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Mit der Unsicherheit leben

 

Nach den Anschlägen von Nizza ist klar: Ein sicheres Europa ist Vergangenheit. Polizei- oder Militärpräsenz ändern daran nichts. Was wir ändern müssen, ist unser Denken.

© REUTERS/Eric Gaillard
© Reuters/Eric Gaillard

Eigentlich wollte ich einen Text über Brüssel schreiben und wie es sich so anfühlt in Brüssel zu sein, nachdem Brüssel passiert ist. Ich schrieb also diesen Text. Ich schrieb von meiner Ankunft am Flughafen. Ich schrieb vom Militär und der nicht mehr existierenden Empfangshalle. Breit gebaute, schwer bewaffnete Soldaten standen dort, anstelle der mit Luftballons und Namensschildern ausgestatteten Wartenden. Keine aufgeregten und fröhlichen Gesichter, nur grimmige Minen. Ich schrieb von den Panzern, die vor den Flughäfen und Bahnhöfen in Belgien stehen. Davon, dass an jeder noch so unwichtigen Ecke plötzliche eine Gruppe mit Soldaten auftaucht, man aber nie weiß, was sie dort eigentlich verhindern sollen.

Denn die Eingänge dieser Bahnhöfe und Flughäfen und Shoppingmalls sind ungesichert. Jeder kann rein. Jeder kann raus. Ich schrieb, so sieht also die Sicherstellung von Sicherheit in Europa aus, wenn die Sicherheit gefährdet ist. Man lässt Soldaten patrouillieren oder stellt Panzer vor Shoppingmalls und Bahnhöfe, man hängt ihnen Maschinengewehre und lauter anderes Zeug um, man lässt alles nach Sicherheit aussehen, ohne Sicherheit zu schaffen. Militarisierung als Maskerade, nannte ich das in meinem Text. Diesen Text schickte ich am Abend des 14. Juli ab.

Am nächsten Morgen las ich nur noch: Nizza. Die Redakteurin schrieb mir, danke für den Text, aber jetzt ist ja Nizza passiert. Der Text kann ohne Nizza so nicht stehen bleiben. Also entwickelte ich einen neuen Text in meinem Kopf. Ich erinnerte mich an mein erstes Mal Nizza. Es war 1991. Meine Mutter und ihr Partner hatten einen Wohnwagen gemietet, um damit die Côte d’Azur hoch- und wieder runterzufahren. Kurz davor war ich mit meinem Vater nach Israel gereist. Es war die Zeit der Ersten Intifada. Es war die Zeit der Gasmasken und der Angst vor einem Giftgasanschlag. Wir besuchten für drei Wochen meine Familie und ich lernte nicht nur, zwei Liter Wasser am Tag zu trinken, Hummus zu essen, die Hitze auszuhalten, sondern vor allem, was es heißt, überall auf der Straße Soldaten zu sehen. Soldaten mit großen Maschinengewehren auf dem Rücken. Soldaten mit Maschinengewehren, die Uniform trugen, und Soldaten in kurzen Hosen und grellen Neunzigerjahre-T-Shirts. Denn die Soldaten, die man in Israel damals sah und auch noch heute auf der Straße sieht, sind Frauen und Männer zwischen 18 und 21 Jahren, die ihren Wehrdienst absolvieren. Ihre Waffen dürfen sie in dieser Zeit nicht aus den Händen geben. Sie patrouillieren nicht so, wie man es heute in Belgien sieht. Das müssen sie auch nicht, weil die Eingänge von Bahnhöfen, Flughäfen und Shoppingmalls alle gesichert sind.

Eine Woche fuhren wir durch ganz Israel. Eine Woche lagen wir am Strand. Und was wir in der dritten Woche machten, erinnere ich nicht mehr. Ich war braun gebrannt, als ich aus dem Wohnwagen in Nizza stieg. Wir parkten an der Strandpromenade. An jener Promenade, an der vor wenigen Tagen 84 Menschen starben. Damals war Frankreich sicher und Menschen, die nach Israel reisten, beschrieb man als lebensmüde. Komisch, wie sich die Welt in 25 Jahren verändern kann. Rapide.

Diskussionsrunden von Staatschefs

Über zwanzig Jahre dauerte es, bis ich wieder die Côte d’Azur besuchen würde. Im Sommer 2013 nämlich. Ich stieg mit meiner guten Freundin Sunny in den easyJet-Flieger. Sie hatte einen Wohnungsswap über Craigslist organisiert. Am Flughafen holten wir den Mietwagen ab und fuhren in unser Apartment. Wir schmissen die Koffer in die Ecken, zogen uns unsere Bikinis über, packten schnell ein paar Sachen in unsere Taschen und jagten sofort zur Strandpromenade. Ich dachte an 1991. Ich dachte daran, wie ich braun gebrannt aus Israel über den steinigen Strand Nizzas sprang. Heiß waren die Steine. Sie verbrannten einem die Fußsohlen. Wie Sunny zog ich meine Schuhe aus, nahm sie in die Hand und fragte mich, ob auch diesmal meine Füße wehtun würden, ob der aufgeheizten Steine. Und das taten sie.

Sunny und ich schmuggelten uns in eine dieser VIP-Strandbars, wo man für eine Liege und einen Tisch 25 Euro zahlen muss. Wir breiteten unsere bunten Strandtücher aus, legten unsere Bikinioberteile auf den Tisch und bestellten einen Cocktail mit Schirmchen und Moules-frites. Also das inoffizielle Nationalgericht Frankreichs: Muscheln und Pommes.

Drei Jahre ist das jetzt her. Auch damals war Frankreich noch sicher und Israel galt als Freifahrtschein ins Grab, neben der Vorstellung, dass Tel Aviv super zum Feiern wäre. Heute ist alles anders. Heute versuchen die Menschen mit sehr viel Erklärungswucht den Terror in Israel weiterhin als Freiheitskampf abzutun und den Terror in Europa vom Islam zu trennen, damit man nicht den rechten Parteien in die Hände spielt. Es wird nach Lösungen gerufen. Den Terror an der Wurzel bekämpfen, gut gebaute Männer mit Maschinengewehren durch die Straßen laufen lassen, Diskussionsrunden mit Staatschefs über die Sicherheitslage. Aber vielleicht werden wir in Europa das erste Mal lernen müssen, dass es diesmal keine Lösung gibt. Für den Nahostkonflikt gibt es sie nicht und auch nicht für den Terror, dem Europa seit mittlerweile zwei Jahren ausgesetzt ist.

Was, wenn morgen etwas in Rom passiert?

Ich schrieb also den zweiten Text. Diesmal über Brüssel und über Nizza. Ich wollte ihn am Morgen des 16. Juli nur noch mal schnell überarbeiten, scrollte vorher durch meinen Facebook-Feed und las nur noch: Istanbul. Jetzt habe ich die Befürchtung, dass ich in diesen Text auch noch Istanbul einbauen muss, aber ich war noch nie in Istanbul und habe zu Istanbul nichts zu sagen, außer, dass mein Mann drei Tage nach dem Terrorangriff auf den türkischen Flughafen, einen Flug nach Tel Aviv mit Aufenthalt in Istanbul hatte und bibbernd vor mir stand, weil er Angst hatte, zu sterben, und ich ihm daraufhin nur pragmatisch und vollkommen bescheuert antwortete: „Du lebst seit 35 Jahren in Israel und hast überlebt, jetzt wirst du nicht in Europa sterben!“

Die Frage bleibt, ob ich in diesen Tagen der sich überstürzenden Nachrichten jemals mit meinem Text fertig werde. Ob es mir möglich ist, alle Nachrichten in diesen einen Text zu quetschen, und auch jene Nachrichten, die noch gar keine Nachrichten sind. Was ist, wenn morgen schon irgendwas in Rom oder Kopenhagen oder Berlin passiert, einfach, weil Europa längst nicht mehr das ist, wofür wir es halten.

Es dauert lange, bis man in der Lage ist, zu verstehen, dass das Alte alt ist. Es dauert Ewigkeiten, bis man sich an ein neues Setting gewöhnen kann. Das Problem ist: Bis man alles an das neue Setting angepasst hat, ist das Neue schon wieder alt. Sie verstehen? Mein Text ist uralt, obwohl ich noch nicht einmal den letzten Satz geschrieben habe. Und auch nicht mehr aktuell. In dem Moment, wie er erscheint, ist er so was von scheiß-fucking gestern, dass es schon peinlich ist, ihn überhaupt je geschrieben zu haben.

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