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Eine Schule fürs Zusammenleben

 

In englischen Schulen gelten strenge Regeln. Das mag abschreckend wirken. Tatsächlich gelingt auf diese Weise die Integration von Kindern aus anderen Kulturkreisen.

© WPA Pool/Getty Images
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Es greift. Seit drei Monaten sind wir in England. Es greift: Mein Kind geht gern zur Schule. Der Unterricht findet auf Englisch statt. Muss anstrengend sein. Das Kind kommt erschöpft nach Hause. Klagt nicht. An unserer Berliner Schule herrschten eine freundliche Lernatmosphäre, Offenheit, Förderung des individuellen Kindes. Allmählicher Notenstress seit Jahrgangsstufe drei. Kleine Klassen allerdings. Gewaltige Unterschiede im Vergleich zu meiner Schulzeit, was Fragen der Disziplin, des Strafens, der Kindgerechtheit angeht. Welch Segen.

Hier in England wirkte die Institution Schule zunächst eher abschreckend, wenn nicht gar furchteinflößend. Regeln über Regeln: Auch Neunjährige werden morgens zum Schultor gebracht. Und abgeholt. Eine Mutter nahm mich in der ersten Woche zur Seite und erklärte mir, es werde, zumindest symbolisch, ein Handschlag erwartet. Formale Übergabe der Verantwortung für das Kind. Nachmittags das Ganze in Zweierreihen retour.

Ich unterschrieb eine umfassende Nusserklärung: Da es ein Kind mit Nussallergie geben könnte, ist allen verboten, irgendetwas Nussiges mit in die Schule zu bringen. Man klärte mich auf, dass ich nun aufgeklärt und haftbar war. Ich unterschrieb eine vierseitige Erklärung zu Foto- und Medienrechten. Die Schule ist zu allen Zeiten abgeschlossen. Um exakt 8.35 Uhr wird ein Seitentor geöffnet. Abholer warten draußen. Doppelte Sicherheitsschleusen. Abwesenheiten, und sei es für einen Arzttermin für 30 Minuten, müssen formal beantragt und von der Direktorin genehmigt werden.

Ich hatte das Gefühl, immer wieder gegen die Stacheln eines Zauns zu laufen.

Doch dann ging es los. In der ersten Woche wurde den Kindern ein Fragebogen zur Lernmotivation mit nach Hause gegeben. Psychologisch geschickt gemacht; das Ergebnis war erstaunlich zutreffend. Die Auswertung des Bogens ist, wie ich nun weiß, Grundlage für alles weitere. Gespräche (Lehrer-Schüler) begleiten den Unterricht: Ermunterungen in Bezug auf das sogenannte mindset. Das Credo: Allein die innere Einstellung zum Lernen entscheidet. Alle machen Fehler. Du bist so gut, wie du denkst, dass du sein kannst.

Noten gibt es nicht.

Es gibt dich – und deinen Fortschritt.

Es gibt Zuspruch, Ermutigung.

Ich verrate keine Geheimnisse, all dies kenne ich auch aus Berlin. Die Konsequenz indes, mit der diese Haltung umgesetzt und gelebt wird, ist in England anders.

Große Klassen, zwei Lehrkräfte. Immer wieder wird es laut. Die Lehrerin klatscht einen Rhythmus, die Kinder klatschen nach. So wird der Lärm vom Mund in die Hände gelenkt. Bleibt es laut, heben alle den Arm. Oder berühren sie mit dem Zeigefinger die Nase. Spätestens das wirkt.

Selbst Ermahnungen werden sozusagen umgekehrt ausgesprochen: Niemand wird aufgefordert, jetzt zu rechnen. Gelobt werden jene am Tisch, die es bereits tun.

Alles ist auf Förderung, Respekt und Anerkennung gestellt. Und wird mit einem Humor begleitet, der die Lehrerrolle mitbedenkt und manchmal infrage stellt. Jedenfalls relativiert!

Das Wochenthema derzeit lautet: Anweisungen schreiben, Listen führen, Diagramme zeichnen.

Die Hausaufgabe dazu, vorgestern: in jeweils fünf Punkten aufschreiben, was gut ging und was missglückte in der Stunde, in der die Schüler Papierflieger falten durften. Ich helfe meiner Tochter mit dem Englischen. Wir amüsieren uns köstlich. Natürlich fallen uns tausend Dinge ein, die schiefgingen.

Hausaufgabe heute: für Kinder, die die Schule wechseln, aufschreiben, was einen Lehrer bzw. eine Lehrerin glücklich macht.

Meine Tochter sagt: Das ist zu schwer.

Ich sage: Wir nehmen einfach, was dich glücklich macht.

Ein deutscher Bekannter, dessen Tochter das englische Schulsystem bereits durchlaufen hat, schreibt: Die englischen Schulen basieren auf dem gegenseitigen Respekt von Schülern und Lehrern. So vermitteln sie Autonomie. Wenn man diese Erfahrung in der Fremde gewinnt, will man nicht mehr weg.

Etwas Zweites kommt hinzu. Es betrifft die Frage, wie die eigene Identität verstanden wird. Angesichts der Flüchtlingssituation in Deutschland scheint mir dieser Aspekt besonders wichtig.

Damit komme ich auch zu den Regeln zurück. Allmählich begreife ich, warum sie so wichtig sind. An der Schule meiner Tochter gibt es, auch ohne Schuluniform, einen starken Gemeinschaftsgeist: Schulkalender, schulbezogene Schultaschen, wöchentlicher Newsletter, die Versammlung aller Schüler und Lehrer in der Aula für mindestens zehn Minuten pro Woche, klassen- oder jahrgangsübergreifende Unterrichtsthemen etc.

Wer in diese Gemeinschaft eintritt, darf seine latente Tradition und Identität behalten. Die Schule gibt eine neue, gemeinsame Identität hinzu, ohne dass die alte verleugnet werden müsste. Die neue Identität bestimmt sich nicht durch Tradition, sondern durch Regeln. Das muss kein Widerspruch sein, selbstverständlich haben auch Regeln Tradition. Entscheidend ist die Gewichtung: Regeln gelten nicht, weil sie (dieser oder dieser) Tradition entspringen, sondern weil sie sich als Instrumente von Förderung und Respekt bewährt haben.

Halt, Schluss. Die Aufgabe „What keeps your teacher happy“ ruft.

(And please, dear readers: what keeps your freitext-authors happy? Your positive comments, of course!)

 

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