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Die Lücke im System

 

Wie ein verrücktes Aderngeflecht überziehen Kritzeleien und Graffiti die Stadt. Durch sie können wir in andere Welten schlüpfen. Und in dunkle Abgründe.

© Brendon Thorne/Getty Images
© Brendon Thorne/Getty Images

Seit einiger Zeit trainiere ich, meinen Kopf, der immerzu hinrucken will zu all den Buchstaben auf den Wänden der Stadt, still zu halten. Das ist nicht einfach. Denn diese überall wimmelnden Lettern erzeugen eine Art Taubenimpuls, der den Kopf unwillkürlich vorstoßen lässt zur Schrift. Egal, wie dumm und durchschaubar ist, was dort geschrieben steht. Immerhin, das Training zeigt Effekte und die großen Sprüche kann ich mittlerweile im Augenwinkel vorübergleiten lassen. Stünde beispielsweise in blutroten Lettern an den Wänden einer Chemiebank der Satz „Lasset alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet“, ich würde ihn vermutlich gar nicht bemerken.

Nein, Unsinn, natürlich würde ich ihn bemerken. Aber es wäre eine Ausnahme, denn für gewöhnlich gleiten die großen Buchstaben nun im Augenwinkel vorbei. Bei kleinen Schmierereien hingegen, da habe ich noch immer keine Chance. Bei Kugelschreiber-Kommentaren auf Werbeplakaten, bei von Kindern mit Kreide auf den Boden gemalten Nachrichten und vor allem bei diesen twomblyhaften Krakel- und Kritzellandschaften, die die meisten Abortwände überziehen wie ein Geflecht verrückter Adern.

Jetzt muss nur noch die seltsam hoffnungsvolle Schönheit angesprochen werden, die in diesen mit Edding, Tipp-Ex, Feuerzeugflammen, Nägeln, Nagellacken und Sprühdosen draufgesprühten, eingekratzten, hingeklecksten Botschaften, Schweinereien und Beschimpfungen gelegentlich aufblitzt, dann ist die Einleitung fertig.

Einmal, es war vor langer Zeit, und zwar im Café Orange in der Oranienburger Straße in Berlin, da bekam ich einen Schrecken. Es war schon spät und ich stand vielleicht zum zweiten oder dritten Mal mit meinem Taubenkopf vor den wild beschmierten und beschrifteten Wänden der Toilette. Wiedersehen macht Freude. Dieser Satz stand aber überhaupt gar nicht dort im Gewirr all der Sprüche, Nummern und Zeichnungen, stattdessen: „It’s not dark yet, but it’s getting there.“ Was nicht nur ein schöner Satz ist, sondern vor allem einer, den ich gerade gestern oder vorgestern, auf jeden Fall vor gar nicht allzu langer Zeit, gelesen hatte. Heute steht er nicht mehr da, ich habe es vor ein paar Tagen überprüft, siehe Foto.

cafeorange
Toilettenwand des Café Orange © Martin Lechner

Aber er steht noch immer auf Seite zweihunderzweiundzwanzig der neunzehnhundertzweiundneunziger Picador-Ausgabe von American Psycho von Bret Easton Ellis. Bösewicht Bateman denkt diesen Satz, nachdem er sich über einen Kinderwagen gebeugt und dem darin niedlich daliegenden Baby erklärt hat, dass er ein psychopathischer Mörder sei: „Oh yes, I like to kill people.“ Der Leser fasst sich schon nervös bei den Händen, seinen eigenen Händen, weil er, erstens, beim Lesen allein ist, immer allein, und zweitens, weil er diesen Bateman, der seine verlorene Innerlichkeit im gähnend leeren Fleisch der Mitmenschen sucht, schon kennengelernt hat.

Doch was macht der Bateman? Geht weiter, ohne das Baby auch nur berührt zu haben. Der Satz aber, der ein herannahendes Dunkel in dieser gleich von Anfang an schon ziemlich stockdunklen Geschichte ankündigt, der war aus dem Buch entwichen und stand an der Wand. Er wirkte wie ein Schlitz, wie eine Lücke im System, durch die auch der Rest des Kapitels wie vielleicht sogar der Rest des ganzen Buches oder der Rest aller Bücher überhaupt hätte einsickern können in die Realität. Was bedeutet das? Das ist eine gute, eine sehr gute Frage ist das!

Soll ich abschließend noch darauf hinweisen, dass Bob Dylan sechs Jahre nach Erscheinen von American Psycho, und zwar auf seinem dreißigsten Studioalbum, ein Stück namens Not dark yet veröffentlicht hat, in dessen Refrain genau dieser Bateman-Satz zitiert wird, was immerhin erstaunlich ist, wo es sich um einen gar nicht mal so typischen Bateman-Satz handelt wie beispielsweise „I must return some videotapes“ oder „This is not an exit“? Nein, soll ich nicht. Oder soll ich noch schnell erwähnen, dass Glamorama das bessere Buch war, weil, aber nein, wozu? Oder dass man den Namen Bob Dylan meist von Leuten hört, die sagen, man könne bei Bob Dylan gar nicht mitreden, weil man Bob Dylan nicht schon bei einem Bob-Dylan-Konzert in der Bob-Dylan-Zeit der sechziger Jahre gehört habe? Ach, lieber nicht.

Oder dass in der Herrentoilette des Cafés Blaues Band in der Alten Schönhauser Straße in Berlin der Satz „So much water, so close to home“ steht? Doch, das schon, das auf jeden Fall. Denn auch ohne zu wissen, dass dieser Satz der geflüchtete Titel einer Story von Raymond Carver ist, bildet auch er eine wunderkleine Lücke, durch die die Möglichkeit einer Geschichte einströmt in einen ansonsten vielleicht ganz und gar durchoptimierten, zweckhaft dahinratternden und schon wieder versausten Tag.

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