Zwei Tage vor seiner Ermordung schrieb Stéphane Charbonnier, Chef von „Charlie Hebdo“ einen Essay. Sein „Brief an die Heuchler“ ist ein Fanal gegen soziale Feigheit.
Anfang Januar, zwei Tage vor seiner Ermordung, gab Stéphane „Charb“ Charbonnier, Chefredakteur der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, einen längeren Essay zur Veröffentlichung frei. Nun ist dieser Essay auch auf Deutsch erschienen. Die Debatte, in die er eingreift, mag speziell französisch sein und der Grund für die Übersetzung vielleicht nur, dass er ungewollt als eine Art Märtyrervermächtnis dasteht. Doch er konfrontiert eine Gesellschaft mit ihrer eigenen Feigheit. Damit wird er auch in Deutschland zur dringlichen Lektüre.
Lettre aux escrocs de l’islamophobie qui font le jeu des racistes heißt das Büchlein im Original. Der hiesige Verlag macht daraus Brief an die Heuchler und wie sie den Rassisten in die Hände spielen. Das Schlagwort Islamophobie fällt also unter den Tisch; entschädigt werden wir mit grammatischer Innovation, wo Charb einen schlichten Relativsatz walten ließ.
Als „Heuchler der Islamophobie“ bezeichnet Charb die Adressaten seines Essays, und seine Argumentation hat zwei Angelpunkte. Zum einen, dass im politischen Mainstream Frankreichs der Begriff Islamophobie zunehmend den Begriff Rassismus verdränge – was letztlich auf einen Freibrief für Rassismus hinauslaufe, solange sich dieser nicht als Angriff gegen „den Islam“ deuten lässt. Und zum anderen, wie hirnrissig oder böswillig es sei, dass gerade Charlie Hebdo – „eine Zeitung, die für das Wahlrecht der Einwanderer eintritt, die für eine Legalisierung der Situation von Ausländern ohne Aufenthaltspapiere kämpft und sich für antirassistische Gesetze einsetzt“ – immer wieder der Islamophobie bezichtigt wird.
Die Haltung, aus der Stéphane Charbonnier schreibt, ist fürs deutschsprachige Publikum ungewohnt. Nicht nur war er ein unkorrumpierbarer, streitlustiger linker Denker, sondern zugleich ein furchtloser linker Praktiker. Weder die Drohungen und Brandanschläge der Fanatiker noch Aufrufe zur Selbstzensur seitens hasenfüßiger Politiker konnten ihn und seine Redaktion davon abhalten, immer weiter ihr journal irresponsable zu produzieren.
Was natürlich nicht heißt, dass Charlie Hebdo, ob vor oder nach dem Attentat, über jede Kritik erhaben wäre. Doch für begründete Einwände, etwa gegen eine „gewisse formale Trägheit“, die in dem Blatt vorherrsche, ein Festhalten an „der alteuropäischen Tradition der allegorischen Karikatur“, die den Charlie-Zeichnungen oft „etwas fast rührend Opahaftes“ verleihe, muss man schon die Fachzeitschrift Titanic konsultieren.
Bei allen Fragen zum Für und Wider von Mohammed-Cartoons und zu möglichen Grenzen des Erlaubten beim Witzereißen kann man sich dagegen getrost an Charb selbst halten. In der kleinen Präambel zum Brief an die Heuchler heißt es:
„Wenn du glaubst, man könne über alles lachen, nur nicht über das, was dir heilig ist, […]
Wenn du glaubst, Humor und Islam seien unvereinbar, […]
Wenn du glaubst, der Koran verbiete es, den Propheten Mohammed zu zeichnen,
Wenn du glaubst, die Karikatur eines Dschihadisten, die zum Lachen reizt, sei eine Beleidigung des Islam, […]
dann viel Spaß beim Lesen, denn für dich wurde dieser Brief geschrieben.“
Die Charlie-Debatte, die bei uns erst nach den Morden vom Januar hochkochte, war eben in Frankreich längst im Gang. Sie hatte ihre besonderen Voraussetzungen – etwa die schon sehr reale Bedrohung eines demokratisch verfassten Gemeinwesens durch eine rechtspopulistische Kraft, den Front National; oder auch die Geschichte der gescheiterten Integration in „den Vorstädten“. Dennoch hält Charbs Essay auch für die (Selbst-) Zensuradvokaten aus dem deutschsprachigen Raum die vollständige Diagnose bereit:
„Der Hinweis, man könne über alles lachen, außer über einige Aspekte des Islam, weil die Muslime viel empfindlicher reagieren als die übrige Bevölkerung, ist doch nichts anderes als eine Diskriminierung. […] Es wäre an der Zeit, mit dem ekelhaften Paternalismus des ‚linken‘ weißen bürgerlichen Intellektuellen aufzuhören, der diesen ‚bedauernswerten, ungebildeten und unglücklichen Menschen‘ beistehen möchte: […] Da ihr den ironischen Hintersinn noch nicht entdeckt habt, kritisiere ich aus Respekt vor euch und aus Solidarität diese islamophoben Zeichnungen aufs Schärfste und tue so, als ob ich sie nicht verstehen würde.“
Brillant ist Charb auch im Kampf gegen die Rhetorik, die Islamophobie und Antisemitismus auf eine Stufe stellt. „Es gibt zwischen Rassismus und Antisemitismus einerseits und der Kritik an religiösen Extremisten andererseits keine inhaltliche Übereinstimmung“, stellt er klar und lässt eine so kompakte wie höfliche Demontage des perfiden Artikels von Alain Gresh folgen, der 2012 in Le Monde Diplomatique Charlie Hebdos Spott über Dschihadisten damit gleichsetzte, dass eine linke Zeitung, „veröffentlicht im Deutschland des Jahres 1931“, sich seitenlang über das Judentum lustig gemacht hätte.
Weniger überzeugend gerät Charbs Versuch, die Atheisten als positives Gegenbild zu religiösen Eiferern einerseits und den „Heuchlern“ andererseits zu entwerfen. Es hat zwar Schwung, wenn er die „Frömmler“ aufruft: „Macht euch in Zeitungen, in Blogs, auf der Bühne und im Puppenspiel über ein absurdes Leben ohne Gott, ein Leben ohne euer höchstes Kuschelobjekt lustig! […] kein Atheist wird euch jemals verklagen, keine Todesdrohungen erreichen euch und eure Räume werden nicht beschädigt.“
Von Stalin bis Pol Pot ließen sich genug Beispiele für mörderische Regime mit atheistischem Etikett auffahren, um diese leichtfüßige Vision rettungslos ins Straucheln zu bringen. Das Gegenbild zu Eiferern und Heuchlern sind nicht die Atheisten (zumal sie ja für ihr Selbstverständnis auf die Religion, ex negativo, angewiesen bleiben) – sondern die Menschen, die in die Zersetzung jeder Herrschaft durch das Lachen einwilligen.
Die größten Verdienste des Briefs an die Heuchler liegen da, wo er gegen einen Konsens von totalitärer Theologie und den Feiglingen der Republik wütet. Der Satiriker tritt als Retter demokratischer Grundwerte in Erscheinung, weil er der Einzige ist, der sich noch traut sie zu verfechten. Und ungetrübt bleibt sein Blick für die Gründe ihres Verfalls:
„Die von Sarkozy ausgelöste Debatte über nationale Identität öffnete in Frankreich der rassistischen Sprache Tür und Tor. Wenn sich der höchste Vertreter des Staates an Idioten und Dreckskerle wendet und sie ermuntert: »Tut euch keinen Zwang an«, wie werden diese wohl reagieren? Sie sprechen dann öffentlich aus, was sie bisher nur im Anschluss an Familienessen, bei denen zu viel getrunken wurde, herausbrüllten.“
Das klingt unangenehm nah, oder? In einem Land, wo die Regierung beim Thema Flüchtlingshilfe ängstlich auf die Rassisten von Freital und die Paranoiker von Pegida schielt, sich im Umgang mit der Griechenlandkrise – sprich: mit der Zukunft der „Idee Europa“ – so verantwortungsbewusst zeigt wie ein Schützenverein nach dem vierten Bier und überhaupt bei jeder gesellschaftlichen Herausforderung, von Migration bis Homoehe, zuvörderst dem dumpfen Reflex der Abschottung huldigt, ist Charbs analytisches Vermächtnis ebenso brennend aktuell wie in Frankreich.
Selbst was die plötzlich grundwerterhaltende Rolle der Satire betrifft, sind die Parallelen unverkennbar; auch wenn sich die Tendenz, dass nur noch satirische Formate überhaupt kritischen Journalismus bieten, bei uns bisher vor allem im Fernsehen niederschlägt (wo die heute-Show, Die Anstalt und immer wieder Böhmermann das machen, was die Nachrichtensendungen nicht mehr tun).
Stéphane Charbonniers Brief an die Heuchler ist ein Fanal gegen die soziale Feigheit. Soziale Feigheit bedeutet in diesem Fall, eine Gruppe – oder gar eine Bevölkerung – mit ihren dümmsten, aggressivsten, lautesten Gliedern gleichzusetzen und diese bestimmen zu lassen, wie mit der Gruppe umgegangen wird.
Sein Mut in einer zunehmend feigen Gesellschaft hat Charb das Leben gekostet. Was nicht etwa zeigt, dass wir mit der Feigheit doch besser bedient sind. Sondern dass eben dieser Mut heute so wichtig und kostbar ist wie schon lange nicht mehr.
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