Auch wenn man es für ein Klischee hält: Island ist einfach magisch. Grund dafür sind aber nicht die vielbeschworenen Trolle und Elfen. Das Geheimnis steckt woanders.
Ich glaube nicht an Trolle und nicht an Elfen. Es ist wichtig, das an dieser Stelle festzustellen, weil es so viele gab, die mir einen Glaubenswandel prophezeit haben: Wenn du aus Island zurück kommst, wirst du an Trolle und Elfen glauben, dieses Land wird dich verändern, und manche fügten hinzu: „du sowieso, du mit deiner Fantasie“, weil das irgendwie passt: Elfen und Trolle und Schriftsteller. Vielleicht war ich auch deshalb so fest entschlossen: Auf gar keinen Fall an Elfen und Trolle zu glauben, wenn ich zurückkehre von meinem sechswöchigen Aufenthalt in diesem Land als writer in residence. Noch so ein erbärmliches Klischee: Eine Schriftstellerin, die verzweifelt versucht, keinem Klischee über Schriftsteller zu entsprechen.
Einmal ging ich in Reykjavík zu einer Ausstellungseröffnung, sie war einem isländischen, vor vielen Jahrzehnten verstorbenen Dichter gewidmet. Selbstverständlich verstand ich kein Wort von dem, was da an Reden gehalten wurde, also blätterte ich in einer ebenfalls ausgestellten deutschen Übersetzung seiner Gedichte, es ging um diese sagenhafte isländische Natur. Ich langweilte mich sofort, und schielte zum Buffet: Isländische Preise bedenkend (neun Euro für ein Bier, vier Euro für einen Kaffee, 78 Euro für fünf Crepes und zwei Eis), war ich fest entschlossen, hier mein Abendessen einzunehmen, ein bisschen wie damals, als ich Studentin war und aus ideologischen Gründen ein unbezahltes Praktikum bei der taz absolvierte und mich in der der Ideologie geschuldeten Geldnot befindend hauptsächlich von Häppchen bei Pressekonferenzen ernährte.
Isländische Häppchen schmeckten zu meiner Überraschung vorzüglich, stellte ich fest, und mitten in dieser Feststellung meinte ich, ein Gesicht zu erkennen, was einem Wunder glich: Weil ich nicht so viele Isländer kenne. Vigdís Finnbogadóttir, die erste weibliche Präsidentin weltweit, bedeutende Kämpferin für Frauenrechte, stand einen Meter von mir entfernt und nahm ihr Abendessen ebenfalls in Form von Häppchen ein. Sollen wir dich vorstellen, fragten die Damen des Kulturamtes, die ich begleitete, sie sagten das, während sie Wein einschenkten und sich zwischen gefüllter Teigtasche und Lachscanapé entschieden, und die Anwesenheit dieser im wahrsten Sinne des Wortes staatstragenden Dame nahmen sie dabei mit einer – wie ich zuschrieb – isländischen Nonchalance hin. Hier kennt jeder jeden, sagten sie, ein Satz, den ich noch häufig hören sollte, in diesem Land, in dem genauso viele Menschen leben wie in Bielefeld. Die beiden zuckten mit den Schultern, und ich merkte mir das als einen einfachen Satz: Das ist Island.
Einmal fuhr ich nach Akureyri, das ist die zweitgrößte Stadt Islands, das heißt, dass dort 18.000 Einwohner leben, sie liegt im Norden, und im Norden Islands liegt auch im Sommer Schnee. Ich fuhr dorthin, um dort lebende Syrer zu interviewen – kein Witz! – weil ich dieses Bild gesehen hatte, wie im Januar sechs syrische Flüchtlingsfamilien nach Island kamen und am Flughafen von dem damals noch regierenden Premier Sigmundur Davíð Gunnlaugsson persönlich begrüßt wurden, mit Blumenstrauß.
Ich fuhr dahin, um diese eine Frage zu stellen, die ich sonst ungern stelle, aber hier, in diesem Land eben doch: Wie ist es, aus Syrien kommend, in Island? Die Strecke betrug 400 Kilometer, das Navi gab sechs Stunden Fahrtzeit an, weil die Straßen in Island teils aus Schotter bestehen und durch Gegenden führen, die nicht nur nicht besiedelt, sondern noch nicht mal bewandert worden sind. Letzteres fiel mir erst nach zwei Stunden ein, als der Hunger zu bohren begann, und mir klar wurde: Ein Restaurant, ein Café, ein Supermarkt, eine Tankstelle werden mir in den kommenden Stunden möglicherweise nicht begegnen. Was, wenn man hier einen Autounfall baut, was, wenn man sich mitten in diesem endzeitstimmlichen Nirgendwo das Bein bricht, dachte ich, und schob den Gedanken beiseite, ein umstandsbedingtes Denktabu. Und ich merkte mir das genauso: Das ist Island.
Einmal sollte ich in Island lesen, das war mit dem Kulturamt so ausgemacht, und besser wäre es noch, stellten wir zusammen im Vorfeld fest, wenn ich nicht alleine läse, sondern mit einer isländischen Autorin zusammen, eine dieser interkulturellen Begegnungen, Literatur über Grenzen hinweg und so. Das stellten wir bei einem Kaffee fest, bis dann Wochen vergingen, in denen nichts geschah, keine Planung, keine Termine, kein Veranstaltungsort, keine Gesprächspartner, keine Moderation und keine Werbung.
Ich fragte dann lieber nicht nach, weil der deutsche Botschafter in Reykjavík mir das auch so erklärte: So sind die Isländer, spontan und manchmal verplant, und am Ende wird alles funktionieren. Vielleicht. Diesmal funktionierte dann alles, obwohl der Termin zehn, die Gesprächspartnerin sieben, der Ort fünf Tage vorher festgelegt wurden, und wir die isländische Übersetzung meines Textes – ich las den über Syrer in Island – erst am Tag vorher durchgingen. Es war ein gutes, spannendes, notwendiges, Fragen aufwerfendes – und auch gut besuchtes – Gespräch. Ich war bereits ein paar Wochen im Land, und musste mir folgenden Satz nicht mehr sagen: Das ist Island.
Island, mit der nördlichsten Hauptstadt Europas, ist eine Insel, die bekannt ist für Vulkane, die den europäischen Luftraum tagelang lahmlegen können, für Trolle, Elfen und eine Elfenbeauftragte, die überprüft, ob neu geplante Straßen möglicherweise durch Elfensiedlungen führen könnten, für demokratische Aufstände des Volkes – zuletzt nach der Veröffentlichung der Panama Papers – und eine Art Sammelsurium von Rekorden: Laut Studien ist Island das Land mit den glücklichsten Menschen, der größten Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, der geringsten Kindersterblichkeit, der niedrigsten Kriminalitätsrate der Welt und so weiter.
Das hat – nicht zuletzt – auch mit der geographischen Lage, der Abgelegenheit der Insel zu tun: 320.000 Menschen, die auf dem Gebiet von Portugal leben, aber einen Großteil dieser Fläche nicht bewohnen, weil es das Wetter und die Naturbeschaffenheit nicht zulassen, die in einem Land leben, das bis auf Tourismus kaum Einnahmequellen hat, das außer Fischen und Aluminium fast alles importieren muss, aber nicht einfach erreichbar ist, müssen zusammen arbeiten. Sie sind aufeinander angewiesen. Sie kennen einander. Die Frage, ob sie sich gegenseitig mögen, stellen sie seltener als wir, und wenn, dann fällt die Antwort darauf – siehe den Aufschrei, die Aufstände nach der Veröffentlichung der Panama Papers, den blitzschnellen Rücktritt des Premierministers – ungewohnt ehrlich aus.
Vielleicht funktionieren Prozesse besser, ist die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Menschen effektiver, wenn man auf diese angewiesen ist. Vielleicht ist Vertrauen und sich daraus generierende Zusammenarbeit einfacher herzustellen, wenn man Ministerpräsidenten und -präsidentinnen in Bibliotheken oder Kneipen begegnet, wenn jeder jeden kennt (als Gegensatz zu: bestimmte Milieus, bestimmte Milieus), wenn die Begegnung eine unmittelbare ist.
Vor ein paar Jahren wurde Reykjavík eine Zeit lang von einer Künstlerpartei regiert, deren Vorsitzender ein Komiker war. Die Menschen wählten sie, weil sie an die Kraft der Kreativität, an die Kraft von Ideen, aber auch an die Kraft von Menschen glaubten, nicht an Trolle und Elfen. Das ist Island.
Ich bin aus Island zurückgekommen und habe mich an mein Vorhaben gehalten: Nein, ich glaube nicht wirklich, dass die imposanten, schwarzen Felsen auf der Insel versteinerte Trolle sind. Aber ich habe mich an einen Glauben erinnert, der mitten in Europa – in einem Europa, in dem Kulturen, Regierungen, Religionen, politische Überzeugungen und Menschen gegeneinander kämpfen – verloren geht, auch verloren gehen soll, weil er als naiv abgetan wird: Den Glauben an das ehrliche Zusammenleben von Menschen.
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