Pegida-Märsche und AfD-Gestänker verderben vielen die Lust am Party-Patriotismus zur EM. Die Rechten haben sich die Deutungshoheit über das Nationalgefühl zurückerobert.
Vor zwei Jahren um diese Zeit konnte man sich vor Schwarz-Rot-Gold kaum retten. Von Flutschfinger bis Fliegenklatsche trug alles die deutschen Farben. Sie nisteten als Schminkset im Deckel des Nutellaglases, umschmiegten eine Traumkombination von Putzmitteln im praktischen Wischeimer und lagen als Wimpel jeder zweiten Zeitschrift bei. Denn die WM in Brasilien stand an, und seit dem „Sommermärchen“ von 2006 galt es als deutscher Brauch, zu den internationalen Fußballturnieren massenhaft Flagge zu zeigen.
Ich publizierte vor zwei Jahren um diese Zeit ein Essaybüchlein mit dem Titel Das Spiel mit Schwarz-Rot-Gold. Darin schlug ich, aus einer skeptisch linken Perspektive, eine vorsichtig optimistische Lesart des neuen Rituals vor. Schließlich erfasste das Flaggenfieber zum Fußballfest gleichermaßen „Bindestrich-Deutsche“ wie „Bio-Deutsche“; und NPDlern ging es gegen den Strich, weil ihnen die von Jürgen Klinsmann und Jogi Löw umgebaute Nationalmannschaft zu bunt war.
So bestand die Hoffnung, dass diese Freude an der Fahne ein Deutschlandgefühl befördern würde, das nicht mehr auf Blut und Boden setzte. Kein ausschließender, ressentimentgeladener Nationalismus, stattdessen ein integratives Wir. Schwarz-Rot-Gold als Bekenntnis zur Vielfalt, als Symbol einer offenen Gesellschaft, als Zeichen der Gemeinsamkeit von Eingesessenen und Einwanderern: Aus der Party-Nation „Schland“, in die sich weite Teile der Republik für die Dauer der Turniere verwandelten, schien ein künftiges, freundlicheres deutsches Selbstverständnis hervorgehen zu können.
Was ist von der Hoffnung heute noch übrig? Dieser Text soll kein Ort des Jammers sein; ich finde, einiges ist von der Hoffnung übrig. Aber das lässt sich nicht mehr gut in Schwarz-Rot-Gold ausdrücken. Allzu penetrant ist mit den Pegida-Aufmärschen das alte, das bedrohliche Bild vom Flagge tragenden Deutschen zurückgekehrt.
Herumpropieren mit flaggenfreudiger Identität
Schon 2014 nahm das Fieber einen seltsamen Verlauf. So allgegenwärtig die deutschen Farben kurz vor der WM waren, so schnell verschwanden sie wieder. Zwei Wochen nach Turnierbeginn war eilig umgeräumt worden, und die Supermarktsortimente sahen nicht viel anders aus als in den Junis der ungeraden Jahre. Die Kommerzmasche – jetzt ist Schland, jetzt brauchst du alles in Schwarz-Rot-Gold – verfing nicht, die Lust an der Fahne erlahmte. Es fuhren weit weniger bewimpelte Autos herum als bei jeder Welt- oder Europameisterschaft seit 2006; große Flaggenmengen gab es nur noch auf den Fanmeilen zu sehen. Und selbst in der Nacht, als die deutsche Mannschaft mit Mario Götzes legendärem Jokertor Weltmeister geworden war, wurde in den Straßen zwar gehupt und gejubelt, aber eher selten die Fahne geschwenkt. Drei Tage später war Schland komplett abgeflaggt.
Warum dieser Rückgang der Schwarz-Rot-Gold-Euphorie, der vor allem den Einzelhandel unerwartet traf? War sie doch weniger nachhaltig, als alle gedacht hatten? Bloß eine Mode, die vorüberging, ein flüchtiges Herumprobieren mit einer flaggenfreudigen Identität, wie sie in vielen anderen Teilen der Welt ja „normal“ ist?
Zumindest zeitlich besteht hier ein enger Zusammenhang mit dem Erstarken einer „neuen Rechten“ im Land, deren auffälligste Erscheinungsformen die AfD und Pegida sind. Und ich glaube, nicht nur zeitlich: Diese Rechte hat mit ihrem ranzigen, aggressiven Deutschlandbild vielen den Spaß an der Flagge wieder verdorben.
Mitgebsel an Kindergeburtstagen
Das zeichnete sich 2014 längst ab. Man vergisst ja vor lauter Flüchtlingsdebatte, dass die neue Rechte nicht erst im Protest gegen die Willkommenskultur anschwoll. Vor zwei Jahren stand die AfD gerade vor dem Einzug in die Landtage Sachsens, Thüringens und Brandenburgs und saß bereits im Europaparlament. Die „Montagsmahnwachen“ entpuppten sich als Pegida-Prototyp. Stichwortgeber Thilo Sarrazin hatte seinen Publikationsrhythmus seit 2012 mit den großen Fußballfesten in Einklang gebracht, und neuerdings tobte Akif Pirinçci seine krawallig-chauvinistische Überidentifikation mit dem Land, das seine Katzenbücher mochte, sehr öffentlichkeitswirksam aus.
„Noch ist Schland nicht verloren“ nannte ich einen Artikel, der damals Ende April erschien, wenige Wochen nach Drucklegung meines Büchleins. Die Sorge, dass die neurechten Wüteriche die schwarzrotgoldene Party vermasseln würden, war beträchtlich. Die Party geriet dann ja auch eher mau.
Und heute? Die AfD liegt bundesweit bei 13 Prozent, und aus Verunsicherung darüber drängt es Teile der Union ebenfalls nach rechts außen (wo man, ehe man sichs versieht, den Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung unter den Füßen verlieren kann). Hetzvokabular wie „Lügenpresse“, „Islamisierung“ und „linksversifft“ bimmelt an jeder Straßenecke. Dafür sieht man kurz vor dem Anpfiff zur Europameisterschaft nur vereinzelt deutsche Flaggen. Man kann ganze Einkaufszentren durchstreifen, ohne auf nennenswerte Fanartikel-Ballungen zu stoßen. Und wenn Schwarz-Rot-Gold doch auftaucht, dann am ehesten im Süßwarenregal oder als Mitgebsel beim Kindergeburtstag. Mit Schland scheint nicht mehr viel los zu sein. Die Völkischen haben sich zurückgeholt, was ihnen vor zehn Jahren entglitten war: die faktische Deutungshoheit über das deutsche Nationalgefühl.
Die Paradoxien rund um die Flagge setzen sich dabei fort. Denn auch für viele Neurechte ist Schwarz-Rot-Gold heute das Wahrzeichen eines weltoffenen Deutschlands. Und weil ihnen ebendieses verhasst ist, ziehen sie es vor, etwa bei den Pegida-Aufmärschen die „Wirmer-Flagge“ zu recken (skandinavisches Kreuz in Schwarz-Gelb auf rotem Grund), die sie, gewohnt geschmackssicher, bei der Widerstandsgruppe vom 20. Juli 1944 entwendet haben.
Nationalspielermäßiges Selbstbewusstsein
Diese Verschiebung böte eigentlich die Chance, nun erst recht Schwarz-Rot-Gold als die Farben von Vielfalt und Miteinander einzusetzen, sprich: Schland zur EM mehr denn je zu feiern. Aber dafür ist die Umcodierung der deutschen Farben zu wackelig. Den zehn Jahren Party-Patriotismus – der obendrein ja nie zur Gänze, sondern nur in Teilen ein neues, nicht-ausschließendes Konzept von Zugehörigkeit verkörperte – stehen anderthalb Jahrhunderte entgegen, in denen von beflaggten Deutschen nichts Gutes ausging. Und an diese Tradition knüpft die neue Rechte mühelos an, egal mit welcher Fahne.
„Aber zumindest das Trikot der Nationalmannschaft sollte man diesmal tragen“, schlagen Freunde von mir vor: „Das von Boateng, das von Özil, das von Khedira.“ Gute Idee. Jedenfalls bringt der Fußball, wie es seine Art ist, wieder einiges ans Licht. Wenn die AfD, die sich so gerne als bürgerliche Partei begreift, dieser Tage gegen die deutschen Nationalspieler Jérôme Boateng und Mesut Özil pöbelt, tut sie nichts anderes als vor ihr die NDP. Der Panorama-Beitrag vom Sommer 2010, in dem sich ein NPD-Pressesprecher so miesepetrig wie ungelenk um eine Antwort herumwindet, ob er sich über den Siegtreffer des, wie er sagt, „Plastedeutschen“ Özil im WM-Achtelfinale freue, eignet sich trefflich zum Abgleich mit Alexander Gaulands niederträchtiger Bemerkung über Boateng und mit den Stänkereien der AfD gegen Özils Mekkareise.
Wohin aber im Sommer 2016 mit der Hoffnung, die Schland wecken konnte? Der Fußball hat sich wieder für uns alle schön gemacht: Zwei Jahre nach dem Jogo Bonito in Brasilien (nun ja, fangen wir jetzt nicht mit der FIFA an) beschwört der offizielle EM-Ball für Frankreich das Beau Jeu (fangen wir jetzt nicht mit der UEFA an). Wer bei diesem Turnier „für Deutschland ist“, hält zu einer Mannschaft, bei der neun von 23 Kickern im Kader einen Migrationshintergrund haben. „Wir als Nationalspieler leben das moderne Deutschland wie keine anderen“, sagt Sami Khedira mit nationalspielermäßigem Selbstbewusstsein, und „Wir sind Vielfalt“, beteuert der DFB – während Pegidisten sich über Kinderschokolade ohne Ariernachweis ereifern und man bei der AfD glaubt, es sei undeutsch, wenn sich manche aus der Mannschaft den amerikanischen Brauch, bei der Nationalhymne vor dem Länderspiel mitzusingen, noch immer nicht zueigen machen.
Hoffen wir auf eine mitreißende und friedliche EM. Setzen wir weiter auf die großzügigen Identifikationsangebote, die der Fußball macht. Schwarz-Rot-Gold ist dafür nicht nötig. Ein paar Jahre lang hat sich auch das weltoffene Deutschland empfänglich für Flaggenrituale gezeigt. Gebraucht hat es sie noch nie. Und um der Wiederkehr der völkisch-reaktionären Dominanz beim Fahnenschwenken wirklich etwas entgegenzusetzen, müssten diese Rituale jetzt wenn, dann ganz unbeirrt campy werden; sie müssten den Entspanntheits- und Verspieltheitsgrad von CSD-Paraden erreichen. Das aber wäre doch zu viel verlangt von Schland.
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