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Über den Tellerchenrand schauen

 

Kindergärten sehen harmlos aus. Tatsächlich sind sie Extremgebiete, in denen die Zukunft unserer Gesellschaft geformt wird. Ohne Großzügigkeit werden wir diese zerstören.

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© dpa

Kindergartenstreik? Meine polnische Freundin lächelt. Als sie noch in den 1980ern in Warschau Pädagogik studierte, zeigte man ihr eine einfache Möglichkeit, Stress zu reduzieren. Beim ersten Praktikum wurde sie eingeweiht: Setz die Kleinen liebevoll zum Essen in den Gang, mach die Fenster an beiden Enden auf. Am nächsten Tag liegt dann die Hälfte der Kinder krank zuhaus im Bett. Das hält für den Rest der Woche, mindestens.

Auch eine Weise, mit Überlastung umzugehen, denke ich. Wie viel lieber ist mir ein Streik. Mein Kind hat die Kindergartenzeit hinter sich, dafür bekamen wir den Berliner Schulstreik vor ein paar Wochen zu fühlen. An Kindergartenstreiktage und die Planungsnöte, die sie auslösen, erinnere ich mich mit Schrecken.

Dennoch: die Mehrheit der Eltern unterstützt das Anliegen der Erzieherinnen und der wenigen (zu wenigen) Erzieher. Die Eltern haben gute Gründe dafür. Sie wissen, wie anstrengend es ist, eine Gruppe kleiner Kinder zu betreuen – und das schon, wenn man sie „nur“ machen lässt, was sie wollen. Und sie ahnen wenigstens, möchte man hoffen, was auf dem Spiel steht.

Es geht mir nicht darum, noch einmal das mit Entwicklungsangeboten vollgestopfte, totalversorgte und gepuschte, an die Violine geklebte, in die Yogastunde und das Chinesisch-Training für Dreijährige gesteckte Kind zu beschreiben. Nicht darum, helikopternde Abgabe-Eltern in den Blick zu fassen, denen ich übrigens, obwohl ich im Prenzlauer Berg lebe, wo sie massenhaft zu Hause sein müssten, noch nie begegnet bin. Die Eltern, die ich kenne, arbeiten. Die meisten von ihnen arbeiten viel. Sie sind darauf angewiesen, ihre Kinder tagsüber in gute Hände zu geben. An einen Ort unter Menschen, bei denen das Kind sich idealerweise nicht nur wohlfühlt, sondern auch noch erzogen wird.

Wie der Kilimandscharo

Kindergärten sehen harmlos aus: Krabbelboden, Spielzeugwelt. Es stinkt manchmal ein wenig, ist im Übrigen zwergig, bunt. Dieses Aussehen täuscht darüber hinweg, dass, wer das Türchen von der Straßenseite her öffnet, Extremgebiet betritt. Extrem wie der Kilimandscharo. Mindestens. Ein Extremgebiet der Menschenformung. Die man idealerweise Bildung nennt.

Ich schrieb oben, Eltern ahnten hoffentlich, was passiert. Dieses „ahnen“ bezeichnet keinen Mangel oder gar Vorwurf; es ist das Beste, was man bekommen kann. Was wissen wir über das Erleben und die Verarbeitung des Erlebten in den ersten Kindesjahren? Wenig. Dass Prozesse ablaufen, sieht man. Dass sie nicht linear verlaufen, erfährt man. Dass das Ergebnis nie wirklich kalkulierbar ist, erfährt man wiederholt. Wie wo etwas verknüpft wird, wie das Gehirn wächst und sich mit ihm Fühlen, Sehen, Hören und Imaginieren verändern, wie das Ichsagen entsteht, nehmen wir von außen wahr. Naturgemäß erinnern wir uns nicht daran. Vorsprachlichkeit. Vorbewusstheit. Verschiedenste Phasen der Identitätsbildung. Gehöre ich zu den Jungen oder den Mädchen? Was bedeutet das? Wer ist mein Freund? Und – wer bin ich?

Kindergärten sind alles andere als neutrale Räume. Wenn man ErzieherInnen möchte, die darüber nachdenken, was sie tun – wie sich etwa in ihrem Raum und auch durch ihr Verhalten Geschlechterklischees, wie Rollenmodelle vermitteln –, wenn man sich Betreuungspersonal wünscht, das alteingefahrene Wege des „das machen wir so“ reflektiert und verbessert, wenn man sich für das eigene Kind Erwachsene als Gegenüber vorstellt, die sich fortbilden, die Aufmerksamkeit aufbringen, weil sie ausgeruht sind, die der besonderen Situation eines einzelnen Kindes nachhorchen und nachgehen können, die verschiedenste Ausflüge planen, Spielformen wechseln, pädagogische Literatur lesen, untereinander als Team gut kommunizieren, mit der Küche und dem Garten, mit Festen und Sportmöglichkeiten umgehen, auf vernünftige Ernährung achten, die Sozialexperimente der Kleinen zulassen und moderieren, ohne den notwendigen Freiraum zu nehmen, die Regeln vermitteln und deren Einhaltung durchsetzen, dabei liebevoll und zugewandt bleiben, zudem Rotz aufwischen, aufs Klo begleiten, den Mittagsschlaf einleiten, Ängste beruhigen, aufgeschürfte Knie versorgen, sich beklettern und ärgern lassen, wenn – dann beschreibt man die Quadratur des Kreises. Dann weiß man, was „Extremgebiet“ heißt. Und denkt gern darüber nach, den Stundensatz zu erhöhen.

Einheit aus Herz-Seele-Verstand

Zum einen als Antwort auf die Herausforderungen und tatsächlichen Belastungen des Berufs. Zum anderen, und darum möchte ich den Streikgedanken erweitern, im Blick auf die Tätigkeitsbeschreibung. Wie viele Stunden sind im Arbeitsalltag, innerhalb der regulären Arbeitszeit, vorgesehen für Weiterbildung, Teamkommunikation, Strategiegespräche und die Neuentwicklung von Projekten? Gibt es ausreichend Ruhe- und Erfindungszeiten?

Hier zahlt Großzügigkeit sich aus.

Extremgebiet, Kilimandscharo. Der Anspruch auf einen Kindergartenplatz ist richtig. Wir müssen ihn uns nur wirklich leisten wollen. Dass wir das nicht nur als Eltern, sondern als Gesamtgesellschaft tun sollten, weil es sich finanziell lohnt, scheint nicht ausreichend deutlich zu sein.

Führen wir uns noch einmal vor Augen, worum es geht. Die frühkindliche Lebensphase formt einen Menschen für immer. Alles wirkt sich aus, auch ein Nicht-Umfeld. Geformt wird das Gemüt. Der Begriff ist nahezu unbrauchbar, ich weiß: doppelt beschädigt durch biedermeierlichen Übergebrauch und politisch-ideologischen Missbrauch. Aber das Konzept ‚Gemüt‘ ist wichtig. Es fehlt. In der zweiten Silbe klingt das mittelhochdeutsche Wort „muot“ wieder. In unserem ‚Mut‘ hat es überlebt, aber im Mittelalter bedeutete es sehr viel mehr. Es fasste den Menschen als Einheit aus Herz-Seele-Verstand. Ich verstehe Gemüt als etwas dem englischen ‚mind‘-Ähnliches: Psyche und Denken, Seelisches und Emotionales in einem.

Fehlendes Zukunftskonzept des Neoliberalismus

Bei Kindern sind all diese Größen noch viel unscheidbarer als beim Erwachsenen. Sie alle werden geformt. Wir wissen heute, dass auch unsere Gefühle nicht naturgegeben entstehen, sondern nur als Bereitschaften bzw. Fähigkeiten in uns angelegt sind. Wir lächeln, weil wir angelächelt wurden. Wir lernen in unseren ersten Lebensjahren, was Freude ist, was Schmerz, was Wut, was Zuneigung. Wie lernen überall. Im Elternhaus, auf der Straße, und ganz bestimmt dort, wo wir spielen und mit Gleichaltrigen zusammen sind. Vier oder sechs oder gar acht Stunden unseres kurzen Tages. Extremgebiet!

Seinen Verhältnissen werden neoliberalistische Kostenreduzierungsansätze nicht gerecht. Sie haben kein hinreichendes Zukunftskonzept. Keines, das über den Tellerchenrand reichte.

In Kindergärten wird Zukunft geformt. Die Auswirkungen von Unterlassungen und Fehlentwicklungen werden sich in 20 Jahren zeigen, in 40. Auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie etwa im Gesundheitswesen.

Meine Freundin übrigens wechselte nach dem so pragmatischen Praktikum aus der Pädagogik in die Literatur. Wirklichkeit und Fiktion klaffen da zwar ebenfalls gern auseinander – aber sie tun es lustvoll!

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