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Fluss mit E: Ebola!

 

Die Angst vor der Epidemie ist überall. Auch in dem Flugzeug, mit dem unsere Autorin unterwegs ist. Sind mal wieder die Computerspiele schuld?

16. Oktober 2014: United Airlines, Flug 902. Mehr als 500 Passagiere richten sich in ihren Sitzen ein für elf Stunden Reise nach San Francisco. Wir sind noch nicht lange in der Luft, als nach einem Arzt an Bord gefragt wird. Die meisten Passagiere sind unter Kopfhörern verschwunden. Meine Nachbarn verstehen kein Englisch. Eineinhalb Stunden später fragt die ältere, mit starkem Schweizer Akzent sprechende Flugbegleitern ob wir die Kursänderung bemerkt hätten (wie macht man das über einer geschlossenen Wolkendecke?). Kurz darauf landen wir in Island auf einem Flughafen irgendwo bei Reykjavík. Militärisch-zivil. Wir die einzige größere Maschine weit und breit.

11. April 2003: Flug British Airways von Kalkutta nach London. Ich habe am Flughafen ein Glas Tee getrunken. Die neun Stunden Reisezeit verbringe ich auf der Toilette. Kommentar der Stewardess: „Da müssen sie durch.“ Fieber, Hirnwolken, Schmerz. Endlich ein unglaublich rosafarbenes Getränk bei Boots in Heathrow. Erlösung.

16. Oktober 2014. Der Patient, ein junger Brite, wird von isländischen Sanitätern „abgeführt“. Durchsage der Schweizerin: „intestinal blockage„. Die von ihm benutzte Toilette geschlossen. Fieber habe er nicht.
Endlich fällt auch bei mir der Groschen. Ebola verdanken wir die Landung.
Ich sitze weit hinten, bekomme etwas ab von der frischen Luft, die eine Stunde lang ins Flugzeug dringt. Auftanken. Der Chefsteward weist von sich, dass wir aus Ebolasorge gelandet seien. Man lande, immer, wenn es jemandem schlecht gehe.
„Ach so“, sage ich.

Zwischenstopp bei Rejkjavik (© Ulrike Draesner)
Zwischenstopp bei Reykjavík (© Ulrike Draesner)

Berlin, Dezember 2011: In der Tür des Tierladens im Nachbarhaus hängt ein großer weißer Zettel. Warnung: Hier freilaufende, hochgiftige Bakterien- und Virenträger! Eine Frau, erzählt der Ladenbesitzer, hat am Vortag das Geschäft betreten, die beiden schlafenden Hunde gesehen, ist schreiend rausgerannt.

Berlin: Mann oder Frau kommt mir mit Kleinkind entgegen. Breiter Gehweg. Mein knapp kniehoher, schmaler Hund, uralt, trottet an der Leine. Kind, angstlos, trappelt auf den Hund zu, wird hochgerissen, zappelt in der Luft, brüllt. Der Erwachsene faucht mich an: „Sehen Sie, wie das Kind sich erschreckt hat!“

Kein Wunder, möchte man denken, dass unsere Angst vor Bakterien und Viren gestiegen ist. Was hatten wir nicht alles: Anthrax, Hühnerpest, Schweinegrippe, Ebola. Menschen, die Atemmasken tragen, auf Flugreisen. Freunde, die stets ein Fläschchen Desinfektionsmittel in der Jackentasche tragen. Seit der Jahrtausendwende bewegen sich Menschen, erstmalig in der Geschichte des Planeten, stärker über den Erdball als Vögel oder Warenströme. Offensichtlich steigert Globalisierung jedes Ausbreitungsrisiko, offensichtlich gehört es zu Furcht oder Angst, über die rationalen Elemente des Anlasses hinauszuschießen. Näheangst zeigt sich in unseren Ansprüchen an den Körper des anderen, an unseren eigenen. Ein Wandel der Ästhetik begleitet das Phänomen: kein Husten, kein Niesen, keine Körperhaare mehr. Nichts, das ausdringt oder aus dir ragt.

16. Oktober: Wir heben ab, man verteilt Eiscreme. Flugzeit nach San Francisco: weitere neun Stunden. Keine Ahnung, wie viele Dollartausende unser Zwischenstopp die Airline kostet. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich finde es vollkommen richtig, dass wir landeten und der Patient versorgt wurde. Freunde schicken eine SMS: Ihr Sohn soll im Januar über Dubai nach Indien fliegen, sie stornieren die Reise. Ich beobachte mich selbst und frage mich, ob bzw. wie stark Szenarien aus der Welt der Avatare und die in ihren Spielwelten ausagierte Ängste vor Zombies, Viren, Weltuntergängen unsere realweltlichen Ängste mitbestimmen.

Induziert die digitale Welt zusätzliche Angst vor der wirklichen? Vor dem Atem, den Ausscheidungen, dem unvermeidlichen „Kontaktschmutz“ sogenannter warmer Körper? ‚Warme Körper‘ impliziert, dass es kalte Körper gibt. Bis der Ausdruck aufkam, waren das Amphibien oder Leichen gewesen. Und nun: kalte Körper, die warmen begegnen? Lebendig oder doch nur belebt? Sodass warme Körper, früher einfach „normal“, inzwischen als besonders gefährlich erscheinen?

Mein Erdkundelehrer Matzner (Name nicht ausgedacht!) fällt mir ein. Der sagte: Jeder Mensch braucht jeden Tag eine ordentliche Portion Dreck. Ein großartiger Satz. Allemal, wenn ich matzverschmiert statt arielweiß nach Hause kam. Wie weit weg scheint das zu sein!

Ich wohne in San Francisco bei Freunden. Zu fünft sitzen wir am Tisch und spielen Stadt Land Fluss. ‚E‘ kommt dran, Fluss. Gleichzeitig rufen das jüngste Kind und ich „Ebola“.