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Tagebuch des allmählichen Untergangs (3)

 

Verkehrte Welt: Die eigene Angst richtet sich nicht auf das Erwachen von Gewaltbereitschaft irgendwo anders, sondern paradoxerweise auf die emotionale Ablehnung aller Gewalt hier bei uns.

Oktober 2014

Opole: Gestern im Kino gewesen, in Miasto 44 (Stadt 44). Junge Leute im Warschauer Aufstand. Patriotismus, jugendlicher Übermut, erste Liebe – und dann: das Schlachten; eine ganze Generation wird in den Straßenkämpfen ausgelöscht. Die Willkürlichkeit dieses Gemetzels trifft mich ins Gedärm. Das Erschütternde ist aber, wie ich bald begreife, nicht die Sinnlosigkeit des Krieges selbst, sondern die Angst, dass nur wir Europäer vielleicht derart reflektieren, was Krieg ist. Anderswo auf der Welt hingegen die Verherrlichung des Krieges, des Tötens, des Enthauptens desjenigen, den man im Namen welcher Sache auch immer als Feind betrachtet, nicht aber als Mensch. Verkehrte Welt: Durch unser geschichtlich gewachsenes Bewusstsein und unseren Pazifismus werden wir mitfühlend, und dadurch wiederum ein leichtes Ziel. Meine Angst richtet sich also nicht auf das Erwachen von Gewaltbereitschaft irgendwo anders, sondern paradoxerweise auf die emotionale Ablehnung aller Gewalt hier bei uns.

Jarnołtówek: Ich habe das Hotel gestern und heute nicht verlassen. Ich bin der einzige Gast, in den Fluren muss ich erst immer warten, bis das Licht als Reaktion auf meine Anwesenheit anspringt. Blaue Quadrate und Rauten in den Teppichen, die Wände sind neongelb gestrichen. Dabei lässt sich kein Flur in seiner ganzen Länge einsehen, die Gänge knicken ab, in einer merkwürdigen geometrischen Verwandtschaft zu dem Rauten- und Trapezmuster des Teppichs, alles scheint verschoben, hier beginnt eine Treppe, dort geht eine Stufe zum Aufzug hinauf, die Türen der Zimmer sind viel weiter auseinander, als die Zimmer groß sein können. Keine Bilder hängen an den Wänden, aber hier und da ist ein Geländer, rundlich aufgebauscht und in einer blauen Farbe, dass man meint, hier irgendwo müsste ein Hallenbad sein. Der Nebel hängt an den Bergen vor meinem Balkon, im Tal absolute Stille. Aber als ich am ersten Abend ins Restaurant hinunterkomme und frage, ob es etwas zu Essen gäbe, sagt der Hotelbesitzer: Selbstverständlich. Mit einem Gesichtsausdruck, als sei meine Frage merkwürdig. Er reicht mir die Speisekarte, auf der Dutzende Gerichte stehen. Hinter der offenen Tür zur Küche sehe ich eine mit Neonlicht beleuchtete weiße Kachelwand, eine Metallarbeitsplatte. Aber kein Mensch zu hören, keine Bewegung auszumachen.

Berlin. Gestern ging ich ein paar Fotos im Handy durch. Da war L. auf der Bank vor dem Pförtner, lachend, noch im Sommer. Da waren mein Vater und mein Bruder in der PL-Bar vor zwei Gläsern Bier, nachdem wir L.s und meine Sachen aus der alten Wohnung in der Pankstraße in den Sprinter geschleppt hatten. Sie waren extra für den Umzug aus Bamberg gekommen. Beim Betrachten dieser Fotos plötzlich meine Angst, dass sie eines Tages sterben werden, so oder so, dass der Tod alle ereilt. Dass all ihre Mühen, ihre heutigen Sorgen und die Art und Weise, wie wir uns gegenseitig helfen, umsonst gewesen sein werden. Muss mir alles merken. Die Erinnerung behalten an Augenblicke, in denen wir zusammen saßen und sorglos waren. All die Geschehnisse in der heutigen Welt sind nicht an sich Angst einflößend, sondern im Hinblick auf die Menschen, die ich kenne und liebe.

Der Polenroman hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Das wird mir bewusst, da ich die Geschehnisse der letzten Tage notieren will, nach zwei Stunden Arbeit in dieser anderen Sphäre. Im Polenroman bezieht sich jedes Zeichen, jedes Motiv und jedes Bild auf ein anderes Zeichen, Motiv und Bild im selben Text. Sogar das Wort Opole, das eine Stadt bezeichnet, in der ich noch vor ein paar Tagen gewesen bin, meint ja nicht die Stadt, in der ich war. Dieses Wort ist vielmehr ein Fokalisationspunkt, auf den sich andere Wörter ausrichten (etwa Straßennamen, aber auch Systeme aus Wörtern: ganze Geschichten, die anderswo im Roman ausgebreitet werden. Aber eben: Die Wörter sind ausgebreitet. Wie ein mehrdimensionaler Teppich.)

Was für ein schmerzliches Gefühl. Dass es unmöglich ist, zu erleben und darüber zu schreiben. Man erlebt entweder, oder man schreibt. Dann ist das Schreiben das Erleben, aber ein für den Roman und das, wovon er „handelt“, Spezifisches. (Die Wirklichkeit ist nicht im Text – sie hat nur eine Deformation in der Sprache des Romans hinterlassen, sie hat die Wörter untereinander in Beziehung gesetzt, sie zueinander auf spezifische Weise ausgerichtet. Es ist der naive Leser, der später sagen wird: Dieser Roman handelt von der Stadt Opole.)

Wenn man mich nach einer Utopie fragte, müsste ich naiv und langweilig antworten. Ich müsste sagen, dass heute alles von Grund auf festgefahren scheint, und dass man gewissermaßen alles auseinandernehmen müsste. Dann käme im Kern die Art des Wirtschaftens zum Vorschein, eine vom Wesen her auf Konkurrenz basierende Strategie der Lebensproduktion. Deren Bevorteilte sind noch wir Bewohner der sogenannten westlichen Welt. Die Benachteiligten greifen gerade allerorts zu den Waffen, zu allem bereit und mit nichts mehr zu verlieren.

Eine Utopie müsste an diesem Kern ansetzen, sie müsste die Utopie einer anderen globalen Weise sein, unser Leben zu produzieren. Diese unsere aktuelle Weise der Lebensproduktion ist aber schon derart überformt, mit so vielen Abhängigkeiten jedes einzelnen von uns verfestigt und unumkehrbar gemacht, dass ein Untergang fast unausweichlich scheint, wenn etwas Neues entstehen soll. „Untergang? Man soll lieber hier an einem Rädchen drehen oder dort nachjustieren, es ist doch im Grunde alles gut.“

Jede Utopie scheitert an denen, die das Rädchendrehen und das Nachjustieren für ausreichend erachten. Die wahre Revolte, wie Camus sie beschrieb, die einen lebendigen Wert hochhält, der bisher mit Füßen getreten wurde, richtet sich gegen die Rädchendreher und Nachjustierer. Nur besteht unser Drama darin, dass jedes lebendige Aufbegehren sofort verwirtschaftlicht wird und damit nur wieder unsere aktuelle Lebensproduktionsweise nährt, am Laufen hält.

Wir sind ständig zur subversiven Ideenproduktion gezwungen, um zu überleben. Unsere Revolte ist eine eingerechnete Größe, die Freiheit des Einzelnen ist eingespannt in den totalitären Wettbewerb. Man muss sich fragen, warum die Waffenbrüder im Orient eine Utopie der Unfreiheit, der Versklavung propagieren und damit junge Europäer und US-Amerikaner anlocken können.