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Tagebuch des allmählichen Untergangs (2)

 

Notizen einer sorgenvollen Existenz: Was, wenn der IS tatsächlich an Einfluss gewinnt? Was, wenn die Gesellschaft keinen Platz mehr für Literatur hat? Was, wenn das Internet uns fremdbestimmt?

September 2014

Angefangen, Jurjew zu lesen, Die russische Fracht. Was für ein Ton, was für ein
Irrsinn der Sprache, was für eine Größe von der ersten Seite an. Wir müssen für diese große russische Literatur, die wir als Geschenk bekommen, auch den Preis zahlen, den Größenwahn auf dem Weltparkett, die Gewalt, in der die Russen zu Hause sind, im Schönen wie im Hässlichen.

Ankunft in Nümbrecht bei Waldbröl bei Hennef bei Köln, Blind-Date-Lesung im
Rahmen der Longlist. Habe im Hotel die SMS vom Verlag bekommen; bin nicht auf der Shortlist. Erleichterung, weil das Warten ein Ende hat – den ganzen Tag im Zug Mails checken, zu nichts sonst in der Lage. Und das machen sie mit einem mit ihrer Wettbewerbspolitik: Es geht nicht um Literatur, oder um den Schriftsteller in der Welt, es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte. In mir jetzt Leere. Und nur, weil ich der Verlierer bin. Aber Verlierer von was? Sie lassen einen in die Leere stürzen, weil sie keine echten Werte haben. Sie haben nur mediale Aufmerksamkeits-Slots. Den großen Geist der Literatur wollen sie durch diesen Schlitz drücken, in die Öffentlichkeit hinein, die unterhalten werden will. (Die Buchhändlerin sagte zu mir im Auto: Warum die ausgerechnet Sie zu uns schicken, wenn es wenigstens Zaimoglu oder Hettche wäre, die kennt man immerhin. Ich muss ihre Ehrlichkeit bewundern, auch wenn sie nicht trotz Empathie, sondern aus Empathielosigkeit kam.) Und jetzt muss ich noch diese Lesung bestreiten, mit lauter voraussichtlich Enttäuschten. Eine Blind-Date-Lesung ist am Ende die größte Demütigung, zum Finale dieses Zurschaugestelltseins. Wie damit umgehen?

Gestern Nacht im Hotel noch einen Bericht über die IS-Milizen gesehen. Deren
Hauptguru propagiert einen islamischen Staat, der nach und nach sich auch Teile von Europa einverleiben werde. Ein ehemaliger Dschihadist aus Ägypten warnte in einem Bildschirmkontrollraum sitzend, dass bereits IS-Kämpfer in Ägypten aufgetaucht seien und von den aktuellen Instabilitäten in der Regierung profitieren könnten. Hinzu kämen Schläferzellen in den USA und in der EU, die nur auf ein Kommando warteten. Ich kann solche Berichte nicht mehr sehen. Die Drohkulisse, die sich immer enger um L.s und meine Wohnung zusammenzieht. Was, wenn demnächst das wackelige Libyen fällt? Was, wenn die Armen dieser Welt plötzlich diese Verrückten als bessere Alternative ansehen? Wenn die westlichen Unternehmen aus immer mehr Ländern vertrieben werden, wenn es also nicht einmal mehr Handelsbeziehungen von Mensch zu Mensch geben wird und damit Feindbilder sich in den Köpfen von Kindern aufbauen lassen können?

An einem Starbucks-Cafétisch am Hauptbahnhof in Köln, vor dem Szenenbild des Doms, belauschte ich ein Gespräch zweier Engländerinnen. Kein Wort fiel über Schottland. Ich überlegte schon, ob ich mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen versuchen könnte. Aber dann entschied ich, dass dieses Thema angesichts anderer, die derzeit die Welt an ihrem Abgrund schaukeln, nicht von Belang sei. Ich notierte weiter für den Polenroman, das einzige, das ich aktiv an die Welt zu geben habe.

Jetzt, da ich wieder am Polenroman arbeite und darin etwas Neues plötzlich passiert, ist das Gefühl des Fremdseins in dieser Welt, in dieser Existenz, verschwunden. Hier irgendwo liegt der Grund geheimnisvoll verborgen für diesen meinen inneren Zwang, jeden Tag etwas zu schreiben. Diesen Grund aber lüften zu wollen, so spüre ich, wäre fahrlässig und falsch. Stattdessen mich in diese Tätigkeit ergeben, die mich jetzt wieder zieht (denn nicht ich schiebe, ich musste nur anschieben helfen), und glücklich sein, dass es einmal noch weiter geht.

Der gestrige Geburtstag: Seit Langem ein Jubiläum, an dem ich frei von Selbstzweifeln und Selbstmitleid war. Geschmückte Küche, Kuchen, und das Beste: L. hat zwei Wochen lang ein Lied auf der Gitarre geübt, um es mir dann vorzuspielen. Wie liebenswert ist dieser Mensch, zwei Wochen lang an mich zu denken und mir Gutes tun zu wollen. Ich kann meine Liebe überhaupt nicht in Sprache fassen. Die Möglichkeiten der Sprache verhalten sich zu dem, was man sagen will, so, wie sich die Möglichkeiten der Religion und des Glaubens zum Bedürfnis des Menschen verhalten, Sinn und Erlösung zu finden.

Nach der Rückkehr aus Gehrden Leere und Erschöpfung. Zwei Tage lang Gespräche über die sogenannte Zukunft der Literatur. Am Ende Peltzers Frage, an wen wir uns eigentlich richten, in welchen Hallraum wir eigentlich überhaupt noch hineinschreiben, da die bürgerliche Öffentlichkeit bröckelt, da es keinen zentralen Ort der Selbstreflexion der bürgerlichen Gesellschaft mehr gibt, weil das Internet die Zerschlagung der Instanzen und die Blasenbildung vorantreibt. Was wird passieren, wenn keine gesamtgesellschaftliche Verhandlung von Werten mehr stattfindet (siehe die Situation im Ex-Jugoslawien der Neunziger, oder in anderen Bürgerkriegsgebieten). Passend dazu die Nachricht während dieser Tage, Alexander Fest sei zurückgetreten. FAZ: Eine der letzten großen Verlegerpersönlichkeiten mache jetzt Platz, weil unter Umständen mehr Unterhaltungsliteratur gemacht werden solle. Wie lange wird man sich mich leisten können? Gibt es noch meine anachronistische Vorstellung von Literatur in den Köpfen der Heutigen?

Das Bewusstsein der Freiheit des neuen Subjekts, das diese seine Freiheit im Internet verwirklicht sieht durch die entstandenen Möglichkeiten zur totalen Selbstgestaltung und Bewegungsfreiheit – dieses Bewusstsein ist eine durch Millionen wildwestartig verheißungsvoller Internetseiten getragene Illusion der Entkoppelung von ökonomischen Zwängen. Weil aber alle Möglichkeiten dieser Selbstverwirklichung in Wahrheit ökonomischen Regeln unterliegen insofern, als die Bewegung der Subjekte im Netz nutzbar gemacht ist im Sinne von Profit von jemand anderem, kippt die totale Selbstbestimmung in totalitäre Selbstbestimmung und wird identisch mit totaler Fremdbestimmung. Der Totalitarismus des Marktes dringt jetzt in die tiefsten Bereiche unserer Persönlichkeiten, gerade weil wir frei und wir selbst sein wollen. Aber man darf
auch nicht vergessen: Das Internet ist ja nichts anderes als jeder einzelne von uns. Wie auch der Kapitalismus. Es ist nur die Frage, was wir in Zukunft daraus machen wollen und können.