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Mit den Schiffen kommt die Angst

 

Warum verspüren wir Ressentiments gegen Menschen, die zur Flucht gezwungen sind? Womöglich, weil eine schmerzliche Migrationserfahrung unser eigenes Leben beeinflusst.

© Marco Di Lauro/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE
© Marco Di Lauro/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Manchmal macht die deutsche Sprache mir Angst.

Etwa mit dem Wort ‚Geisterschiff‘. Es scheint so viel davon auszusprechen, was geschehen kann, wenn wir nicht lernen, mit Menschen, die Rettung bei uns suchen, angemessen umzugehen.

Aber von vorn. Ich habe keine Angst vor den Flüchtlingen auf herrenlos im Mittelmeer treibenden, übervollen Schiffen. Um sie fürchte ich. Stelle mir vor, wie man sie an Bord brachte, betrog. Versuche, wenigstens ansatzweise zu verstehen, welche Leben sie führten – und was sie auf den Weg brachte. Traurig über ihre Not und ihre Verzweiflung, spüre ich etwas von ihrer Angst da auf dem Meer. Im Nirgendwo. Ich bewundere ihren Mut.

Von dieser Lebenslage im Nirgendwo, begriffen im Übergang von einem Ort, der dich nicht hält oder halten kann, in einen, den es (noch) nicht gibt, verstehen viele von uns mehr als uns gemeinhin bewusst ist. Bis zum Jahr 1950 kamen rund 14 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten des nationalsozialistischen deutschen Reiches in der Bundesrepublik und der DDR an. Die Gesamtbevölkerungszahl der beiden deutschen Staaten belief sich 1950 auf 68 Millionen. Unter den Flüchtlingen fanden sich zum überwiegenden Teil Frauen und Kinder. Geht man grob von 10 Millionen Menschen in (damals oder später) fortpflanzungsfähigem Alter aus, wächst bereits in der nächsten Generation ein gutes Viertel aller Deutschen in einer von Zwangsmigration betroffenen Familie auf. In der nächsten Generation liegt die Wahrscheinlichkeit, von einem Menschen abzustammen, der Flucht und Vertreibung erfahren hat, bei 45 Prozent, wobei die über Jahrzehnte hinweg in Ost- wie Westdeutschland eintreffenden Spätaussiedler und ihre Nachkommen noch nicht berücksichtigt sind.

Die Zahlen schwanken. Auch, weil man nicht exakt weiß, wie viele Menschen aufbrachen. Dass Millionen auf dem Weg ums Leben kamen, steht ebenfalls auf diesem Blatt.

Auf dem Blatt steht: Es handelt sich bei diesen Flüchtlingen um unsere Eltern oder Großeltern.

So wird deutlich, dass man, fragt man heute nach Herkunftsgeschichten, so häufig auf mindestens eine Linie stößt, in der Zwangsmigration zum Bestandteil des sprachlichen und, oft wichtiger noch, des nichtsprachlichen Familiengedächtnisses gehört.

Denn weitergegeben werden, über Worte hinaus, Ängste und Gefühle, Wertehaltungen und Sicherheitsregeln, Identitätsverluste und -spaltungen.

Angesichts dieser Erfahrungsgeschichte drängt sich die Frage auf, ob nicht gerade wir besonders dazu befähigt sein müssten, mit Menschen, die 70 Jahre später einem ähnlichen Schicksal ausgesetzt sind, angemessen und furchtfrei, empathisch und kompetent umzugehen. Das sieht nicht überall so aus, im Gegenteil.

Ein Verdacht und eine Frage stellen sich ein: Welche Kräfte, welche unaufgearbeiteten kollektiven Erinnerungen greifen hier (nach uns)?

Andreas Kossert schrieb vergangene Woche in der gedruckten ZEIT zu diesem Thema. Seine 2009 erschienene Studie zur Aufnahme der Ostflüchtlinge im Westdeutschland des unmittelbaren Nachkrieges trägt den Titel Kalte Heimat. Ich wusste sehr genau, was er meinte, noch bevor ich begann, sein Buch zu lesen. Meine väterliche Familie war im Sommer 1945 aus Schlesien nach Bayern gekommen. Der Bruder meines Vaters war auf der Flucht gestorben; was noch geschah, kenne ich bestenfalls aus Andeutungen oder nicht einmal daraus. Heute fällt mir auf, dass sich, spricht mein Vater vom Jahr 1945, die Erzählweise ändert, kaum treffen er und seine Mutter in Bayern ein. In seine Stimme und Worte zieht eine Bitterkeit, die die spärlichen Fluchtberichte nicht begleitet. Der Empfang war – schwierig. Mit den Jahren verschärfte sich die Situation teilweise noch. Alle froren, viele hungerten. Man lebte extrem beengt. Schon für die, die immer schon dagewesen waren, hätte nicht gereicht, was es gab.

Als ich für meinen letzten Roman recherchierte, der eine deutsche und eine polnische Vertreibungsgeschichte erzählt, stieß ich auf einen bayrischen Spruch aus den späteren 1940er Jahren, der mich nachhaltig erschreckte, weil in ihm das nationalsozialistische Menschenbild so ungebrochen weitelebte: „Engerling und Flüchtling sind Bayerns Schädling.“

Und heute? Sind wir Menschen gegenüber, die bei uns Zuflucht suchen, so ängstlich und abwehrend, eben weil es bei so vielen von uns, verborgen im Familiengedächtnis, schmerzliche Fluchterfahrungen bewahrt sind? Weil man selbst bzw. weil unsere nächsten Angehörigen (Eltern, Großeltern) als Flüchtling getreten wurden? Sodass man dazu neigt, aus unverstandenem, nicht einmal bewusstem Ressentiment seinerseits – nein, nicht unbedingt zu treten. Aber doch über Gebühr ablehnend und vor allem ängstlich zu agieren.

Der Holocaust war und ist das dominierende Thema des Nachkrieges, in dessen Ausläufern wir noch immer leben. Das ist richtig so. Doch es ist Zeit, sich dem zweiten, zentralen Thema dieser Folgejahrzehnte zu stellen. Es heißt Zwangsmigration. Nicht, um in deutschem Leid zu wühlen, ganz gewiss nicht, um Schuld und Verantwortung abzuweisen oder gar, um etwas zu fordern. Sondern um der inneren Wahrheit der Ängste, des andauernden Schreckens und der Entwurzelung so ins Auge zu sehen, dass wir sie nicht wieder oder weiter ausagieren müssen – an uns und anderen. Um uns zu befähigen, Migrationsbewegungen, die sich heute abzeichnen und die, auch das ist absehbar, die nächsten Jahrzehnte bestimmen werden, so zu beantworten, dass wir in der Antwort nicht einfach nur rennen – davonrennen vor jenem schwierigen, Schuld und Leid vermischenden Teil unserer Geschichte, der „Ankommen“ heißt. Und dabei un- oder halbbewusst ausleben, womit wir nicht fertig sind.

Die Gespenster des Ankommens heißen: Ausgesetztheit, Abhängigkeit, Demütigung, Scham. Leben im Gefühl einer nicht sicher gegründeten Zugehörigkeit noch bei Kindern und Kindeskindern. Versuchten wir weiterhin, diesen Schatten der eigenen Entwurzelung auszuweichen, bestünde die Gefahr, dass wir selbst zu Geistern würden: Geister, die auf dem Schiff der Geschichte der beiden Weltkriege dahinführen, steuerlos.

Davor hätte ich Angst.