Unter Putin gelangt Stalin zu immer neuen Ehren. Vorbehaltlos wird er sogar im Museum gefeiert. Warum verschreibt das heutige Russland sich wieder diesem Mann?
Im Dezember 2015 eröffnete im russischen Pensa ein Stalinzentrum. Das Zentrum sollte, so die frappierende Erklärung der Gründer, „Praktiken aus der Stalinzeit popularisieren und aktualisieren, die heute noch aktuell sind“. Bereits im September 2015 wurde in der Siedlung Schelanger (Republik Mari El) ein überlebensgroßes Stalinstandbild enthüllt. Russische Kommunisten erklärten, das Interesse an der Person des ambivalenten Herrschers habe seit dem Rückgang der Industrieproduktion und der Verhängung der westlichen Sanktionen zugenommen.
Für meine Begriffe wurzelt die Begeisterung für Stalin, Stalinkunst und Stalinzeit jedoch deutlich tiefer, sie speist sich aus dem Vakuum in der postsowjetischen Bilderwelt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kultur die Politik bestimmt, nicht umgekehrt.
Gleich zwei Ausstellungen, die im vergangenen halben Jahr in Moskau zu sehen waren, avancierten zu regelrechten Stalinoden: Romantischer Realismus in der Manege mit langen Besucherschlangen und Werbespots in Fernsehen und U-Bahn, sowie Alexander Gerassimow. Zum 135. Geburtstag des Künstlers. Gerassimow, Stalins persönlicher Porträtist, fiel nach dem Tod seines Patrons in Ungnade. Die große Ausstellung im Staatlichen Historischen Museum kam seiner symbolischen Rehabilitierung gleich. Während unter Gorbatschow rehabilitiert wurde, wer unter Stalin gelitten hatte, sind jetzt diejenigen an der Reihe, die für ihn gelitten haben. Und mit der genialischen Paraphrase „Romantischer Realismus“ wird das Sozialistische durch sein Gegenteil ersetzt und die Kunst der Jahre 1925-1945 als etwas wunderbar Erhabenes umgedeutet.
Beide oben genannten Ausstellungen unterscheiden sich in der Behandlung von Stalinthema und Stalinkunst grundsätzlich von vorherigen Schauen.
Erinnert sei an die konzeptionell angelegte Ausstellung Traumfabrik Kommunismus in der Frankfurter Kunsthalle Schirn 2003/04, mit der Kurator Boris Groys seine Theorie illustrierte, nach der der Sozialistische Realismus die logische Fortsetzung der sowjetischen Avantgarde gewesen sei. Erinnert sei weiter an die Moskauer Schau Arbeiter und Kolchosbäuerinnen 2012/13, eine kommerzielle Aneignung der Vergangenheit, eine Narration über deren Absonderlichkeiten.
Weder der Romantische Realismus noch die Gerassimow-Retrospektive lassen sich hier einordnen.
Keine Spur von liberalem, kritischem Konzeptualismus oder einer vergleichenden Positionierung nach dem Motto „Wer wir waren, wer wir sind“, die die allgegenwärtigen Ikonen der Stalinzeit zu bloßen Pin-ups degradiert. Weder Stalin noch die Künstler, die ihn kanonisierten, werden in Begleittexten kritisch hinterfragt oder auch nur reflektiert. Ein wie auch immer geartetes Verhältnis zu Stalin existiert grundsätzlich nicht. Da kommen einem automatisch wieder die Kommunisten von Mari El mit ihrer Aussage zu Sanktionen und Wirtschaftskrise in den Sinn.
Und doch: Mir scheint, die Massen sind nicht in die Manege geströmt, um dort ihr Verhältnis zu Stalin zu klären. Sie wollten Bilder aus seiner Zeit betrachten, um sich in ihnen zu spiegeln. Wer hingerissen vor Juri Pimenows Frau in einer Hängematte steht, fragt nicht danach, wie viele Menschen im Gulag umgekommen sind. Denn die Frau in einer Hängematte und weitere geniale Werke der sowjetischen 1930er bis 1950er Jahre strahlen eine innere Ruhe und ein Zukunftsvertrauen aus, von dem die Leute inmitten ihrer heutigen postsowjetischen Realität nur träumen können.
Noch ein wichtiger Hinweis: In Russland (ebenso in Belarus, der Ukraine, Moldau und alle anderen Splittern des ehemaligen Stalinimperiums) sucht man heute vergeblich nach den Idealen, die Alexander Dejneka oder Alexander Samochwalow einst priesen. Nach den Helden oder den Werten jener Zeit freilich ebenfalls. In seinem Buch Political economy of socialist realism stellt Jewgeni Dobrenko fest, dass der Verherrlichung der Arbeit in der Ästhetik des Sozialistischen Realismus eine besondere Rolle zukommt. So wendeten die Menschen in den Filmen Iwan Pyrjews ihre Arbeitskraft für so ausgefallene Ziele wie Ruhm oder das Herz der Geliebten auf. Heute wird in Russland, wie überall auf der Welt, gearbeitet, um Geld zu verdienen. Ein Büroangestellter, der die Planzahlen toppen will, um der hübschen Mascha aus der Nachbarabteilung zu gefallen, wirkt genauso schräg wie ein Komsomolze, der mit einem Millionenverdienst die Bestarbeiterin zu beeindrucken sucht.
Und obwohl Alexander Dejneka seine drei prächtigen Grazien in der Ode an den Frühling im Moment ihrer Entstehung mit Gedanken, Träumen und Motivationen ausgestattet hat, die sich grundsätzlich von den Gedanken, Träumen und Motivationen moderner Russinnen unterscheiden, erkennen diese in den Grazien ein leicht vervollkommnetes Bild ihrer selbst.
Das ist ja auch nicht verwunderlich. Jewgeni Dobrenko bezeichnet den Sozialistischen Realismus als „Kunst, die eine Mimesis simuliert“. Ein Musterbeispiel für diese Simulation liefert Gerassimows Hymne an den Oktober, für das der Maestro seinen zweiten Stalinpreis bekam. Das Monumentalbild zeigt ein detailliertes Panorama der Festsitzung der Moskauer Arbeiterschaft anlässlich des 25. Jahrestags der Oktoberrevolution am 6. November 1942. Eine Veranstaltung, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat. Die Darstellung ersetzt die Realität, wird „realer als die Realität“, sodass man dieser Darstellung glauben möchte und darüber vergessen, dass die Versammlung wegen des Krieges abgesagt wurde.
Die Malerei hat die besondere Gabe, uns unsere Umwelt mit einer Eindringlichkeit und Schönheit vor Augen zu führen, die den dargestellten Objekten häufig genug abgeht.
Und Putins Russland sieht sich nun vor der großen Schwierigkeit, über eine Art Personenkult und ein autoritäres Regime zu verfügen, ohne auch nur in Ansätzen eine Grande manière etabliert zu haben, die dem Sozialistischen Realismus der Stalinzeit entspräche. Welcher zeitgenössische Künstler hätte Ikonen des offiziellen Russlands geschaffen wie seinerzeit Gerassimow? Dmitri Wrubel mit seinen Kalenderbildern zu zwölf verschiedenen Gemütszuständen Wladimir Putins wohl kaum. Ungeachtet seiner Nähe zu den Eliten und der Abgeordneten, die zu seiner Ausstellungseröffnung kamen, handelt es sich bei Wrubels Arbeiten um ein postmodernes Projekt, das den „großen Stil“ ergänzen und in Dialog mit ihm treten kann, wie damals die Leningrader Schule für Landschaftsmalerei mit dem Sozialistischen Realismus.
Aber einen „großen Stil“ gibt es in der russischen Malerei heute nicht.
Die offizielle Kunst, die Moskau verbreitet, ist ein Mittelding aus Nikita-Michalkow-Filmen über elegante Leutnants am Zarenhof und Dmitri-Kisseljow-Sendungen über die Verkommenheit des Westens.
War die russische Kultur unter Stalin noch ein Mix aus Kunst und Propaganda, ist sie heute Propaganda ohne Kunst.
Jewgeni Dobrenko befindet, der Sozialistische Realismus habe keine Artefakte geschaffen, sondern den Sozialismus, die sowjetische Realität als solche. Und der Putinismus reproduziert in Ermangelung eines eigenen großen Stils den Sozialistischen Realismus. Nur leben die russischen Bürger, die sich an marschierenden Vertretern der Arbeiterklasse auf dem sonnenüberglänzten sowjetischen Pflaster sattsehen müssen (anstatt an Erdölarbeitern, Brokern und Programmierern – den Helden der neuen Zeit), längst im Kapitalismus.
Folgt man der Maxime, dass die Kultur die Politik bestimmt, gilt es, auch die russlandspezifischen Strukturen neu in den Blick zu nehmen. Mit der Verehrung der Götter Dejnekas, Gerassimows oder Isaak Brodskis wird dem russischen Kapitalismus der Tüllschleier des Sozialismus übergeworfen. Vielleicht sogar mit der Intention, hinter diesem lichtdurchfluteten Vorhang die Tatsache zu verschleiern, dass Arbeiter, Kolchosbäuerinnen, Melkerinnen, Geologen, Ingenieure, Verkäuferinnen, Tankstellenangestellte und Studentinnen in Russland längst nicht mehr zur Elite gehören, ja sogar ihre Rolle als Figuren im großen kulturellen Narrativ eingebüßt haben. Der Kapitalismus mit sozialistischem Antlitz ist ein hochinteressanter Mutant. Mit bescheidener Lebenserwartung.
Dürfen wir darauf hoffen, dass Putin und der Kapitalismus russischer Prägung eines Tages ihre eigene Bildsprache, ihren „großen Stil“ hervorbringen? Stalin benötigte dafür drei Jahre, während das neue Zeitalter schon seit Jelzins Abgang 1999 andauert. Ohne eigene Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, ohne ein „neues Empire“ in der bildenden Kunst drohen selbst markante politische Eingriffe wie Kriege oder Grenzverschiebungen so unbestimmt im Äther der Geschichte herumzuwabern wie die 1970er Jahre der UdSSR.
Macht ist am Ende nicht mehr als die Sprache, mit der sie sich zum Ausdruck bringt.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
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