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Im Bus immer hinten sitzen

 

Verändert der Terror unseren Alltag? Wird der Ausnahmezustand zur Normalität? Gedanken über die Anschläge von Brüssel und israelische Verhältnisse in Europa.

Brüssel: Im Bus immer hinten sitzen
Französischer Soldat am Pariser Flughafen Charles de Gaulle nach den Anschlägen in Brüssel (© Reuters/Philippe Wojazer)

Als in der Silvesternacht die Terrorwarnung für den Münchner Hauptbahnhof herausgegeben wurde, stand ich gerade mit einem Glas Sekt auf einem Münchner Dach und hatte keinerlei Angst. München, dachte ich, also jetzt hier, bei uns, dachte ich, und dann schrieb ich der Familie eine Nachricht, alles ist gut, sind nicht im Zentrum, und dann dachte ich noch, kalt ist es, kalt, aber so gehörte es sich ja für die Silvesternacht. Später wunderte ich mich noch, wie sich so viele in jener Silvesternacht in München wunderten, dass das Feuerwerk heuer, wie man hier sagt, so mickrig ausfiel, der Terror, ach ja. Das dachte ich mit dieser gewissen Überheblichkeit, mit der man diese Dinge denkt und mit der man andere beobachtet, die ihrer Familie immer wieder ihr Wohlergehen versichern, wenn man eine Zeitlang in Israel gelebt hat, wo die Angst vor dem Terror zum Alltag verkommt. Dieselbe Überheblichkeit mischte sich in die Ruhe, mit der ich überlegte, wie man denn am Besten nach Hause käme im Fall einer Terrorwarnung, zu Fuß, mit dem Auto, oder gar nicht, hier übernachten, und zu Hause hatte ich auch nicht das Gefühl von „endlich daheim“. Ich doch nicht, ich habe in Israel gelebt.

Als die Nachricht mit den Anschlägen auf den Brüsseler Flughafen eintrifft, sitze ich in einem Flugzeug in Paris und wundere mich, dass mein Handy noch klingelt, zwei Minuten vor dem Abflug. „Ich wusste nicht, ob ich es dir sagen soll oder nicht“, beginnt mein Mann, das kann kein gutes Ende nehmen, „aber dann dachte ich, ich sage es dir doch, falls ihr nachher ewig Schleife fliegt oder der Flug umgeleitet wird, falls sie die europäischen Flughäfen schließen“, und ich rutsche nervös auf meinem Sitz. „Es ist nichts, ich wollte nur nicht, dass du beim Flug nervös wirst“, sagt er zum Schluss, der um meine frühere Flugangst weiß, „es ist nichts“, sagt er, aber dann fühlen wir uns doch beide sicherer, uns etwas Nettes zu sagen, und wie in einem schlechten Film füge ich mit dieser zittrigen Stimme, die ich nicht kenne, hinzu: „Ich hab die Kiddies so lieb.“ Dann startet das Flugzeug, und wäre die Nachricht eine halbe Stunde früher gekommen, wäre ich sofort ausgestiegen.

Als ich damals nach Israel zog, nahm ich die Angst mit, die meine und die der anderen: „Israel? Echt? Hast du da keine Angst?“ – „Nee“, und ich gab mir Mühe, dass das „nee“ sicherer klang, als ich mich fühlte. Ich kam spätabends in Israel an und war froh, von Freunden abgeholt und mit einem Sammeltaxi nach Tel Aviv gebracht zu werden (nicht mit einem Bus, der explodieren hätte können), wir fuhren direkt an den Strand, wo wir Bier tranken, ich vergrub die Zehen im Sand und sog die warme Luft hungrig ein, und dachte mir: Am Strand haben die noch nie Anschläge verübt. Einmal blickte ich nach hinten zur Strandpromenade und ein Freund zeigte auf eine Kneipe, „schau mal, dort drüben ist Mike’s Place“. „Mike’s Place?“, fragte ich, da hing ein Guinness-Schriftzug und ich dachte, vielleicht ist es the place to go. Vielleicht, dachte ich, gehe ich da jetzt abends hin, auf ein Bier, ich bin jetzt in Tel Aviv, und vor Aufregung nahm ich einen Stein und warf ihn ins Meer. Hallo, Leben. „Das ist die Bar, in der es diesen Selbstmordanschlag vor ein paar Jahren gab, mit den vielen verletzten Jugendlichen, weißt Du noch?“, fragte der Freund, da wusste ich noch nicht, dass solche Sätze in diesem Land dazugehören – hier war / ich kannte den, der. Israel ist ein sehr kleines Land, jeder kennt jemanden und man kommt an keinem Ort vorbei.

In Israel lebt man die Angst vor dem Terror

Am nächsten Morgen saß ich mit Freunden in einem Café beim Frühstück, die Sonne schien, wie herrlich, in Deutschland war es nämlich kalt, ich trank einen Tee mit frischer Minze, und für immer und bis heute ist mir der Geschmack von Minztee mit diesem einen Gedankenblitz verbunden: Was – wenn – jetzt?, und ich schaute mich um, voller Angst. Ich äußerte die Angst nicht laut, ich war erstens kein Feigling und zweitens wollte ich in dieses Land. Und drittens schien die Sonne.

Die Sonne schien, aber in meinen ersten Wochen in Israel fuhr ich viel Taxi und wenig Bus. Dann ging mein Geld zu Ende. Meine israelische Mitbewohnerin riet mir, während sie sich ein Käsebrot in den Mund stopfte, mit der Selbstverständlichkeit, mit der man in Israel die Angst vor dem Terror lebt – als Gegensatz zu: sich von der Angst treiben lassen – ich solle mich im Bus doch einfach immer nach hinten setzen, die Selbstmordattentäter, die sprengten sich meistens gleich beim Einsteigen in die Luft. „Haben wir noch Hummus?“, fragte sie dann ohne Atempause, weil das Käsebrot aufgegessen war.

Wenn ich in einen Supermarkt ging, um Hummus zu kaufen, musste ich am Eingang meine Tasche öffnen und dem Sicherheitsdienst den Inhalt zeigen, nein, ich habe keine Waffen dabei. Wenn ich das Universitätsgelände zu meinem Sprachkurs betrat, musste ich Metalldetektoren passieren, die ich bisher nur von Flughäfen kannte. Im Bus setzte ich mich immer nach hinten. Der Freund meiner Mitbewohnerin war Offizier in der Armee und abends brachte er oft seine Freunde und Kollegen mit, die ihre Armeejacken und ihre Maschinengewehre in die Ecke pfefferten, bevor sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank holten. Eines Abends stand ich an unserer Küchentheke und hielt in einer Hand eine Bierflasche und in der anderen, probehalber, ein Maschinengewehr. Die Angst war vergangen, das Bewusstsein aber war da. Es nährte sich nicht von Gleichgültigkeit, sondern hatte eine Ernsthaftigkeit im Gesicht, die Verantwortung verlangte: Ein wenig, wie wenn jemand im näheren Umfeld plötzlich ums Leben kommt und einem die eigene Sterblichkeit vor Augen führt. Aber man geht trotzdem bei Rot über die Straße, weil man spät dran ist. Interessanterweise brachte dieses Bewusstsein ziemlich schnell eine Überheblichkeit mit sich: In die besetzten Gebiete fuhr ich ein paar Wochen später, ohne das zu einem Mutbeweis zu stilisieren.

Der Alltag verschluckt auch ideologischen Trotz

Ein Freund aus Deutschland kam für ein paar Tage zu Besuch. Am ersten Abend, den wir in einem Club bei einer Jamsession verbrachten, starrte er nicht die schöne Bassgitarristin an, sondern das Maschinengewehr, das sie vorn auf der Bühne abgelegt hatte, um spielen zu können. „Du gewöhnst dich dran“, sagte ich und meinte es so. „Ja, man darf sich von der Angst vor dem Terror nicht leiten lassen“, antwortete er und meinte es auch so. Ich wunderte mich, weil auch der ideologische Trotz vom Alltag verschluckt worden war. Wir lebten, nicht trotz und nicht obwohl. Wenn ich telefonierend einen Supermarkt oder ein Café betrat, sagte ich „ejn neschek„, keine Waffe, ohne mir die Mühe zu geben, das Handy vom Ohr zu nehmen. Wir lebten. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Als ein Freund nach der Silvester-Terrorwarnung in München ein Überlebenspaket packte, sodass er in einem Notfall eine Zeitlang mit seinem Sohn zu Hause überstehen könnte, kommentierte ich, verständnislos und gehässig, er solle sich eine Freundin oder ein Hobby suchen, dann hätte er etwas Sinnvolles zu tun. Als ein Bekannter vor ein paar Tagen bei Facebook postete, er fliege nach Istanbul, trotz der Anschläge, er freue sich, er gebe dem Terror nicht nach, kommentierte ich, was ich sonst selten tue: „Yes!“. Nun sitze ich im Flugzeug nach Paris und habe Angst. Und diese eine Träne, die ich am liebsten gar nicht erwähnen würde, im Augenwinkel, der Kinder wegen. Ich fürchte mich. Der Anschlag war in Brüssel, nicht in Paris, aber die Städte sind in meiner Wahrnehmung aneinander gerutscht, da ist es, das große europäische Gefühl. Von der Angst vereint. Ich muss an den Minztee denken, den mit der frischen Minze.

Es muss irgendwo über Stuttgart sein, als ich den Alltag die Angst ersticken lasse. Nicht trotz, und nicht obwohl, sondern, weil ich den Laptop heraushole und E-Mails beantworte und das Leben mich hat. Als ich vom Laptop aufsehe, ist die Welt die alte. Ein Flugzeug. Ein Orangensaft und ein Kaffee. Wir landen in Paris aber dürfen das Flugzeug nicht verlassen, bis die Grenzschutzbeamten unsere Pässe kontrolliert haben. Bevor man den Flughafen verlässt, werden die Pässe noch einmal kontrolliert, EU-Bürger oder nicht, die Warteschlange ist lang und bewegt sich nur langsam. In schusssichere Westen gekleidete Polizisten ziehen mit einer Bestimmtheit und Heftigkeit, die mich zusammenzucken lässt (bin ich die Einzige, der es auffällt?), all diejenigen heraus, die verdächtig aussehen. Dunklere Haut. Kopftuch. Schwarze Haare und schwarzer Bart. Männer wie Frauen. Sie holen sie aus der Warteschlange und nehmen sie mit, racial profiling at its best, und diejenigen, die warten dürfen, die nicht so aussehen, telefonieren, tippen in ihre Handys oder blicken auf die Uhr, in die Luft. Die Stimmung ist angespannt, und ich weiß nicht, ob das den Anschlägen in Brüssel oder dem Morgenstress eines Flughafens geschuldet ist. In Paris erzähle ich einer Freundin davon, die auch lange in Israel gelebt hat, und sie zuckt mit den Schultern, während sie am Rotwein nippt: „Ja, hier kontrollieren sie auch schon die Eingänge von den Supermärkten. Israel ist jetzt in Europa.“ Und dann schneidet sie ein Stück von ihrem Filet ab.

Am nächsten Tag am Flughafen nehme ich die mit Maschinengewehren und schusssicheren Westen ausgestatteten Soldaten kaum wahr. Und den Kaffee kaufe ich mir wie selbstverständlich hinter den Sicherheitskontrollen am Gate, weil jeder doch weiß, dass die Attentate vorn in den Abflughallen passieren.