Hier Yves Saint Laurent und Chanel, ein paar Meter weiter ein Netto. Und dazwischen springt einen plötzlich der alltägliche Rassismus an. Wieso haben wir alle Neugier auf das Fremde verloren?
Manchmal scheinen die Dinge so banal zu sein, dass ich mich frage, ob ich nicht naiv bin. Nur, dass ich es auf der politischen korrekten Seite bin, selbstverständlich. Und mich deshalb zurücklehnen und eine Geschichte erzählen kann.
Wenn man aus München nach Berlin kommt, so kann man sich an den vielen libanesischen Imbissen freuen, an der Selbstverständlichkeit, mit der jeder nicht nur Sushi, sondern auch Pelmeni kennt, man kann beinahe so tun, als sei man ein bisschen in London, aber das ist bereits schriftstellerische Fantasie. Und den grauen Himmel, den nimmt man einfach so hin, man ist ja aus München in Berlin.
An diesem einen Tag scheint sogar ein wenig die Sonne. Sie scheint und blendet mich, außerdem denke ich gerade darüber nach, was davon zu halten ist, dass sich auf dem Ku’damm ein paar Meter von Chanel und Yves Saint Laurent ein Netto befindet, und so übersehe ich die grüne Ampel.
„Es ist grün“, sagt ein Herr neben mir, wie freundlich, und weil die Sonne scheint, und ich in Berlin bin, denke ich noch: In München wäre mir das nicht passiert, was wahrscheinlich nicht stimmt. Der Herr ist in diesem Alter, das einer Beschreibung, keiner Zuschreibung bedarf: Er ist nicht alt, er ist nicht jung, sondern das langweilige Dazwischen, und so sieht er auch aus: Jeans, Sneaker, eine graue Jacke, blonde Haare, einer von denen, die man auf jeden Fall übersieht. Er ist gerade dabei, meine Gedanken zu verlassen, da spricht er mich, mitten im Überqueren der Straße, was offensichtlich durch seine freundliche Anmerkung zu einer gemeinsamen Unternehmung geworden ist, noch einmal an: „Sie sehen wohl kein Grün mehr, weil Sie bei der letzten Wahl zu viel Grün gewählt haben.“ Dieser eine Satz, und plötzlich denke ich, der sieht doch aus wie der Verrückte aus diesem einen Film, mit diesen fettigen blonden Haaren…
„Wie bitte?“.
Und als hätte er darauf gewartet, bleibt er augenblicklich, wir haben soeben die Straße überquert, stehen und legt los. Ein Sprung. In seinem oder in meinem Kopf? Ich bin im ersten Moment so perplex, dass ich an dieser Stelle erfinden müsste, wie es ihm gelingt, diese Verbindung herzustellen: Von der grünen Ampel zu meiner Wahlentscheidung (welche Wahl eigentlich?) zu den (er sagt es so, „die Muslime“), die überall sind, und offensichtlich vor allem hier in Deutschland, und auch in Berlin, oder ist es Europa, und die, das weiß man doch, das traut sich nur keiner zu sagen, auch die im Fernsehen nicht, die Zahlen aber, die sind im Internet zu finden, die enthaupten doch Andersgläubigen die Köpfe. Bald im Übrigen auch bei uns. Das weiß er, das traut sich nur keiner zu sagen.
Ein zweiter Zeitsprung. Zwischen dem ersten und dem zweiten Zeitsprung möchte ich gehen, aber genauso unvermittelt, wie diese Hass- und Angsttirade sich über mich zu ergießen begann, genauso plötzlich merke ich, als ich es nicht mehr aushalte, und mich auf das Niveau einer Antwort arroganterweise einzulassen weigere, dass wir nicht mehr alleine sind. Da sind zwei weitere Herren, und eine Dame, sie jünger, die Herren älter, sie passen hier auf den Ku’damm genauso wie nach Berlin, aber auch nach München, und gar nicht zueinander (und schon gar nicht zu mir) und haben alle nur diese eine, für sie offensichtliche Weisheit gemeinsam: Deutschland gehört uns. Und sie nehmen es uns weg.
Die „sie“ sind dieser Tage Muslime.
Es sind auch schon mal die Juden gewesen, aber das haben wir ja zum Glück aufgearbeitet, später waren es Ausländer und Gastarbeiter und Türken und Italiener und Griechen (die sind es immer noch) und viele andere mehr. Diese Angst.
Dass die nicht lieber Angst davor haben, denke ich (aber sage es nicht laut, weil es keinen Sinn macht – und wieso meine ich, dass es keinen Sinn macht, mit ihnen zu diskutieren?) zum Beispiel davor, dass spätestens 2025 hierzulande sieben Millionen Facharbeiter fehlen werden? Oder davor, dass ihre Kinder in einem Land aufwachsen könnten, in dem sie keine Vielfalt, nicht in Form von Menschen, Religionen, Meinungen, Traditionen, Sprachen kennenlernen können, weshalb sie dieses Land ob ihrer natürlichen Neugierde eines Tages verlassen werden müssen – aber stopp, das ist ja meine Angst.
Seit wann ist sie da, die Angst vor Menschen, die schon lange mit und unter uns leben, die sich als Teil unserer Gesellschaft, unseres Landes sehen, nicht alle von ihnen, aber dann doch auch nicht ein zu geringer Teil? Die Angst ist nicht neu und sehr einfach gestrickt: Es ist die Angst vor Fremd. Fremd macht Angst, weil fremd – wie der Begriff schon sagt – fremd ist. Und fremd kann so gut nicht sein, denn fremd ist anders. Und anders, ja, vor anders hat man Angst.
Meistens hält sich die Angst leicht versteckt. Ist aber immer bereit, hervorzuspringen. Es braucht nicht viel, sie hervorzuholen: Manchmal einen Anlass wie den Bau einer Moschee, manchmal eine Person wie Thilo Sarrazin, manchmal auch nur einen Satz oder eine beunruhigende gesellschaftliche Entwicklung. Und schon ist sie da, diese Angst vor den Fremden, die…, und dieser Satz lässt sich endlos und in jede beliebige Richtung ergänzen, die plötzlich um sich greift wie die Pest. Es ist aber eigentlich kein Plötzlich. Wenn in Dresden zwanzigtausend Pegida-Anhänger für Demonstrationen mobilisiert werden können, dann heißt es, dass diese Angst schon lange irgendwo in der Nähe, dicht unter der Oberfläche lauerte. Dann heißt es, dass alle Beteuerungen seitens Politikern, Deutschland verstehe sich als ein Einwanderungsland, nichts weiter sind als genau das: Beteuerungen. Dann heißt es nichts anderes, als dass aus vielen Köpfen nach wie vor eine Hierarchie nicht wegzudenken ist, dass viele immer noch meinen, jemand, der Paul heißt, sei mehr ein Teil dieses Landes als jemand namens Mustafa. Und ja, genauso einfach sind diese Gedanken gestrickt.
Ebenso einfach die Ursachen dieser Angst: Es ist die Angst vor Veränderung. Die Dinge sind, so schlecht sie auch sein mögen, doch gut, weil sie schon immer so waren. Die Fremden könnten einem etwas wegnehmen, auch wenn man das „etwas“ häufig nicht genau benennen kann, und selbst wenn nicht: Sie verändern, was man kennt: Die Tradition, das Aussehen, die Tendenzen, die Kultur dieses Landes, und was dabei herauskommt, weiß man nicht. Und was man nicht kennt, das macht einem Angst. Die Neugierde auf das Neue ist mit dem Erwachsenwerden verflogen.
Ich entweiche denen, die mir Angst machen mit ihrer Angst, und laufe den Ku’damm runter und wundere mich, weil die Sonne immer noch scheint, die mir doch viel weniger grell vorkommen müsste nach diesem Gespräch, so schriebe ich das wahrscheinlich in einem Roman. Der Tag aber geht weiter, zufälligerweise ein Montag, irgendwo in Berlin finden also Bärgida und Anti-Bärgida-Versammlungen statt. Ich nehme nicht teil und rede mir ein, dass es nichts brächte, dass man sich doch nur gegenseitig unter eh ähnlich Denkenden bestärken würde, darin, dass es auch ein anderes Deutschland, eines ohne Ängste gibt. An den Ängsten der Anderen aber rüttelt man damit nicht.
Später an jenem Tag sitze ich im Taxi. Der Taxifahrer ist gesprächig, ich spreche nicht gern mit Taxifahrern, wie ich auch sonst nicht gerne mit Fremden spreche. Der Taxifahrer erzählt von Männern, die sich spätabends besoffen in seinen Wagen setzen, lallend beteuern, sie hatten überhaupt nicht vorgehabt, ihre Frauen zu betrügen, das geschähe ihnen, als nähmen sie nicht daran teil. Und meine Freundin, die neben mir im Taxi sitzt und um meine Unredseligkeit weiß, antwortet ihm, ja, diese Männer, sie ist komisch dabei, und gemeinsam regen sie sich nun über Männer, diese Schweine, auf, ein einfaches, aber ein witziges Ballspiel mit Klischees. Sie sprechen über Sex, was in mir den Wunsch weckt, an der nächsten Kreuzung auszusteigen, und sie lachen, und irgendwie lache ich dann doch auch mit. Und dann geschieht die Banalität, die mich fragen lässt, ob die Dinge wirklich so einfach sein können, oder ob ich naiv bin.
Wir zahlen. Öffnen die Autotüren, bedanken, verabschieden uns. Da sagt der Taxifahrer: „Wenn es mehr Menschen wie Sie in Deutschland gäbe, die einfach nur mit mir sprechen, dann würde ich mich in Deutschland wohler fühlen. Ich lebe seit dreißig Jahren in Berlin.“ Ich zögere für einen Moment, dann lasse ich die Banalität für sich stehen. Banal und naiv (wie übrigens auch dieser letzte Satz dieser Geschichte), so lächelt er doch, als er davon fährt.
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