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Auflauern und Regeln durchpressen

 

Es beginnt in der Schule und bleibt fürs Leben: Wir beugen uns einem Normendruck, lassen uns kontrollieren, sind folgsam. Wie konnte es so weit kommen?

Berlin, Prenzlauer Berg. Die Schule hat begonnen, wir treffen uns zum ersten Elternabend mit der neuen Lehrerin. Man hat sich vorgestellt, sitzt im Kreis. Ende der Schulanfangsphase, dritte Klasse. Heute muss darüber abgestimmt werden, ob unsere Kinder in Zukunft ein Indikatoren- oder ein Notenzeugnis erhalten. Die Lehrerin darf uns nicht beeinflussen, die Wahl erfolgt geheim. Beispiele für jeden Zeugnistyp sind an die Tafel geklemmt. Das Indikatorenzeugnis kennen wir aus der zweiten Klasse: Jedes Fach wird in eine Vielzahl von Aspekten untergliedert, ein Voll-, Dreiviertel-, Halb- oder Viertelmond zeigt den Lernstand an. Vier Seiten Zeugnis für sechs Fächer.

Kaum sind wir Eltern unter uns, ist auch schon abgestimmt. Noten! Der schwedische Vater springt auf, um die Lehrerin ins Zimmer zurückzubitten. Wir haben nicht einmal die Hände gehoben, ich fühle mich überrumpelt, halte den Mann zurück.

Geduldig liefert man mir, die die unausgesprochene Konsensbildung offensichtlich verpasst hat, Argumente nach. Indikatorenzeugnisse seien unübersichtlich, die Kinder interessierten sich nicht dafür, die Kinder verglichen sich ja doch wie bei Noten untereinander (interessieren sich also doch für die Monde?), müssten sich an Benotung und Druck gewöhnen.

Nachdenklich gehe ich an diesem Abend nach Hause. Nicht die Argumente beschäftigen mich, sondern die Schnelligkeit der Meinungsbildung. Dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, erklärt dieses Verhalten nur in Teilen. Seine Wucht geht mir auch deswegen nah, weil die Eltern, die abstimmten, keineswegs so homogen einer gentrifizierten Schicht entstammen, wie das Klischee über Berlin, Prenzlauer Berg es dem ein oder anderen vorgaukelt. Verschiedenste Bildungsstände sind vertreten, Koch, Grafikerin, Rechtsanwaltsgehilfe, Businessfrau. Mehr als zehn Nationen, vier Kontinente.

Es ist dunkel, als ich um die letzte Ecke biege; vielleicht nehme ich die beiden Männer deswegen so spät wahr. Ich erschrecke, obwohl ich an sie gewöhnt sein sollte, sind sie inzwischen doch seit Jahren auf Tour, die Vollstrecker des Ordnungsamtes. Sie verteilen Parktickets an diesem kühlen Septemberabend, und lösen zwiespältige Gefühle in mir aus: Auch ich bin nicht begeistert, wenn ich Einkaufstüten, das Kind und mich an einem auf dem Gehweg parkenden Auto vorbeischlängeln muss. Doch ich mag nicht, wie kontrolliert wird: alles geahndet, zu Geld gemacht. Im Park verstecken sich die Ordnungshüter hinter Bäumen, um Hundehalter abzufangen, deren Hund nicht angebunden ist, weil Hunde in Berlin auf Gehwegen frei laufen dürfen, aber in Parkanlagen an die Leine müssen.

Vor Kurzem beobachtete ich, wie zwei Ordnungsamtsdamen das Lauerspiel auch an einer Straßenecke durchführten. Etwa 30 Meter entfernt stand eine Gruppe Kinder mit Erzieherinnen auf dem Gehweg. Ein Mann, der seinen Hund – wie erlaubt – unangeleint bei sich hatte, bog um die Ecke. Ertappt! Hunde müssen auch auf Gehwegen angeleint sein, wenn eine Menschenversammlung in Sicht ist. Der Hundehalter schaute verdutzt, ich ebenfalls. Er hatte keine Chance gehabt, die Kindergruppe am Ende der Straße auch zu sehen bzw. auf ihre Anwesenheit zu reagieren.

Auflauern. Jagen. Regeln durchpressen.

Drohungen mit der Polizei. Bis er bar bezahlte.

Und du wunderst dich, sage ich mir, dass Normendruck so gleichsam selbstverständlich in Elternköpfen sitzt, dass man über Notengebung nicht einmal mehr diskutiert?

Ich schließe das Tor auf. Das Haus, in dem ich wohne, gab es nicht vor 18 Jahren, als ich nach Berlin zog. Szenen dieser Art waren damals ebenfalls nicht denkbar. Eine Antwort auf den Normendruck finde ich nicht, nur Puzzlestücke. Der schleunige Kapitalismus, der uns spätestens seit der Jahrtausendwende umspült, in seinen Effekten verschärft durch die Eurokrise, verschärft durch Konsequenzen der Globalisierung, die ein ubiquitäres Konkurrenzgefühl mit sich bringt, Arbeitsverhältnisse auf Projekt- oder Praktikumsbasis begünstigt, Flexibilität kommentarlos voraussetzt, Zeiten und Räume der Berufswelt verflüssigt. Der September 2001, die ihm folgende Veränderung unserer Welt durch Ängste und Bedrohungsszenarien. Edward Snowdens Enthüllungen – das Bewusstsein, auf nicht ganz durchschaubare Weise ständig beobachtbar zu sein und tatsächlich beobachtet zu werden.

Was haben wir verloren?

Wie ist es dazu gekommen?

Morgen wird man mich wieder rundum weichgespült-freundlich behandeln. So soft die Regeln nach außen. Kaum jemand, der schlechte Arbeit abgibt, wird im öffentlichen Raum getadelt. Möglichst alles soll „motivierend“ ausgedrückt sein. Die Regeln sind so scheinbar weich – wir sind persönlich, wir duzen uns –, weil Normen effektiv und still umgesetzt werden. Systemisch umgesetzt, begleitet von dem Gefühl, dass Schlupflöcher schwinden, dass Beschwerden abprallen an Briefen, die von Algorithmen erstellt wurden, dass Regeln gnadenlos, weil maschinell, nach dem Buchstaben gehandhabt werden. Genauer: weil ihre entpersonalisierte, „jagende“ Durchsetzung antizipiert wird.

Vorauseilender Gehorsam? In gewisser Weise. Eingeübt durch scheinbar belanglose Szenen wie jene, die das Ordnungsamt jeden Tag auf den Berliner Straßen zur Aufführung bringt. Da steht wieder jemand, flankiert von zwei Hütern, und wird „verdonnert“: Er erklärt. Bittet um Nachsicht. Ich fotografiere die Szene mit dem Handy. Ab jetzt können weitere Augen zusehen.

Hat mich dieses Wissen verändert?

Die Zeichen der Veränderung sind flüchtig, ungreifbar, sie tarnen sich. Hie und da indes scheinen sie auf.

Im Klassenzimmer meines Kindes war es ein Satz, der mich stutzen ließ. Erwartet hatte ich als Argument für das Notenzeugnis: „So sind wir doch auch erzogen worden.“

Doch ich hörte: „Das gilt doch auch für uns.“