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Das Erleben des Sturzes

 

Die Medialisierung des Terrors ist normal geworden. Die Literatur aber kann an der Darstellung des Schreckens nur scheitern. Gerade darin liegt ihre Wahrhaftigkeit.

© Getty Images
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Ein Flugzeug stürzt ab. 150 Menschen sterben. Von 150 Opfern ist die Rede. Dann von 149. Selbstmord des Copiloten. Mord an allen anderen, wird gesagt. Trauer und Bestürzung sind groß. Politiker reisen an. Sofort.

Man lässt sich am Ort des Absturzes sehen. Frau Merkel und Herr Hollande höchstpersönlich. Wir verstehen das, haben Erfahrungen gemacht mit der Bildwichtigkeit und Bildmacht in unseren Mediendemokratien. Der Staatsführer als erfolgreicher Krisenmanager. Es rächt sich, wenn sie solchen Gelegenheiten fernbliebe.

Für den 17. April ist ein Trauergottesdienst im Kölner Dom anberaumt. Erwartet werden der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin, der französische Staatspräsident, der spanische König u.a. Spätestens jetzt drängt sich die Frage danach auf, wie unser Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden symbolischen Mitteln umgeht. Sie sind „Kapital“: unersetzliche Instrumente in Fällen von Krise und Not. Sie bedürfen des klugen und abwägenden Einsatzes. Emotional sind im Fall des Germanwings-Absturzes alle Akte des Beileides und Bekundens dieser Trauer nachzuvollziehen, allein: Emotion ist nicht Staatsräson.

Die Frage lässt sich zuspitzen: Wie würde die Regierung antworten, welche staatlichen Reaktionsmuster des Trauerns, Helfens und Versicherns stünden ihr zur Verfügung, wenn es sich bei einem derartigen Geschehen tatsächlich um einen Terroranschlag handelte? Staatliche Symbole dienen der Stärkung, sie sollen uns unserer eigenen Identität versichern. Doch es handelt sich im Fall der Germanwings-Maschine nicht um einen Terroranschlag, sondern um einen Selbstmord mit Tötung anderer. Gäbe es zwischen dem tragisch ausgelösten, indes nicht politisch gerichteten Absturz und einem terroristischen Attentat noch Unterschiede im offiziellen Reaktionsspektrum? Wären sie groß genug?

Anders gefragt: Welchem Irrtum oder welcher Angst sitzen wir auf? Sehen die Taten von Andreas Lubitz einerseits und Mohammed Atta andererseits so ähnlich aus, dass wir sie nicht auseinanderhalten? Nicht auseinanderhalten wollen? Oder wollen wir üben? Welche überschießenden Bedürfnisse treiben uns in diesen Wochen dazu, in unseren Reaktionen auf symbolischer Ebene den Selbstmord-Täter mit dem Selbstmord-Attentäter nahezu gleichzusetzen?

Über Literatur und Terror wollte ich schreiben. Und muss mir selbst vorhalten: Wo habe ich nur angefangen… Doch hier kommt sie ins Spiel. Die jüngst erschienene Studie Poetik des Terrors, verfasst von einem Literaturwissenschaftler aus Münster, kommt zu dem Schluss, zeitgenössische Literatur scheitere an der Darstellung von Terror.

Damit hat Michael König Recht. Gott sei Dank!, rufe ich. Denn was wäre hier ein „Gelingen“? Ich verstehe Literatur nicht als Umgangserfindungs- oder Riten-Ersatzorgan. Nicht als Medium, das entstehende Fragen überkleistert, statt sie weiter aufzudecken, das beruhigt, statt uns die Möglichkeit zu bieten, dem ins Auge zu sehen, was wir als Bedrohung, als Gefahr oder sogar als Infragestellung unserer selbst erleben. Nicht als Antwortmittel dort, wo auch andere, Politiker, Psychologen, Religionsforscher tasten und fragen. Ich verstehe Literatur als Stimme, die aufgrund von genauer Beobachtung Fragen stellen, Themen aufdecken und verdeutlichen kann.

Gegen das Gefühl, ausgesetzt zu sein und jeden Augenblick selbst Opfer werden zu können, wird sie nicht unmittelbar helfen. Im Gegenteil: Sie mag es verstärken, erlebbar machen. Ansetzen kann man wie jüngst Michel Houllebecq: Sozialgeflechte von heute weiterspinnen, einen zwei Parameter verändern – und erzählen, was daraus erwachsen könnte. Ein alter, bewährt literarischer Weg: vergrößern, übertreiben, zu Ende denken – radikal und gegen den Strich der Wünsche. Ansetzen aber kann man auch mit einer Streuung des Blickes durch Analyse, Klugheit sowie Öffnung der Perspektiven. Kann die Aufmerksamkeit lenken auf Menschen, gleich welcher Religion, die betroffen sind, aber im Medienstrom in der Regel übersehen werden.

Vor mehr als zehn Jahren, als ich für den Roman Spiele zu dem Terroranschlag von München während der Olympischen Spiele 1972 recherchierte – und oft hörte: „30 Jahre lang hat niemand danach gefragt, jetzt kommen Sie und Leute von Steven Spielberg“, begriff ich die Medienbestimmtheit der Terrorakte, die wir seither erleben. Ein erstaunliches Statement, abgedruckt in der Beiruter Zeitung Al-Sayad eine Woche nach dem Anschlag, öffnete mir die Augen:

In our assessment and in light of the result, we have made one of the best achievements of Palestinian commando action. A bomb in the White House, a mine in the Vatican, the death of Mao Tse-tung, an earthquake in Paris could not have echoed through the consciousness of every man in the world like the operation at Munich. […] The choice of the Olympics, from the purely propagandistic view-point, was 100 per cent successful. It was like painting the name of Palestine on a mountain that can be seen from the four corners of the earth.

Terror goes media wurde nicht erst 2001, sondern 1972 mit den ersten farbigen TV-Echtzeitübertragungen weltweit erfunden.

Auch als Autor bediene und füttere ich ein Medium. Erkenne ich das, wird die Lage sofort komplexer. Das tut ihr gut. „Dem Terror“ „gerecht werden“ oder „an ihm scheitern“ sind ihrerseits Schreckenskategorien. Denn wer fällt das Urteil, und nach welchem Maßstab soll es ergehen?

Literarisch entscheidend ist all das, was das Wie des Sprechens betrifft. Greife ich selbst zu „terroristischen“ Mitteln: übertreibe, schieße im metaphorischen Sinn, schildere (und preise dadurch auch?) Gewalt, Blutlust, Wut? Oder entscheide ich mich für eine Gegenstrategie?

Da wirft einer eine Bombe ins Wasser. Es gibt: Die Waffe. Den Werfer. Den Teich. Die Zuschauer. Jemanden, der das Ding herausfischt. Er ist interessant, auch wenn es ihn nicht gibt. Gerade dann.

Es gibt: die Wellen, die der Einschlag verursacht. Wirkungen der Tat – unmittelbar. Und über 30 Jahre hinweg. Es gibt: die Schwierigkeiten, die wir damit haben, das Geschehen zu rekonstruieren. Weil man das, was daran unerhört und unaushaltbar ist – nicht sehen kann.

Uneinholbar das Sterben der Opfer.

Und des Täters oder der Täter.

Der Akt des Werfens. Die Vorbereitung. Da steht jemand an einem Teich und stürzt sich selbst als Bombe hinein. Niemand hat es gesehen. Wer es sah, ist tot. Was uns umtreibt, auch bei dem Absturz vom 24. März, ist unsere Vorstellung. Unsere Empathie.

Unfathomable, unauslotbar – nennt Shakespeare diesen Moment in seinem Drama Der Sturm. Das Erleben des Sturzes. Das Atmen des Copiloten. Dieses Gehen durch einen Markt mit dem eigenen, in eine Waffe verwandelten Körper. Der Augenblick des Zündens. Hier kann Literatur ansetzen. Sie wird scheitern. Dieses Scheitern wird ihre Wahrhaftigkeit ausmachen. Indem sie die Wellen des Ereignisses zeigt – Wellen davor, Wellen danach – kann sie uns zeigen, was uns so verstört und anzieht. Gebannt starren wir auf die Nachrichten, die Bilder. Erwarten den Trauerakt. Was wir suchen, finden wir darin nicht. So klicken wir weiter, suchen zu vergessen, bleiben mit einem diffusen Gefühl der Angst zurück. Auch Literatur wird sie uns nicht nehmen. Wird uns keine Antwort in vorgefertigter, konsumierbarer Form geben.

Sie gelingt, wenn sie scheitert. Wenn sie uns näher an das führt, was uns berührt und verstört, weil es auf der Grenze zwischen Leben und Tod stattfindet, in Köpfen und Seelen, xmal vor dem Akt, den wir wirklich nennen, xmal ihm hinterher.

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