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Zerstören können wir uns nur selbst

 

Der Terror wollte die Stadt ins Herz treffen. Geht man heute durch Paris, spürt man aber eines: den Willen, sich das eigene Lebensgefühl nicht nehmen zu lassen.

© Bertrand Guay/Getty Images
© Bertrand Guay/Getty Images

Paris und Umgebung im Frühjahr: Das dritte Jahr in Folge darf ich es nun erleben, für jeweils zehn Tage, der Anlass sind Schreibworkshops im Deutschunterricht an hiesigen Schulen. Es handelt sich also um Reisen von der Art, die mir am liebsten ist – weil ich nicht nur als Tourist unterwegs bin, sondern mir einbilden kann, zumindest für die kurze Dauer fast ein Teil des normalen Lebens hier zu sein. Ich fahre an die collèges und lycées, mit Metro und RER wie ein Berufspendler, bei schönem Wetter auch mit einem Vélib’-Fahrrad; ich bin in den Klassen und unterrichte; eine Freundin überlässt mir, solange ich hier bin, ihre winzige Wohnung im 20. Arrondissement. In der Stadt, in der die Ausflugsschiffe auf der Seine schon heute Catherine Deneuve heißen.

2014 fiel meine Parisreise in eine relativ unbeschwerte Zeit. 2015 lagen die Anschläge auf Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt nur wenige Wochen zurück. Und jetzt, 2016, lasten die Morde vom letzten November und die Morde von Brüssel – verbunden mit weiteren Attentatsplänen gegen Paris – auf der Stadt. Sie lässt es sich wenig anmerken. Sie ist so hektisch und lässig, so blasiert und höflich, so vergnügungssüchtig und vergeistigt wie immer.

Zu sagen, ihr Schönheitswille sei ungebrochen, wäre irreführend. Denn er ist nichts, was sich brechen ließe. Attentate können hier wie überall den Menschen unendliches Leid zufügen. Aber gegen den Schönheitswillen können sie nichts ausrichten. Er ist derart verinnerlicht, er hat die Erscheinung dieser Stadt und das Leben in ihr so tief geprägt, dass man, um ihn auszuschalten, Paris physisch weitgehend vernichten müsste. Er ist architektonisch verordnet, er hat sich festgesetzt in den Interieurs und Exterieurs, er nistet selbst in der gewerblichen Struktur der Stadt, mit ihren engen, fast zwangsläufig anmutigen Läden und Lokalen.

Hier zu leben ist beschwerlich für die meisten und prekär für viel zu viele. Und ein großer Teil dieses Lebens ist in seiner Sichtbarkeit auch noch halb gelogen, weil nur Tagleben; längst ist ja in Paris zu wohnen so unmäßig teuer, dass viele seiner Menschen in die Vororte ausgewichen sind und nur noch zur Arbeit oder zum Spaß hereinkommen. Sie pendeln, und wenn sie darüber reden, schimpfen sie, oder sie winken ab. Selbst Freunde, die seit Jahren beteuern, sie würden demnächst in den Süden ziehen oder ins Ausland gehen, haben es bisher nur nach Montreuil geschafft. Zumeist überwiegt oder überstrahlt die Teilhabe an der Schönheit doch die Unbill.

Das gilt auch für die „Migranten“, die hier nicht „Migranten“ heißen; es gibt im Französischen kein so gefährlich griffiges, kein so gut zum Abstempeln als Problem geeignetes Wort für jene, die nicht seit Generationen im Land leben oder nicht so aussehen, wie man sich vor Generationen Franzosen vorstellte. Die Einwohner und Tag-Einwohner mit Vorfahren aus dem arabischen Raum, aus Afrika, aus Asien sind fester, unverzichtbarer Bestandteil der Stadt und ihrer Schönheit; ohne sie wäre Paris nicht Paris.

Denn dass die Schönheit beharrlich ist, heißt nicht, dass sie statisch oder antiquarisch wäre. Zwischen dem putzig uniformen Paris der alten Filme und Chansons und dem plurikulturellen, multiethnischen Paris von heute gibt es keinen Bruch, nur diverse Aktualisierungen. All diesen Aktualisierungen ist gemeinsam, dass sie jeweils in der Zeit, der sie angehören, die Existenzweise – oder auch die Idee – „des Westens“ in ihrer am weitesten verfeinerten Form darstellen. Deshalb gelten ja Anschläge auf Paris als symbolisch besonders effektvoll: Sie treffen uns ins Herz, heißt es. Doch das Herz hört nicht auf zu schlagen.

Ein Teil der Pariser Resilienz gegen den Terror, der die Stadt erschüttert, ist Phlegma – gutes Phlegma. Nach dem Terror muss doch weitergelebt werden, und wie soll man weiterleben, wenn nicht ebenso wie bisher? Wenn doch das bisherige Leben hier, bei aller Mühsal und Absurdität, das beste Leben im urbanen Abendland ist, wäre es nicht nur dumm, sondern so gut wie undenkbar, es aus Verzweiflung über die Morde oder aus Angst vor der eigenen Verwundbarkeit aufzugeben.

Selbst die mehr oder weniger hilflos verschärften Sicherheitsvorkehrungen können charmant sein. Bei der Einreise am Flughafen Roissy ist Schengen aufgehoben, alle Passagiere müssen wieder ihre Pässe zeigen. Als er meinen Personalausweis sieht, grinst der Beamte aus der Kontrollkabine: „Willkommön in Frankreisch.“

Jetzt habe ich mich entblößt, nicht wahr? Ich kann nur deshalb so optimistisch/positiv/verklärend über Paris sprechen, weil ich selbst weiß bin (obendrein Deutscher, sprich: mit dem Komplex belastet, mir angesichts der hier selbstverständlichen Eleganz wie ein kulturloser Trampel vorzukommen und das irgendwie wiedergutmachen zu wollen) und weil ich „unverdächtig“ aussehe. Oder?

Wahrscheinlich ja. (Bis auf den Komplex, den habe ich nicht; die Eleganz ist mir Ansporn und Labsal, aber kein Stachel im Fleisch). Vielleicht könnte man ein ganz anderes, düsteres Parisbild malen, ließe man hier dieser Tage junge Araber oder Schwarze von ihren Erfahrungen berichten. Andererseits habe ich mit solchen Jugendlichen gerade fast täglich zu tun, bei meinen Ateliers d’écriture in der Stadt und in den Banlieues. Ich komme gleich darauf zurück.

Das Monument auf der Place de la République ist seit den Attentaten vom Januar 2015 Gedenkstätte für die Terroropfer. Kränze, Blumen, Kerzen, Flaggen und schriftliche Trauernoten in mannigfacher Form werden hier niedergelegt. „Nous sommes la République“ und „Nous sommes la Liberté“ sind als Überschriften angebracht über den Blättern mit den Namen aller Opfer der Morde vom 13. November. Hier bekundet die Welt ihre Solidarität mit dieser Stadt, vor allem aber das Frankreich von heute: das Frankreich, in dem das Miteinander der Kulturen keineswegs rundum gescheitert ist; das Frankreich, dessen Muslime die Anschläge ebenso entsetzt verurteilen wie seine Christen, Juden oder Atheisten.

Auf derselben Place de la République versammelt sich jeden Abend eine Menschenmenge, um gegen die neuen Arbeitsgesetze zu demonstrieren. Denn nach wie vor wird Frankreich erstaunlich schlecht regiert. Und noch erstaunlicher ist, dass das politische Establishment (das hier ja leider kein neurechter Kampfbegriff ist, sondern traurige Realität) völlig zu verdrängen scheint, was der Republik bei den Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr droht. Marine Le Pen und ihr Front National werden behandelt wie ein Trupp Trolle, dessen Grölen zwar unüberhörbar, deshalb aber noch lange keiner ernsthaften Erwiderung wert ist. Bloß: Auf diese Weise wird man den Scharen verblendeter Wähler/innen, die diesen Trollen glauben wollen, sicher nicht die Augen öffnen.

Wie sagt ein Bekannter hier: „Die Terroristen können uns nicht zerstören. Das können wir nur selbst.“

Auf dem Lehrertisch im Klassenraum des lycée in der Vorstadt Villepinte liegt ein kurzer Aufsatz, den ein Mädchen mit arabischem Namen verfasst hat. C’est quoi, le terrorisme?, lautet der Titel. In kringeliger Handschrift und unaufgeregt überzeugtem Ton erklärt die Schülerin, dass der Terrorismus nichts Neues ist und dass Terror, der sich gegen die Bevölkerung richtet, nie etwas anderes sein kann als feiger, widerlicher Mord.

So spricht das Paris, das ich in diesen Tagen erlebe. Das bunte, das bedrohte, das unzerbrechliche, das verwundete, das leichtfertige, das vorbildliche Paris. Vielleicht muss ich nächstes Frühjahr den Glauben verlieren; falls Le Pen tatsächlich Präsidentin wird. Bis dahin aber bleibe ich überzeugt, dass Paris standhält. Und dass Frankreich zumindest nicht das große Übel wählen wird.

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