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Da schwappt der Zellcode

 

Klassikerverehrung kann man belächeln. Oder beim Übersetzen entdecken, dass William Shakespeare, der vor 400 Jahren starb, über Klonen und Speichermedien schrieb.

© Leon Neal/Getty Images
© Leon Neal/Getty Images

Shakespeare everywhere – in Englands Buchläden liegen sie auf Tischen aus, die x neuen Ausgaben seiner Werke für Erwachsene, Kinder, Jugendliche, umgeben von Barden-Tassen und Barden-Geschirrtüchern, begleitet von Ausstellungen, Festivals, Aufführungen. Ein Sommer voller Shakespearedramen, Shakespeareliedern erwartet uns. 400. Todestag, denkt man, hat man ihn also wieder hervorgekramt, den Elisabethaner, betreibt Klassikerverehrung und etwas nationale Selbstversicherung gleich dazu?

Shakespeare auf dem Podest? Dieser Will? Nein, das ist es nicht. Kanonpflege et cetera schwingen mit, doch treffen es nicht. Shakespeare ist hier, so meine englischen Erfahrungen, immer lebendig. Verehrt wird er ebenfalls, aber anders, als ich Derartiges aus Deutschland kenne – mit Patina, einer Ausstellung vielleicht, eher krampfhaft gesuchten Bezügen in unsere Zeit. Oder gleich als Kleinakt im lokalen Dichterhaus, Jause danach, überaltertes Publikum, letztes Aufgebot Bildungsbürgertum.

Shakespeare ist ein Stück englische Sprache. Die Luther’sche Bibelübersetzung der Briten, nur ohne Religion. In 37 Dramen tragisch, komisch, traurig, immer nuancenreich und von Sprachwitz erfüllt, poetisch, nachdenklich oder grotesk aufführbar mit Blut und Tränen, Selbstironie und Witz.

Klassikerverehrung ist eine extrem nationale Angelegenheit. Hier verfährt man mit einer Prise englischer Lässigkeit, die ein Klischee ist, ich weiß, aber manchmal eben doch wirksam. Beweis: ein angesehener Shakespeare-actor, eine eigene Kategorie auf der Insel, also jemand, der die kräftige, metrisierte, durchaus schwierige Sprache Shakespeares durch Mund und Körper zu bewegen versteht, wechselt ins Fernsehkomödienfach. Darüber spricht man von keiner der Seiten herablassend, sondern mit Anerkennung. Beides ist wichtig, gut – und hat selbstverständlich miteinander zu tun.

Darüber rede ich eigentlich: von Präsenz? Ja. Ich rauche „Verehrung“ durch die Pfeife und sehe die Texte an. Und die Überraschung bei den guten, egal aus wessen Feder sie stammen: nicht ihr historisches Gewand, nicht die heute anschließbaren Fragen nach Relevanz und Aktualität, und schon gar nicht der Anlass irgendeines Jahrestages. Die Überraschung heißt immer: Kraft. Dass man es spürt, dieses Sagenwollen und Sagenkönnen, die Lebensenergie, Lust und Verzweiflung, Erfindungskraft und Plastizität der Vorstellung. Im Augenblick ergeht es mir, zu meiner eigenen Überraschung, so mit Schillers Kabale und Liebe, diesem Stück, das fast ertrinkt in seinem Pathos und einer historischen Konstellation, die sich überholt hat. Und doch eben dies ist: kraftvoll. An einigen Stellen großartig. Und es geht mir so mit Thomas Manns Buddenbrooks, diesem merklichen Erstlingswerk, in dem Mann ganze Passagen aus Familienbriefen übernimmt, den Stoff aus der Familiengeschichte zieht und sich selbst über alle Figuren verteilt. Pointen werden brav an die Kapitelenden gesetzt, Samuel Fischer, Manns Verleger, schlägt vor, das Werk um die Hälfte zu kürzen und hat recht. Aber: man liest sich fest. Eine Welt erscheint. Die Kraft: der Ton, der einmalige, aber teilbare Blick auf die Welt.

Allein darum lohnt sich das Lesen und Hören hergebrachter Texte. Da sind sie nicht alt, da fliegt der Funke. Shakespeares Dramen reißen die Zeit ein. Die ersten zehn Minuten stolpert man ständig über die Ungewöhnlichkeit der Sprache und Werte. Dann spricht Henrich V. über Tennisbälle (toll: Kenneth Branagh, bei YouTube anzusehen). „Balls“ ist im Englischen schön doppeldeutig; ebensolch eine Botschaft schickt der englische König dem französischen Dauphin und redet sich, im Formulieren, hinein in eine herrliche Ökonomie der Beleidigung, gepaart mit Eleganz. Das verehre ich nicht – daran kann ich mich freuen, darüber lachen und es anwenden – oh Verzeihung, das würde man natürlich nie tun, schon gar nicht hier auf Wills so munter durch die Zeiten schleudernder Insel.

Kraft und Vitalität der Texte bedeutet auch, dass sie sich ihren eigenen Weg in die Gegenwart suchen. Sprich: die Formen dessen, wie man sie brauchen will, lassen sich am besten aus ihnen selbst heraus erfinden. Das erste Mal passierte mir dies tatsächlich mit Shakespeare. Als 1999 alle Welt vom Klonen sprach, weil Dolly, das Lamm, eifrig mit den vier kopierten Hufen an seinen vier kopierten Lammbeinchen gegen die Wände seines original hochtechnischen Stalles trat, las ich zufällig das erste seiner Sonette und starrte erstaunt auf die Verse: der Barde (!) sprach von diesem Lamm und den Vorgängen seiner technischen Reproduktion. Alle Fragen zum Menschen im Anthropark: Da waren sie gestellt, eindringlich und träumerisch, knapp und denkerisch, scherzend und bitterernst. Ich fing an, die Sonette unter dem Aspekt des Klonens zu übersetzen und spürte das innere Feuer der Texte, ihr Fragen nach den Bedingungen unserer irdischen Existenz.

Sie handeln, manisch, besessen und direkt, von Liebe und Zeugung. Angesprochen wird ein Mann – von einem Mann; angesprochen wird eine Frau; angesprochen werden eine Frau und ein Mann, von einem Mann mit scharfem Vergänglichkeitsbewusstsein, der sich Möglichkeiten des Weiterlebens erdenkt und erschreibt. In meiner Radikalübersetzung mutieren diese Gedichte daher in wechselnder Folge in Reden an einen Klon, Reden des Klons zurück, in Reden von Klonen in einer geklonten Welt. Das A und O: das Sprachverfahren selbst. Die Übertragung nimmt Shakespeares Worte bei der Wurzel, der ein oder anderen sekundären Bedeutung, schleift den Reim und die Form (sie bleiben stehen, tragen aber Kopierfehler) und passt alle erwähnten Speicherverfahren an die heutige Welt an. So übersetzt sich der Traum vom Überleben, dem Shakespeares Sonette so obsessiv wie wunderbar Gestalt geben. Aus den letzten Versen des fünften Sonettes:

But flowers distill’d, though they with winter meet,

Leese but their show; their substance still lives sweet

wird:

„aber blumenartiges, extrahiert, in den winter geschoben

schwappt als zellcode, milchiger saft, die zukunft ans glas.“

Und das Ende des Folgesonettes:

Be not self-will’d, for thou art much too fair

To be Death’s conquest and make worms thine heir!“

warnt zu Beginn des 21. Jahrhunderts:

„sei nicht so einzel-willig, denn du bist viel zu belichtet

um nur wurmresistente silikonschalen zu deinen erben zu machen.“

Sprache schaut in alle Richtungen zugleich. Sie tat es schon vor 400 Jahren. Wir schauen ihr hinterher. Und sehen darin, was wir schon kannten: uns selbst. Doch so, wie wir uns nicht kannten. Vielleicht ist auch die Sprache unser Klon? Aus unseren Möglichkeiten gezeugt und uns, als Reales unserer Möglichkeiten, immer voraus. Etwas, was auf uns zurückschaut und mit uns Bäumchen, wechsle Dich spielt.

Verehrung? Oh ja. Aber durch die andere Tür. Einmal, um mit Heinrich von Kleist zu sprechen, um den Kreis des Theaters, der Weltenbühne, geführt: Ich fand Klarblick und Gedankenbrillanz, Schönheit der Sprache, Präzision, leicht und inhaltsvoll in einem – und etwas wie Verehrung begann sich im Brustkasten zu regen.

Als schiere Freude. Ich sitze in einem Collegegarten, Studenten sterben die gesammelten Theatertode des Hamlet, Desdemonas Taschentuch fällt, Puck fliegt durch eine Dornenhecke hinaus auf den nächsten See.

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