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Wir dürfen uns nicht an ihren Hass gewöhnen

 

Gewalt und Menschenverachtung sind Alltag auf den Straßen geworden. Wir leben weiter, als wäre nichts passiert. Wo bleibt der Aufschrei: Das ist nicht mehr unser Land!

Es war halb ein Uhr nachts, zu warm für November, zu kalt, um draußen zu schlafen  – und dass man Letzteres überhaupt feststellen muss! Es war am Lageso, diesem Ort, der zu einem Synonym geworden ist für einen Umgang mit Menschen, der das „Menschen“ oder die „Würde“ in „Menschenwürde“ vergessen hat, für Überforderung, für unfassbare politische Praktiken, für den Versuch, die Realität auszublenden, und für Bilder, die man zu vergessen versucht.

Bevor ich aus dem Auto steige, nehme ich noch einen Schluck von der Cola, die ich brauchte, um wach zu bleiben, und lasse die Dose im Auto, wir sind hier ja weder im Kino noch im Zoo. Es war halb ein Uhr nachts, es war am Lageso, da warteten um die zweihundert Menschen, worauf sie warteten, war den meisten wahrscheinlich nicht klar. „Notunterkünfte“ und „Schlafquartiere“ sind für jeden Fremden zwei deutsche Worte, die schwer auszusprechen sind. Drei junge Frauen stehen quatschend am Zaun, verteilen Tee an diejenigen, die welchen möchten, ein paar Helfer von „Moabit hilft“ rennen in neongelben Warnwesten geschäftig herum. Kinder, trotz der Uhrzeit noch wach und auf Armen von Vätern und Müttern, Kinderwagen, und ein paar, die müde genug sind, um sich auf den Boden schlafen zu legen. Weiße Plastikdecken, niemand, der sich darunter rührt, und weil es Nacht ist, ist die erste Assoziation im Kopf die einer Leichenhalle.

In derselben Straße, drei Meter von all dem entfernt, einfach nur auf der gegenüberliegenden Fahrspur, macht die Polizei eine Verkehrskontrolle. Hält Autos an: Haben Sie Alkohol getrunken? Das ist nicht mehr zynisch, das ist perfide und pervers.

Es ist mir dieser Tage, als habe das Land, in dem wir heute leben, nichts mit demjenigen zu tun, in dem wir noch vor einem Jahr zu leben meinten. Es ist, als fände das, was wir in den Nachrichten täglich sehen, in Wirklichkeit nur im Fernsehen statt, nicht auf unseren Straßen. Vor unseren Haustüren.

Plötzlich leben wir in einem Land, in dem es zur Tagesordnung gehört, Nachrichten wie die folgenden zu hören, schlimmer noch, sie hinzunehmen, anschließend zum Bäcker zu gehen und sich ein Croissant zu bestellen:

Während 30 Deutsche mit Baseballschlägern auf drei Syrer losgehen, während ein Björn Höcke sich seelenruhig mit einer Deutschland-Fahne in ein Studio der ARD setzt oder öffentlich hetzt, Flüchtlinge würden blonde, deutsche Frauen vergewaltigen.

Während die Kandidatin für das Amt der Oberbürgermeisterin von Köln mit einem Messer lebensbedrohlich verletzt wird, weil sie eine Flüchtlingspolitik verfolgt, die dem Täter zuwider ist. Während der AfD-Landeschef von NRW Flüchtlinge notfalls mit Schießwaffen abwehren will. Während Brände gelegt werden.

Wir dürfen uns nicht an ihren Hass gewöhnen
© Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Zahlen, bei denen man aufschreien möchte: Das ist nicht mein Land!: Mehr als 580 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wurden in diesem Jahr bereits in Deutschland verübt. Das sind beinahe zwei pro Tag. Wir aber gehen zum Bäcker. Noch mehr Zahlen: Nur 16 Prozent der Brandstiftungen wurden aufgeklärt.

Es ist natürlich kein deutsches Phänomen: Im polnischen Wahlkampf wird mit Parolen gekämpft, in denen es heißt, Flüchtlinge brächten Parasiten mit. In Schweden wird ein Anschlag auf einen Kindergarten mit besonders vielen Einwandererkindern geplant, und das muss man wiederholen, Buchstabe für Buchstabe: K – I – N – D – E – R. In Ungarn werden Menschen in Zookäfige gesperrt, und auch das könnte man Buchstabe für Buchstabe wiederholen: M – E – N – S – C – H – E – N. In sechs europäischen Ländern sind rechtsextreme Parteien in der Regierung vertreten, in vierzehn weiteren im Parlament.

Jedes Mal, wenn sich die Prozesse, die wir heute erleben, ankündigten – sei es in der Sarrazin-Debatte, in der entwürdigenden Rhetorik der Beschneidungsdiskussion, in dem erschütternden NSU-Skandal, und selbst als Pegida Anfang des Jahres erwachte, – jedes Mal dachte man: Es wird vorübergehen. Es sind Einzelne. Wir werden sie isolieren und ihnen zeigen, was Deutschland ist, was Demokratie.

Währenddessen aber ist der Hass gewachsen, der Hass auf alles, was anders ist, und die Angst davor, dass man etwas verlieren könnte – obwohl man noch gar nichts verloren hat. Und der Hass hat nach Ängsten und Fragen und Befürchtungen gegriffen und all das an sich gerissen und ist dicker und größer und hässlicher geworden, und geht stolz und offen dieses Gefühl demonstrieren.

Wir schauen zu. Es hört nicht auf, es wird nicht besser, und ein wenig gewöhnen wir uns daran, obwohl wir es nicht zugeben wollen. Und was wir auch nicht zugeben wollen: Das könnte erst der Anfang sein. Und vielleicht muss man das umformulieren: Es ist erst der Anfang. Und eigentlich wissen wir: Zuschauen dürfen wir nicht noch einmal. Zulassen, dass zur Normalität wird, was wir früher nur aus Filmen kannten.

Die Rhetorik radikalisiert sich täglich, man spricht von „Flüchtlingsangriff“, vergleicht den Justizminister mit Joseph Goebbels und sagt offen, dass Unterstützer der Merkel’schen Flüchtlingspolitik „an die Wand gestellt“ gehören.

Wo sich die Rhetorik auf der einen Seite verhärtet, da verweichlicht sie auf der anderen Seite: Neonazis, die zu Gewalttaten bereit sind und mit offen rassistischen Parolen um sich werfen, werden als „besorgte Bürger“ bezeichnet.

Die Grenzen dessen, was man öffentlich sagen darf, sind verschoben worden, die Grenzen dessen, was wir akzeptieren, ebenfalls: Am Sonntagabend gibt es in der ARD den Tatort, am Montagabend in der Tagesschau die Bilder von den Nazi-Fressen in Dresden.

Wir sehen das hilflos, und wir wundern uns: Wo ist denn das Land, in dem ich letztes Jahr noch lebte. Und irgendwann kommt Verzweiflung auf: Was kann man tun?

Man hat versucht, mit ihnen zu reden. Man hat versucht, die Sorgen ernst zu nehmen. Man hat zurückgeschrien. Man hat versucht, sich auf die andere Seite zu stellen, um zu zeigen, dass es auch die andere Seite gibt. Man hat Petitionen unterschrieben und ist auf die Straße gegangen. Man hat angeschrieben dagegen. Man hat versucht zu erklären, Fakten gegen Ängste zu stellen, und mit Zahlen gegen Vorstellungen vorzugehen. Und hat es etwas gebracht? Unsere Zeit erinnert einen an eine, über die man viel in der Schule gelernt hat.

Am Lageso frage ich die freundlichen Helfer, die den wartenden Menschen im Vorbeigehen auf die Schulter klopfen und lächeln, um halb ein Uhr nachts, ob man irgendwas tun könne, jetzt. „Nur jemanden für die Nacht aufnehmen“, ist die Antwort. Da ich aber in Berlin nicht zu Hause bin und selbst als Gast bei Bekannten übernachte, kann ich leider niemanden mitnehmen. Irgendwann wird es sehr kalt, und ich werde sehr müde, und weil ich in dem Moment nichts tun kann, außer das hier gleich aufzuschreiben, gehe ich zum Auto zurück. Die anderen aber, denen kalt ist, und die müde sind, bleiben dort. In den nächsten Tag lese ich, dass eine junge, schwangere Frau aus Somalia in Brandenburg auf offener Straße und bei Tageslicht krankenhausreif zusammengeschlagen wurde. Das ist wieder eine dieser Nachrichten, bei denen man denkt, das ist doch nicht real. Da kommen einem die Tränen, man wird abgestumpft und bleibt dennoch ein Mensch, die Tränen sind nicht der Traurigkeit, sondern der Verzweiflung geschuldet, und gleichzeitig ist da das Wissen: Man muss. Weitermachen. Für Verzweiflung ist keine Zeit. Wenn man aufgibt, wenn man nichts mehr tut, dann überlässt man ihnen den Raum. Dann nehmen sie uns das Land. Selbst dafür, um einem pamphletischen Ende wie diesem den Pathos zu nehmen, ist eigentlich keine Zeit.

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