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Am Ende siegt immer das Böse

 

Blutrünstigkeit und Machthunger führen zum Erfolg. Diese Moral von Game of Thrones mag man verwerflich finden. Postsowjetische Politik bildet sie erschreckend genau ab.

"Game of Thrones": Am Ende siegt immer das Böse
© Helen Sloan/HBO

Der russische Philosoph und Altphilologe Alexej Lossew erklärte in seiner Geschichte der antiken Ästhetik, die Kluft zwischen der Welt schöngeistiger Fiktion und der realen Welt sei zur Entstehungszeit der Ilias nicht besonders groß gewesen, falls sie überhaupt bestanden habe. Die Belagerung Trojas, die Verführung und Einschläferung des Zeus durch Hera – all dies wird uns vom Autor (oder den Autoren) als tatsächliches Ereignis dargestellt, da man die Fiktion, das zentrale Attribut der schöngeistigen Literatur, im 8. Jahrhundert vor Christus noch nicht kannte.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Geschehen in den sechs Staffeln von Game of Thrones, der aktuell wohl bedeutendsten Fernsehreihe, und in George R. R. Martins Buchvorlage als metaphorische Nacherzählung von Sitten und Gebräuchen gelesen werden, die an einem Ort ganz real existieren, den der globale Fernsehkonsument in seiner grenzenlosen Begeisterung für die Meisterwerke aus dem Hause HBO nur höchst selten zum Ende der Nachrichten kurz zu sehen bekommt. Ich meine damit jene Länder, die in Das Lied von Eis und Feuer von den Wildlingen bewohnt werden und die in der Welt von Putin und Merkel „postsowjetischer Raum“ heißen. Als Bewohner dieser eisigen Lande möchte ich gerne von den Erkenntnisfunken berichten, die ich jedes Mal schlage, wenn ich Zeit für The Game finde.

Die Mauer. Schlüsselmetapher bei Martin. Durchschnitt einst das Zentrum Berlins, markiert heute die Grenzen des Schengenraums und steht weniger für unterschiedliche Lebensniveaus als für abweichende Spielregeln. Auf der einen Seite liegen prächtige Schlösser, florierende Handelsstädte in Ufernähe, die Residenzen der Lannisters, Tyrells und Starks. Jenseits der Mauer, im wilden Ödland, kämpfen die Wildlinge einen ungleichen Kampf gegen die Weißen Wanderer. Die Nachtwache, das Haus des Jon Schnee – es ist ein Mittelding zwischen dem Grenzschutz des Schengenraums und dem EU-Zoll, der darüber wacht, dass Einreisende von jenseits der Mauer auf keinen Fall Wurst oder Speck nach Europa einschleppen. Die Abscheu, mit der die Untertanen der Lannisters jenen begegnen, die nicht das Glück hatten, inmitten von Eis und Kiefern geboren zu sein, wächst von Jahr zu Jahr. Ich habe berechtigte Zweifel, ob Tormund Riesentod auch nur die Überprüfung seiner Fingerabdrücke an einem Grenzkontrollpunkt überstehen würde. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre die fest verschlossene Tür in Game of Thrones humaner als die Realität des europäisch-postsowjetischen Grenzgebiets.

Adelshäuser. Wenngleich sich kein einziges postsowjetisches Land offen als Sultanat oder Königreich deklariert, erinnert die politische Karriere von Staatsoberhäuptern wie Nursultan Nasarbajew (Präsident Kasachstans seit 1991 ), Alexander Lukaschenko (Präsident von Belarus seit 1994) oder Wladimir Putin (Präsident Russlands seit 2000 ) eher an das Leben des Hochadels als an die Arbeit eines gewählten Präsidenten, wie sie auf der anderen Seite der Mauer verstanden wird. Die Atmosphäre hier hat etwas von Mittelalter mit Fernsehen. Und es ist doch ziemlich fraglich, ob es zur Französischen Revolution gekommen wäre, hätte Ludwig XVI. seinen staatlichen Fernsehkanal gehabt. Die Unterteilung in „Monarchie“ und „Plebs“ funktioniert hier ganz ähnlich wie in Buch und Serie. Als ich die Vorbereitungen für die pompöse Lannister-Hochzeit verfolgt habe, für die ein Kredit bei der Eisernen Bank aufgenommen werden musste, dachte ich unwillkürlich an die ausschweifenden Feierlichkeiten mit Militärparade und Flugshow in Belarus in Zeiten der tiefsten Krise. Sicher, das wurde nicht für die Vertreter der Adelshäuser veranstaltet, sondern fürs Volk, aber das haben die Lannisters von ihrem Gelage auch behauptet.

Winter is coming. Der Winter in Minsk oder Moskau ist mitnichten die nette kleine Abkühlung wie im Reich der Platanen und Weinberge Zentraleuropas. Viktor Schklowski, der größte Stilist unter den russischen Emigranten des 20. Jahrhunderts, schrieb einmal, er hätte in Berlin nur einen einzigen Mantel besessen, der im Herbst zum Herbstmantel und beim ersten Schnee automatisch zum Wintermantel umfunktioniert wurde. In Moskau, wo Minus 30 Grad im Februar keine Seltenheit sind, hätte Schklowski mit seinem einen Mantel nicht überlebt. Die Erwartung des Winters ist für den postsowjetischen Menschen vergleichbar mit der Todeserwartung. Wenn die Temperatur einen Monat lang unter  Minus 10 Grad verharrt, sind selbst die Düfte abgestorben, und im Herzen hat sich eine Stille und Gleichgültigkeit breitgemacht, die einen sämtliche Lannisters und Boltons ertragen lässt. Dabei ist das nicht nur eine Frage der Temperatur. Zu unserer Wintererwartung gehört seit einiger Zeit auch die beständige Angst vor einem Krieg, der jederzeit irgendwo nebenan aufflammen könnte. Georgien, Ukraine – wer ist als Nächstes dran?

Am Ende siegt immer das Böse. Unsere Fassungslosigkeit angesichts der Entscheidung des üblen Joffrey, den guten Eddard Stark hinzurichten, rührt daher, dass die Kultur insgesamt und die Massenkultur im Besonderen dem barocken Postulat folgt, nachdem das Böse verwerflich sei und am Ende stets das Gute triumphiere. Und dann wird Eddard hingerichtet, die frommen Helden lassen einer nach dem anderen ihr Leben (etwa bei der „Roten Hochzeit“), die Schufte tragen den Sieg davon, und ein Ende ist nicht in Sicht. Game of Thrones zwingt uns eine andere Moral auf, die die Menschen im Westen nicht gewohnt sind. Wollte man den Algorithmus ermitteln, nach dem die Story der ersten vier Staffeln gestrickt ist, ergäbe sich ein einfaches Bild: Ehrlichkeit und Anstand werden bestraft, Blutrünstigkeit und machiavellistischer Machthunger führen zum Erfolg.

Zum Ende der sechsten Staffel sind von den Helden, denen der europäische Zuschauer im wahren Leben die Hand schütteln würde, nur noch sechs am Leben: Tyrion und Jaime Lannister, Arya und Sansa Stark, Jon Schnee und der sterbenskranke Jeor Mormont. Alle anderen haben entweder selber Dreck am Stecken oder sind schon tot. Dabei ist die Bitterkeit, mit der man dieser Entwicklung zusieht, jedem Bewohner unseres eisigen Ödlandes nur zu vertraut. Ich erinnere mich noch an die Hochstimmung, mit der wir in Belarus den Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2010 verfolgt haben, als in einer kurzen Phase der Liberalisierung gleich mehrere schillernde Helden die „Monarchie“ herausgefordert haben. Ich erinnere mich noch an das Triumphgefühl, mit dem vierzigtausend Menschen den zentralen Prospekt hinunter zur Zentralen Wahlkommission gelaufen sind, jeder von uns in Erwartung des ersehnten (und so seltenen!) Triumphes des Guten.

Es endete mit Blut im Schnee, Hunderten Verhören und Gefängnisstrafen für mehrere Dutzend Wagemutige. Einige wurden ins Ausland abgedrängt, anderen drohte man, das Kind wegzunehmen, wieder andere sollten erst nach fünf Jahren Gefängnis auf freien Fuß kommen. Wir sahen das mit an und schluckten schwer an der Bitternis. Wer sich davon überzeugen möchte, dass das, was in Game of Thrones gezeigt wird, tatsächlich geschehen kann, dem sei das Video aus dem Gerichtssaal in der Sache „Kirowles“ im Moskau des Jahres 2013 empfohlen, in dem sich der mir persönlich sympathischste russische Politiker Alexej Nawalny von seiner Frau verabschiedete, um auf Jahre hinter Gittern zu verschwinden (wohl wissend, dass man ihn schuldig sprechen würde, setzte er sich nicht ins Ausland ab, sondern ging seinem Schicksal mit der Demut eines Eddard entgegen, auch wenn er nur einen Tag nach seiner Verurteilung wieder auf freien Fuß kam). Oder man studiere den Lebenslauf Chodorkowskis und vergleiche ihn zum Beispiel mit demjenigen Irina Jarowajas.

Die Legende vom Großinquisitor. Huntington hätte die Existenz der Mauer, die Europa (zu dem meiner Überzeugung nach auch mein Heimatland gehört) zweiteilt, mit zivilisatorischen Unterschieden erklärt. Mir näher liegt eine Erklärung Fjodor Dostojewskis. Erinnern wir uns an seine Legende vom Großinquisitor, in der er erzählt, wie Glaube zu Religion wird und die Lehre des Messias zur Befreiung des Volkes sich in ein zusätzliches Instrument der institutionalisierten Versklavung verwandelt. Dostojewski bürdet die Verantwortung dafür den Gläubigen selbst und ihrer Nichtbereitschaft zur Freiheit auf.

In Game of Thrones gibt es ein bedeutsames Postskriptum, das ich allen nur ans Herz legen kann, die das Phänomen Putin oder das Phänomen Lukaschenko verstehen wollen. Theon Graufreud, den Ramsay Bolton fast während der gesamten Staffel weidlich schikaniert hat, soll zuletzt von seiner Schwester befreit werden. Sie opfert eine Reihe treuer Mitstreiter, um in das Verlies vorzudringen, in dem Theon schmachtet. Doch im entscheidenden Augenblick, als er nur noch in die richtige Richtung laufen muss, um frei zu sein, wählt er das Sklavendasein. Dostojewski hätte gesagt, die Ursache für dieses Verhalten liege in der angeborenen Demut Theons. Aber wir konnten wunderbar mitverfolgen, welche Qualen, Erniedrigungen und Versehrungen ihn zu dieser Demut gebracht haben. Angst und Feigheit sind keine Synonyme, auch wenn sie häufig gleichgesetzt werden.

Abschließend sei noch gesagt, dass George Martin eine spannende Saga und HBO darauf aufbauend eine packende Serie gelungen ist. Nur wäre man manchmal eben gerne dieses Gefühl los, man sei eine der Nebenfiguren.

 

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

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