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Gegen den Widerstand der Wüste

 

Offenheit, Heterogenität, Transkulturalität – das klingt alles gut. Bei einem Besuch in Kairo aber ahnt man, warum Kulturen dazu neigen, sich voreinander zu verschließen.

Kairo: Gegen den Widerstand der Wüste - Freitext
© Ed Giles/Getty Images

Lange gleitet die Air Egypt Maschine an diesem Sonntagabend über die Häuser von Kairo. Die schiere Ausdehnung der 18-Millionen-Stadt, dieser City out of Control, wie mir ein Buchtitel am nächsten Morgen in einer arabischen Buchhandlung verrät, lässt keine andere Annäherung zu. Bunt das Elektromeer unter mir, die dicken Straßenadern, vier rote, weit gestreckte Kanäle, vier gelbe, festgefroren in einer Glasröhre, der Fieberverkehr. Auf dem Rückflug am Ende der Woche ein vollkommen anderes Bild: sehe nur erdbraun, wüstenbraun, sehe den Sand, der die Stadt umgibt – in den sie übergeht, in dessen Farben sie gebaut ist. Darüber steigen Rauchfahnen in die Höhe, überall brennt Müll.

Tage in einem dicht von Menschen, haushohen Werbeschildern, Autos in jedem Grad der Blechabschilferung besiedelten, bewegten, durchkreuzten Raum. Meine Hilfsmittel: die Bilder im Kopf vom November 2013. Gesprächspartner, ihre Antworten, ihr eigenes Suchen. Anders als vor 16 Monaten ist der Tahrir-Platz durchgehend geöffnet; der einzige Panzer, den ich sehe, steht vor der Botschaft Saudi-Arabiens auf der andern Seite des Nils. Die Häuser am Platz der Februarrevolution von 2011 sind frisch renoviert, sie wirken wie aus dem Ei gepellt. Das mächtige Zentralverwaltungsgebäude Ägyptens, die Mogamma, in dessen Tiefen man sich für Tage verlieren kann (ägyptische Kenner der deutschsprachigen Literatur versichern, Kafka sei harmlos), arbeitet wieder. In der Buchhandlung, in der das Out of Control mir ins Auge springt, weil es nicht zu meinen Seh-, wohl aber zu meinen Gefühlseindrücken passt, liegen die ersten Abdel-Fattah-al-Sissi-Monographien aus.

An der Germanistischen Abteilung der Universität Kairo findet zum 50. Geburtstag des Institutes eine Tagung zu dem Thema Transkulturalität und Identität statt. Wolfgang Welsch, der den Begriff Transkulturalität in den neunziger Jahren prägte, hält den ersten Vortrag. Er bezieht sich auf einen Passus aus Johann Gottfried Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit von 1774. „Jede Nation“, so zitiert Welsch Herder, habe „ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“.

Welsch wettert: Herder habe sich Kulturen wie autonome Inseln oder abgeschlossene Kugeln gedacht. Überholt. Zeitgemäß indes: Das Prinzip der Transkulturalität, das von Heterogenität und Offenheit ausgeht.

Klingt erst mal gut. Doch auch so „korrekt“, dass meine Gedanken beginnen, wider den Stachel zu löcken. Herders Kugeln gefallen mir. Die Frage nach dem Schwerpunkt, nach dem Wissen darum, was Eigenes, was Fremdes sein könnte (was es sein kann, was es sein soll), um die eigene Identität zu stabilisieren, scheint mir zentral.

© Ulrike Draesner
© Ulrike Draesner

Am Nachmittag schlendere ich durch den ältesten Teil der Stadt. Gassen, Basar, Moscheen. Die Stadtmauer aus der Mamlukenzeit. Drei schwarz verschleierte Mädchen, jedes eine frische rosafarbene Zuckerwatte in der Hand, huschen an mir vorüber. Vor der Mauer brennt, ihrerseits umschlossen von einer Mauer, eine Müllhalde. Sie muss riesig sein; der Geruch weht, wohin er will. Ich werde mit Respekt behandelt. Man hat Humor, ist stolz darauf. Das Café, in dem man mir Mokka aus einem goldenen Kännchen kredenzt, schmückt der Name Nagib Mahfuz. Die Lampen in dem Laden nebenan sind ein eigenes Wunder, Kugeln und Tropfen, kunstvoll geformt, sodann mit Löchern in Form von Blumen oder Sternen versehen, damit ihr Licht in alle Richtungen scheint.

Herders Bild von Kulturen als Kugeln gewinnt in dieser ägyptischen Variante: Die Kugeln erzeugen Raum. Sie vermitteln Schutz und Geborgenheit, sie bündeln und strahlen aus. Man kann in ihnen sitzen und hinaussehen in die Welt, kann vom Licht der anderen berührt werden sowie sie berühren. Wärme und Information werden getauscht. Kugeln, die aneinanderstoßen, geben ihren Impuls weiter, sind aber stabil genug, um sich in der Begegnung nicht zu verlieren. Auch das scheint mir in dem Kairo, das ich dieser Tage wahrnehme, zentral. Wer kann man sein: geöffnet für andere, für Neues, für Hilfe, mit der eigenen Geschichte. Mehr noch: mitsamt dem Staunen bzw. Fremdeln auch vor sich „selbst“, diesem rasch wachsenden, unter ökonomischem, nationalem, politischem, ökologischem Druck stehenden Kollektiv.

Gesten, hingehuschte Fragen, Unsicherheit. Dazu: Stolz. Aber auch Müdigkeit. Was tun? Wie weiter? Die Silberhändler haben ihre Auslagen neu mit Schmuck gefüllt. Kugeln stoßen sich ab, ziehen sich an, umkreisen sich. Austausch ist lebenswichtig, kein Mensch, keine Kultur eine Monade. Der Weg zum ‚Nomaden‘ ist im Deutschen nicht weit. Doch auf den Unterschied kommt es an: den exakt und immer neu zu findenden Grat, auf dem dank der eigenen Kulturanstrengung sowohl Geborgenheit als auch Offenheit, Toleranz wie Selbstbewusstsein, Versicherung in der Tradition und Veränderungsfreude, Selbstkorrektur und Inspiration gedeihen.

Im Goethe-Institut diskutiere ich mit einer Autorin aus Syrien über Flucht und Vertreibung, über das Leben im Exil. Ein den Deutschen sowohl aus ihrer eigenen Geschichte als auch in seiner heutigen Brisanz nicht unbekanntes Thema. Der zweite eingeladene, arabische Autor kommt nicht; er fürchtet sich vor der implizierten Sichtbarkeit. Eine Minute vor Lesungsbeginn fällt der Strom aus. Wir beginnen im Halbdunkel. Die Unterschiede in den arabischen Zungenschlägen höre ich kaum. Ich spüre Schmerzen, Verletzungen, Ängste, Hilflosigkeit im Raum.

Atme die ruß- und schadstoffschwere Luft. Nehme einen Eindruck davon mit, wie schwer es hier ist, allein den Alltag zu organisieren. Einkaufen, Kinder in die Schule bringen, den Arbeitsplatz erreichen. Was 18 Millionen andere mit dir machen, auf engem Raum. Was es heißt, wenn Infrastrukturen fehlen, das Verwaltungssystem undurchschaubar ist. Ich bewundere die Gelassenheit, ja Heiterkeit, der ich begegne.

Schaue in geöffnete, fragende Augen.

Erst tags darauf, in der Luft, sehe ich, wie die Wüste die Stadt umschließt. Es hat eine Bedeutung, aus welcher Landschaft man kommt. Da will ich anders fragen: Wohin treibt einen solche Wüstennähe? Gegen welche Widerstände tritt man an?

Aladin, gespiegelt im Bullauge der Maschine, ein unwahrscheinliches Gesicht, lächelt mich an. Stromausfall? Halbdunkel?

„Komm! Wir streichen Sand durch die Löcher einer leuchtenden Kugel: wir erzählen.“

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