Die Medien sind voller Nachrichten aus der Ukraine. Doch unsere Autorin fürchtet, dass wir ihre Heimat und deren Menschen keineswegs verstanden haben.
An dieser Stelle sollte ein anderer Text stehen. Der allerdings ist mir misslungen. Es ging darin um die Ukraine und ihren Krieg, um die Sowjetunion und ihre unaufgearbeiteten Verbrechen, für die nie jemand verurteilt wurde. Und es ging um die Denkmäler der sowjetischen Politiker, die noch vor Kurzem überall in der Ukraine standen, als ob sie nicht Mörder, sondern nationalen Helden darstellten. Eine grauenhafte Realität scheint ihre Gründe in einer noch grauenhafteren Vergangenheit zu haben. Erst vor einem Jahr begannen die Ukrainer, die sowjetischen Denkmäler in großem Maßstab zu zerstören – eine erschreckend verspätete Aktion der Entsowjetisierung, die beinahe an ein exorzistisches Ritual grenzte.
In dem misslungenen Text schrieb ich auch über meinen Urgroßvater, einen reichen ukrainischen Bauern, der im Jahr 1933 gezwungen wurde, seinen Hof über Nacht zu verlassen, mitnehmen durfte er nur die notwendigsten Habseligkeiten. Auf der Treppe eines Kinderheimes sagte er seiner kleinen Tochter, sie solle hier auf ihn warten, er hole etwas zu essen und käme sofort zurück. Die Tochter wartete brav, und manchmal überkommt mich der Verdacht, dass sie insgeheim immer noch auf ihn wartet.
Aus dem Haus meines Urgroßvaters wurde ein Laden für die Mitglieder der kommunistischen Partei gemacht. Einmal ist seine Tochter, meine Großmutter, dort noch gewesen, als sie, um nicht zu krepieren, aus dem Kinderheim floh. Der gutmütige Verkäufer sagte: „Ich kenne das Mädchen, es wohnte hier früher“, gab ihr ein Brötchen und schickte sie wieder hinaus.
Wenn ich am Denkmal des Genossen Kossior, der auf Befehl Stalins eine Hungersnot in der Ukraine organisiert hatte und auf diese Weise Millionen von Menschen umbrachte, – also, wenn ich an diesem Denkmal noch vor Kurzem auf der Kiewer Straße vorbei ging, tat ich so, als ob ich es NICHT sehen würde. Dabei sah ich auch meinen wie ein Hund am Rand der Straße gestorbenen Urgroßvater NICHT, so wie das kleine Mädchen, das vor dem eigenen Haus mit einem Brötchen in der Hand erstarrte. Das Brötchen stahlen ihm wilde Hunde.
Der misslungene Text endete mit der Aussage, dass die Ukraine, die durch den Krieg Westeuropa jetzt geografisch näher gerückt sein mag, noch immer völlig unbekannt geblieben ist. Sie wartet jetzt, erzählt zu werden. Leider tritt in ihren Geschichten immer nur der Tod als Hauptfigur auf.
„Sei doch nicht so pathetisch’’, sagte die Freundin, die immer als Erste meine auf Deutsch geschriebenen Texte liest. Ich musste ihr vollkommen zustimmen. Ich war über Gebühr pathetisch. Den Text schmiss ich weg und fing wieder von vorne an.
Mein anderer Urgroßvater hat viel gelacht. Er lachte, wann er nur konnte. Er belog die Menschen um sich herum, indem er immerzu unglaubwürdige Geschichten aus seinem Leben erzählte. Deshalb gaben ihm seine Nachbarn den Spitznamen Bimmler. Ein Bimmler ist ein Mann, der wie die Glocke in der Kirche ständig bimmelt. Wenn ich heute in das Dorf, in dem er lebte, komme, werde auch ich immer noch die Bimmlerin genannt. Dieser Urgroßvater hat nie Hungersnot erlebt, denn Ostgalizien, woher er stammte, war in dieser Zeit ein Teil Polens. Polen hasste man hier wie die Pest, deshalb freute sich der Bimmler, als 1939 Galizien von Stalin annektiert wurde – so wie Polen von Hitler.
Für ihn gab es bis dahin auf der Welt nichts Schlimmeres als die Polen. Seine Meinung änderte er sehr schnell. Ihm wurden die Pferde, die er besaß, und eine Scheune enteignet sowie sein Grundstück, auf dem er dennoch weiterhin arbeiten musste, ohne Lohn. Die Unzuverlässigen – die Intellektuellen also – wurden verhaftet oder entführt und in den Gefängnissen oder Kellern des Geheimdienstes erschossen. Als die Nazis bald und ohne Widerstand Galizien besetzten und Krieg gegen die UdSSR führten, freute sich der Bimmler wieder. Die Menschen erschraken, als sie die Keller voller Leichen öffneten. Ab jetzt und für immer waren sie überzeugt, dass es nichts Schlimmeres in der Welt gebe als die Kommunisten. Über die Nazis sagte mein Urgroßvater, sie wären in Ordnung gewesen, man habe nur Hühner und Eier abgeben müssen. Und die Söhne. Sein achtzehnjähriger Sohn wurde von der galizischen SS-Division rekrutiert und ist bei Brody wie fast die ganze Division 1944 gefallen.
Kurz darauf kamen wieder die Kommunisten zurück. Statt sich zu freuen, lachte der Bimmler diesmal nur mehr. Er lachte so viel und so laut, dass er für verrückt erklärt und nach Tscheljabinsk am Ural geschickt wurde, um dort in einer Fabrik zu arbeiten. Er schmolz die Kirchenglocken ein, die in der gottlosen Sowjetunion sowieso unnötig waren, und machte daraus Waffen. Später erzählte er, dass er in Tscheljabinsk nur herumgelungert habe und in einer Truhe voller Gold geschwommen sei.
Viele seiner Landsleute kämpften noch bis in die fünfziger Jahre als Partisanen gegen das Sowjet-Regime. Sie saßen im Wald in einem Bunker und kamen nachts wie die Geister ins Dorf, um etwas zu essen. Als sie schließlich entdeckt und ermordet wurden, lagen ihre entstellten Körper noch zwei Wochen im Zentrum des Dorfes, bei der Molkerei, damit die anderen gut sehen konnten, was mit den Gegnern des Sowjet-Regimes passiert.
Ich habe den Bimmler nie gesehen, es gibt auch kein Foto von ihm. Als er aus Tscheljabinsk zurück war, arbeitete er fleißig in der Kolchose als Kutscher. Die Pferde, die er nicht mehr besaß, brachten ihn nach Hause, auch wenn er ohnmächtig betrunken war. Er ist alt geworden und hat gebimmelt bis zum letzten Atem. Er sagte, dass er aus Holz solche Adler bauen könne, die höher fliegen würden, als die echten.
Sein Lachen höre ich manchmal in mir. Wenn ich schwach und ratlos bin, dann lache ich so viel und so laut, dass man mich für verrückt halten könnte. Ich lache, wenn ich scheitere und mich dafür schäme. Ich lache über meine Verluste und meine Toten. Es gibt keine anderen Geschichten aus der Ukraine. Nur Tod. Nur Lachen.
„Sei doch nicht so pathetisch’’, sagte meine Freundin.
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