Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Unsere neue Arschlochkultur

 

Vor Jahren konnte man mit Songs über menschenverachtendes Verhalten Erfolg haben – als Pose und Spiel mit der Konsenskultur. Heute scheint Hass eine Tugend zu sein.

AFD-Demo
© John Macdougall/Getty Images

Als das Jahrtausend noch ganz jung war und trotzdem schon eklig werden konnte, hielt sich ein Song namens Es ist geil, ein Arschloch zu sein neun Wochen lang an der Spitze der deutschen Singlecharts. Dargeboten wurde er von einem Ex-Polizisten und Big-Brother-Kandidaten namens Christian Möllmann. Bereits im Container hatte sich Christian (alias „der Nominator“) nach Kräften unsympathisch gegeben, sein Lied reichte dazu das Motto nach. Und gewiss rieb sich da ein Texter die Hände, zählte es doch zu den wenigen Dingen, die im Jahr 2000 noch nicht gemacht worden waren, die Wörter „geil“ und „Arschloch“ gemeinsam im Titel einer Mainstream-Nummer unterzubringen. Und natürlich fiel diese Art, die Rolle des Fieslings abzufeiern, unter die seinerzeit modische schmierige Ironie (oder Pseudoironie); es wäre unfair, das nicht zu erwähnen.

Ich wünschte, ich hätte ihn längst vergessen können oder würde ihn nur noch in morbider Wer-hat-das-schlimmste-Popgedächtnis-Runde aus der Hirnhalde schürfen. Aber nein. Die Einstellung, die dieser Hit auf ein Schlagwort bringt – nennen wir sie das Christian-Prinzip –, lebt nicht nur hartnäckig weiter, sie greift, inzwischen ganz unironisch, derart um sich, dass eine Neuveröffentlichung sich anbieten würde. Diesmal vielleicht zum Jägermarsch umarrangiert und featuring Besorgte Bürger of Clausnitz.

Weil in dem Song für Eurotrash-Verhältnisse erstaunlich lange Strophen zwischen den vervielfältigten Refrains zu überbrücken waren, rappte Christian von „Arschloch“ zu „Arschloch“ als hölzerner Falco-Imitator jeweils ein paar Hinweise darauf, was an dieser Existenzform denn geil sein sollte. Das meiste sind Verlegenheitsreime („Ich fahr nen dicken Mercedes / Hallo da, wie geht es?“) oder Phrasen, die klingen, wie ein Schlagerlurch sich eine dicke Hose vorstellt („Ich bin die 10 auf einer Skala von 1 bis 8“). Doch manche der Textbröckchen machen auch ein wenig deutlicher, in welchen sozialen Praktiken sich das Christian-Prinzip niederschlägt: „Ich quatsch dich vorne freundlich zu / und drück dir hinten eine rein“; „Bevor das Datum verfällt, / hab ich dich schnell mal abgezockt / und um die Kohle geprellt“; „Und gibt es ein Problem, dann wird es weggekauft“; „Wenn du ein Schwein bist, gehört dir alles allein“.

Klar, solche Verse sind unverbindlich hingeschludert und sollen halt irgendwie zum Liedtitel passen. Bleiben wir trotzdem kurz dran, schließlich geht es ums Prinzip.

Gewöhnlich funktioniert das Christian-Prinzip nur, solange sich die überwiegende Mehrheit der Gemeinschaft nicht daran hält. Wer es geil findet, ein Arschloch zu sein, verlässt sich zugleich darauf, dass die Menschen ringsum eher keine sind: dass er selbst nicht dauernd „abgezockt“ wird, dass man ihn, wenn er den Mercedes in die Leitplanke geknallt hat, nicht auslacht, sondern zusammenflickt und gesundpäppelt usw. Wir dürfen annehmen, dass auch die meisten Käuferinnen und Käufer des Songs keine Arschlöcher waren, sondern recht redlich und empathiefähig, und dass dieses „Es ist geil“ für sie allenfalls eine interessante, vielleicht irgendwie verruchte Pose war, ein Gedankenspiel.

Viktor Orbán singt Christians Lied

Wer das Christian-Prinzip verficht, beruft sich dabei übrigens nicht etwa auf das alte Ammenmärchen des Liberalismus, also: Wenn jeder sich um die eigenen Interessen kümmert, ist für alle gesorgt. Vielmehr pocht er darauf, dass es ein reißfestes soziales Fürsorgesystem gibt, aus dem allein er ausscheren darf. So gesehen verkörpert er sogar eine verquere Antithese zu Hardcore-Liberalen wie Ayn Rand. Doch dies wiederum nur nebenbei bemerkt.

Dass das Christian-Prinzip in seiner, sagen wir, klassischen Form auf eine Umgebung von Anständigen zählt, heißt nicht, es ließe sich nur individuell-zwischenmenschlich ausleben. Wie man es in größerem Stil umsetzt, zeigt etwa Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, wenn er vorne dröhnt: Europa kann uns mal, und sich hinten die EU-Subventionen reinschieben lässt. Ach ja – vorne säuselt er auch: „Für uns Ungarn bedeutet Schengen Freiheit“, und hinten baut er einen Zaun, damit sich um die Flüchtlinge gefälligst die anderen kümmern.

Solange ein Einzelner so handelt, wird die Gemeinschaft es verkraften – doch was ist, wenn andere ihm nacheifern? Dann erhalten wir zum Beispiel die Visegrád-Gruppe in ihrer aktuellen Ausrichtung, und Christian singt ihre Hymne.

Die Visegrád-Gruppe, ein Zusammenschluss der Regierungen von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei, gab mit ihrem Vorstoß, in Sachen Stacheldraht-Europa ohne weitere Absprache mit der EU Tatsachen zu schaffen, unlängst ein besonders großes und grelles Exempel für den Versuch ab, das Christian-Prinzip von der exklusiven Ausnahme zur umfassenden Regel zu machen. Ein widersinniger, schon mittelfristig suizidaler Ansatz, der aber inzwischen sogar im sozialdemokratisch mitregierten Österreich Schule macht und den Horst Seehofer vorbildlich findet. Denn was kümmern uns Kriegsopfer, Vertriebene, Verfolgte von sonstwoher, who the fuck is Europa, irgendwo hinterm Zaun wird es schon sichere Drittstaaten oder so was geben, und wenn nicht, auch egal. Geil ist halt geil.

Wenn du ein Schwein bist, gehört dir alles allein

Vielleicht wird man in diesen Zeiten nur besonders empfindlich, aber mir kommt es gerade wie ein Trend vor, dass eine Ausweitung des Christian-Prinzips auf diversen Ebenen erprobt oder propagiert wird. Allein die Fundstücke aus den drei Tagen Mitte Februar, bevor ich mich an diesen Text setzte: Erst der Techie aus dem Silicon Valley, der sich beschwert, weil ihm auf dem Weg zum täglichen Geldscheffeln der widerwärtige Anblick von Obdachlosen zugemutet wird (er nennt sie „riff raff„, Gesocks); dabei haben doch „die wohlhabenden Berufstätigen sich das Recht verdient, in dieser Stadt zu leben“; und wenn seine Eltern mal zu Besuch kommen, sollen sie schließlich „ein großartiges Erlebnis haben und diesen besonderen Ort genießen können“; der Bürgermeister muss „all of the homeless and riff raff“ also schleunigst aus dem Weg räumen, anderenfalls „können Geld und politischer Druck die Dinge ändern“.

Dann das CDU-Männchen aus Rheinland-Pfalz, das es für opportun hielt, der an Multipler Sklerose erkrankten Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) endlich mal so richtig reinzureiben, dass sie behindert ist – natürlich nur aus Sorge um den „behinderten Filz“, den die Landesmutter im Rollstuhl angeblich angerichtet hat; und das sich dann aber ganz furchtbar erschreckte, als selbst sein eigener Ortsverband ihm den Parteiaustritt nahelegte (Hilfe, sind ja doch nicht alles Arschlöcher).

Und schließlich Clausnitz und Bautzen. „Wenn du ein Schwein bist, gehört dir alles allein“: Speziell an diesen Satz aus Christians Song muss ich denken, wenn Deutschlands neu geschaffenes Bevölkerungssegment der Hassbürger aktiv wird. „Wir sind das Volk“, brüllen sie gerne, um sich in Pogromstimmung bringen, und ja, welcher Montagsdemonstrant vor dem Mauerfall hätte gedacht, dass diese Parole einmal zum Synonym für unseren programmatischen Songtitel würde?

Die Angst des Kartoffeldeutschen

Dass der alte Besserwessi wiederum den Anlass im Wesentlichen dafür nutzt, sich einmal mehr wohlfeil vorm depperten Ossi zu grausen, und sich in seinem Überlegenheitsgefühl erst recht bestätigt sieht, weil bei ihm zu Hause im Formatradio als Soundtrack zum jüngsten Brandanschlag oder zum jüngsten „Endlich-Grenzen-dicht!“-Leitartikel gerade nicht Meine Heimat, die immer lacht läuft, hat freilich auch noch kein Arschloch zum Gutmenschen geläutert. Und bisher hat der auf- und abgeklärte Westen ins Tal der ewig Ahnungslosen in puncto „Deutschland erfindet sich neu“ neben süffisanten Pauschalisierungen im Wesentlichen Trixi von Storch, Björn Höcke, Alex Gauland und Tatjana Festerling exportiert. (Ich weiß, liebes Forum, Gauland war ein Re-Import, er hatte 1959 aus Sachsen rübergemacht.)

Viel ist angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise über die Angst geschrieben worden. Nicht über die Angst der Geflüchteten, sondern über die Angst derer, die ihnen die Zuflucht verweigern wollen: die Angst der Eingesessenen vor Veränderung, die Angst des Kartoffeldeutschen vor dem Muselmann, die Angst der Vernagelten vor Horizonterweiterung, die Angst davor, etwas weggenommen zu kriegen, die Angst, nicht mehr unter sich bleiben zu können. Auch darüber, wie solche Angst Verschwörungstheorien wuchern lässt und wie sie in Ressentiment umschlägt.

Doch wer im Gröle-Mob einen Bus mit Flüchtlingsfamilien belagert und wer johlt, wenn ein, nun ja, überforderter Polizist aus diesem Bus gewaltsam ein schockiertes Kind zerrt, der mag drinnen im kargen Oberstübchen ein noch so bedauernswerter Schisshase sein: Draußen ist er Teil einer Bewegung, die das Christian-Prinzip zur deutschen Nationaltugend erheben will. Teil dieser Bewegung sind aber auch zum Beispiel diejenigen, die jetzt „Herrschaft des Unrechts!“ rufen und mit atrophiertem juristischem Sachverstand glauben nachweisen zu können, dass das dubiose Dublin-Verfahren die Genfer Konvention außer Kraft setze.

Vor welche Herausforderungen uns der Flüchtlingszuzug in Zeiten weggebröckelter europäischer Solidarität auch stellen wird: Sie verblassen gegenüber der Aufgabe, dieser Bewegung entgegenzutreten. Und das Konter-Argument (ich sehe es kommen), „Die Bewegung gäbe es ja nicht, wenn wir die Flüchtlinge nicht hier hätten“, ja, das sinkt schon sehr gefährlich ab in Richtung „Ohne die Juden hätte es den Holocaust nicht gegeben“. Wobei die neuen völkischen Zündler vielleicht bloß noch ein paar Monate weiterkokeln müssten, wie sie es seit den ersten Pegida-Märschen tun, bis auch solche Thesen hier auf einmal „in der Mitte der Gesellschaft“ herumspuken würden.

Und ebenfalls keine schöne Aussicht: dass „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“ bei zigtausend jungen Geflüchteten als erste prägende Lektion hängen bleiben könnte, die sie von Deutschland gelernt haben.

_________________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es jetzt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.