ob sie ein Blanko-Exemplar eines Passes bei sich hätte. Ich erinnere mich, dass man diese Sachen, die man für den Aufenthalt in jenem Land dringend benötigte, in einem großen, extra für diesen Zweck aufgestellten Automaten hätte ausdrucken müssen, der die Identitäten in seinem Inneren verwaltete. Der Grenzbeamte kam näher, aber L. hatte für mich nichts ausgedruckt.

Sonntag. Mitten im Gespräch über L.s Optionen im Hinblick auf Nebenjobs während des im Herbst beginnenden Studiums, auf dem Balkon, unter uns das sonntäglich friedliche Viertel, setzen ohrenbetäubend die Glocken der Kirche schräg gegenüber ein. Unter uns Grüppchen von Leuten auf dem Gehsteig, die alle in dieselbe Richtung gehen. Als das Glockengeläut abgeklungen ist, das Rattern eines Rollkoffers von der gegenüberliegenden Straßenseite, wo eine junge Frau in die entgegengesetzte Richtung geht, die leere Straße entlang, Richtung Gesundbrunnen. Irgendeine Party in den Knochen vermutlich.

Heute auf SPON: Nato erwägt Stationierung von Soldaten an den Ostgrenzen der EU. Waffenstillstand zwischen Ukraine und den Separatisten vereinbart. Allerdings schon kurz darauf erste Kämpfe und Tote ­– Business as usual (siehe Gaza). Übrigens werfen russische Ultranationale Putin vor, er sei eine Marionette des Westens. Der hat’s auch nicht leicht.

Am Abend im Weltspiegel ein Bericht über das Schicksal eines davongekommenen irakischen Regierungsrekruten, dessen Ausbildungslager irgendwo im Norden des Landes von vorrückenden IS-Kämpfern überfallen worden ist. Auf Handyaufnahmen sind junge Männer zu sehen, die in einer Reihe auf eine Grube oder auf einen Fluss zugeführt werden, in gebückter Haltung, jeweils das Hemd des Vordermanns zwischen den Zähnen, wo sie dann per Kopfschuss umgebracht und hineingestoßen werden. Ich musste mittendrin wegschalten, ich halte das nicht aus, was auf dieser Welt ständig und immer passiert. Ich kann es auch eigentlich nicht glauben. Wie kommt es dazu, dass ein Kind zu jemandem wird, der in schwarzer Vermummung herumstolziert und an das Gottesreich glaubt und anderen in den Kopf schießt. Und das ist dieselbe Welt, in der ich hier sitze.

Am Freitagabend grillen gewesen auf dem Tempelhofer Feld, mit Fabian, Malte und deren Bekannten. Später kamen noch Paula, Steffen, Rahel und Christoph. Sonnenuntergang, ich hatte den Żubrówka mitgebracht, schnell angetrunken. Später noch zahlreiche Biere und Gespräche im Bechereck in Neukölln, sehr ausgelassene Stimmung, ein lauer Spätsommerabend. Am Morgen danach Schädel, L. und ich brechen dennoch tapfer auf in den Grunewald. Eintritt vom Nikolassee her, wo der Grunewald noch nicht langweilig begradigt ist, ein richtiger Wald sogar an einigen Stellen. Wir erreichen den Wannsee, dort ein guter Moment: Absolute Windstille, in der Ferne Dutzende weiße Segel, Sonne, stehende Hitze, stehende Zeit, wie in den Sommern an den Masuren. Als wir weitergingen, sagte ich mir, ich müsste dieses Gefühl behalten; ich sei hier gewesen, ich hätte dieses Gefühl gehabt, der Moment sei wirklich gewesen.

Heute Vormittag am Roman gearbeitet, am Problem der Erzählsituation. Erkenntnis verdichtet sich, dass die Erzählsituation im Präsens stattfinden muss, die Beerdigung und der Aufenthalt in Opole, die Familie, die Besuche in der Siedlung und auf dem Russenmarkt, die Erfahrung der Fremdheit und die Veränderungen nach dem Mauerfall. Das gehört zur Geschichte, das löst das Erzählen überhaupt erst aus. Es geht um diese Kinder. Um diese Wir-Generation, die Schreckliches noch anrichten wird, weil sie die Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht erlebt hat, weil ihr nur Geschichten zur Verfügung stehen.

Jeck sprach gestern am Telefon wieder vom III. Weltkrieg. Alles im Witz, aber er hat viel Zeit und so verbringt er Tage auf dem Grundstück von E. und meistert herum, baut etwas, pflanzt etwas an. Unklar ist, ob er sich auf ein Leben als Selbstversorger aus Angst vor den politischen Entwicklungen vorbereitet oder ob die Angst ihm nur die Sinnleere füllt, die freie Zeit. Alles im Witz, wie gesagt. Und doch leuchtet mir alles ein, sein Handeln ergibt gerade in dieser Ironisierung einen umso klareren Sinn. Es ist nicht so, dass wir beide meinen würden, der Mensch sei vernünftig und gut und nur die aktuellen Entwicklungen würden nun als Gefahr für das Gute sich am Horizont erheben. Vielmehr ist es für uns beide das Natürlichste auf der Welt: Bald kommt der Mensch nach Hause zurück. Er war jetzt eine Weile weg, aber nun kehrt er wieder heim. Deshalb diese traurige Selbstironie. Aus der trotzdem Hoffnung spricht.

Ich muss mich gegen diese meine Angst, diesen meinen Katastrophismus stemmen. Ich muss mich selbst zu widerlegen versuchen. Wie ich ja überhaupt nur aus Hoffnung schreibe.