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Die Tiefen der englischen Seele

 

Erster Tag an der neuen Schule in Oxford. Das Kind soll „Pigsoles“ tragen. Schweinesohlen? Kulturelle Unterschiede hin, kulturelle Unterschiede her – das ist seltsam.

Ich fahre mit dem Kinderfahrrad durch Oxford. Ich sehe darauf aus wie ein tretender Affe. Die Nachbarin hat mich angehalten und mir einen Helm aufgenötigt. Er ist grünschwarz, das Fahrrad gelbblau. Ich fahre auf der linken Seite, ich lebe nicht zum ersten Mal hier. Man schaut mir nicht nach, wir sind in England. Ich fahre wie blöd, ich muss zum Supermarkt und in ein Geschäft mit Haushaltswaren. Es ist bank holiday. Alle Geschäfte haben extra lange geöffnet, alle Leute haben Extrazeit, Extrasonderangebote zu shoppen. Der Landlord, der jeden dritten Tag im Haus erschient, um exakt eine Stunde lang zu räumen, sagt, als ich ihn nach dem Anlass für den Feiertag frage: mehr Shopping. Das ist weder ironisch noch ernst, es ist einfach wahr.

Ich erreiche den Haushaltswarenladen. Er sieht aus wie ein Telefonladen. Von Telefonläden habe ich genug. Fast drehe ich um. Auf dem Fahrrad komme ich mir so klein vor wie das Fahrrad, auf dem ich zu groß bin. In dem Telefonladen, in dem es Haushaltswaren gibt, geht es mir ebenso. Verkauft man hier Bildschirme? Endlich entdecke ich eine Theke, dahinter zwei Angestellte. Da ich schon mal hergestrampelt bin (Affe, deutsch, weiblich, zusammengeklappt auf einem Kinderrad), frage ich nach einem Schneebesen. Snow broom? Beware. Man zückt einen Katalog, noch bevor ich den Mund überhaupt öffne. Ich bin richtig, der Laden ist exakt für Leute wie mich gedacht: man kann nicht online gehen, aber bestellt, als wäre man es. Anders als im Netz hat man es dabei noch mit einem Gegenüber, einem Menschen zu tun. „Hi neighbour„, sagt das Kind.

Ich schüttele den Kopf. Das Kind hat mit dem Fernseher neben der Theke gesprochen. Es ist verwirrt, wie ich. Dass ich auf dem Fahrrad saß und es laufen musste, fand es nicht lustig. Ich wähle aus. Exakt nach den vorausgesagten 13,31 Minuten treffen die zusammengesuchten Schätze ein. Im Katalog kann man kein Bild vergrößern oder verkleinern. Der Schneebesen ist für Zwerge gemacht, zum Ausgleich fassen die extrem dickwandigen Porzellanbecher einen Liter Tee, mindestens. Weiterer Nachteil: Jetzt muss man schleppen. Und das Kind irgendwie wieder von den Bildschirmen lösen.

Kulturelle Unterschiede: Die Tiefen der englischen Seele
© Reuters/Andrew Winning

Der Laden sieht noch immer wie eine Empfangshalle aus. Wie die Bank. Wie eine Abflughalle. Leute strömen herbei.

„Ich bin im Flughafen“, sage ich zu dem Kind. Es schaut mich begeistert an: „Dann kann ich mein Fahrrad ja wiederhaben.“

Kann es.

Und gut so. Denn wir brauchen noch Schuhe.

Von diesem Schuhkauf will ich eigentlich erzählen. Alles bislang war Vorspiel. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Aber erstens: So war es. Und zweitens: Ohne das Vorspiel ist schlichtweg nicht zu ermessen, was jetzt kommt. Vollkommen überraschend: Blick in die englische Seele. Doch! Unter „Seele“ ist es diesmal nicht zu machen.

Das Kind soll hier in die Schule gehen. Wir haben – mir tut das Leid –, die einzige Schule ein Oxford erwischt, in der es keine Schuluniform gibt (wer hier regelmäßig mitliest weiß, warum ich seit ein paar Wochen zu meiner eigenen Überraschung für Schuluniformen bin. Da habe ich mich innerlich eigens umgestellt, und nun das), ich wiederhole es: keine Schuluniform! Nur für PE (ausgesprochen Pi-i, was verdammt nach pee klingt, was wiederum exakt das ist, wonach es klingt, wobei pee als PE Physical Education, also Sport meint) braucht das Kind auch an der Nichtschuluniformschule das, was die englische PE-Schuluniform seit mehr als hundert Jahren unübertrefflich englisch macht: die plimsoll. Manchmal auch als plimsole anzutreffen. Ich las das Wort am Morgen in dem Starter Kit, das uns in der Schule in die Hand gedrückt worden war.

Keine Ahnung, was eine plimsole ist.

Den Schuhladen hat das Kind entdeckt. Er heißt „Schuh“. Erstaunlich. Sollte sich das Deutschenbild der Engländer wandeln? Sollte etwas Deutsches ansatzweise so etwas wie „schick“ sein?

Nichts wie hinein.

Kinderschuhe im ersten Stock. Sofortige englische Schlangenbildung. Wir stehen auf der Treppe, ziehen eine Nummer. Der Verkaufsraum ist voll. Wirklich voll. Kinder, Eltern, Heerscharen von Verkäufern, verdeckt von schwankenden Schuhkarton-Türmen. Nach 15 Minuten Warten (Vorschlag: auch Schuhläden sollten Handys und Tablets verkaufen, dann könnten Kinder, die in unsichtbaren Warteschlangen stehen, besser warten) kommen wir dran. Ich erinnere mich nicht richtig an das Schuhwort. P am Anfang. Pigsoles? Soles heißt Sohlen, immerhin. Die Verkäuferin, ganz British rose (etwa 1,50 m groß, Sommersprossen, rotblonde Dünnlocke, schüchtern) schaut mich entsetzt an. Ich sehe entsetzt zurück. Auch ich finde pigsoles nicht erstrebenswert. Sie findet heraus, was wir brauchen: School, PE? Helle Gummisohlen. Und biegsam das Ganze, dabei fest.

Stunden später: Das Kind liegt im Bett, die plimsoles, Sohlen weiß, Rest schwarz, hängen an der Garderobe. Dürfen auch als Hausschuhe getragen werden. Aber was, um Gottes willen, ist „plim„? Wikipedia hilft mir auf die Nachbarschaftssprünge. Und da passiert es: Ich blicke in ein Eckchen der britischen Seele.

© Ulrike Draesner
© Ulrike Draesner

Plimsole kommt von Schiffen. Handelt vom Beladen und vom Untergehen. Die Gummisohle, die den Canvasschaft des Sportschuhs umschließt, erscheint als Horizont. Schau, wie er sich biegt und krümmt! Als imaginäre Ladelinie dient sie zudem: Schwappt das Wasser hier rüber, wird man nass. Namensgeber der Sohle ist Samuel Plimsoll (1824-1898), ein aus Bristol stammender Politiker, der die Ladelinie bei Schiffen (Plimsoll line) einführte. Zudem, so das Lexikon, waren plimsoles als fester Bestandteil der Schuluniform ein beliebtes Mittel der Disziplinierung und Züchtigung.

Die englische Germanistin, die ich tags darauf treffe, weiß all dies über plimsoles, ohne nachsehen zu müssen.

Ladelinie. Die alten Seefahrer.

Handel, Sicherheit, Ertüchtigung.

„Wir haben Angst vor Fremden“, sagt sie.

Ich frage: „Warum?“

Sie trinkt einen Schluck Tee.

Allmählich kommen wir an.

 

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