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Wer spricht da, bitte?

 

Früher wurden auf Wahlplakate, egal welcher Partei, Hitler-Bärtchen gemalt. Diesen Witz hat die Realität eingeholt. Besser wäre ohnehin: die Plakate gar nicht erst lesen.

© dpa
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Wer meint, Stimmen seien unsichtbar, der war noch nie in der Fos Bar in Berlin Gesundbrunnen. Im Zeichengewusel auf einer Toilettenwand findet sich nämlich der Satz: Ich sehe Stimmen. Wo doch Stimmen in Wahrheit nur zu hören sind. Auch wer seinem Fernseher zum Test den Ton abdreht, um, sagen wir, die rot gebrüllten Gesichter einer durchgedrehten Anne-Will-Runde zu studieren, der sieht nichts, zumindest keine Stimmen.

Wer wirklich Stimmen sehen will, dem bleibt nur eines: eine Geschichte zu lesen. Die gelesene Stimme eines Dialogs kann, wenn sie gelingt, leibhaftig vor Augen treten. Sobald eine Figur den Mund aufmacht, schreibt Sieglinde Geisel in der schönen Rubrik Satz für Satz auf der literaturkritischen Seite tell-review, schlägt die Stunde der Wahrheit. Vielleicht misslingen Dialoge darum so leicht, weil selbst das kleinste Wort die Figur ganz aufrufen muss. Natürlich gibt es auch Geschichten, in denen sich die Erzählerstimme sämtliche Figuren einverleibt und als eine Art omnipräsentes Sprach- und Sprechgespenst aus allen Mündern fährt. Dann sieht man nicht die Stimmen der Figuren, sondern die Stimme des Erzählers. Und man sieht sie, weil sie buchstäblich vor Augen tritt. Könnte die Figur eines solchen Textes die Matrix ihrer Erzählung durchdringen, würde sie sich vielleicht als Fall von Xenoglossie begreifen. Es spricht aus mir ein Anderer.

"Ich sehe Stimmen" auf der Wand eines Cafés im Berliner Wedding © Martin Lechner
„Ich sehe Stimmen“ auf der Wand der Fos Bar in Berlin © Martin Lechner

Fremdsprech! Der erkenntniskritische Stachel allerdings, der einmal spitz aus dieser Art zu erzählen hervorragte, wirkt heute, wo selbst so manche Werbung anmerkt, dass sie nur eine Werbung sei, schon wieder ziemlich stumpf. Aber egal, wenn man dieser Tage durch Berlin läuft, begegnen einem noch andere Fälle von sichtbaren Stimmen. Statt allerdings Figuren aufzurufen, geschweige denn Menschen, wirken sie oft bloß wie aus Sprüchen zusammengeleimte Puppen. Auffällig ist dabei, dass den Gesichtern der Stimmenfischer, die von nahezu jeder Laterne herabschauen, kaum noch lustige Hitlerschnurrbärtchen zugefügt werden. Was vermutlich als weiterer Kollateralschaden des Aufstiegs der Armleuchter für Deutschland zu werten ist. Jetzt dürfen keine Witze mehr gemacht werden mit der Popelbremse des Bösen. Weil die Lage insgesamt zu böse ist? Vermutlich.

Wer spricht?

Dabei war der Witz doch immer der, dass die willkürlich zugefügten Hitlerbärtchen ausnahmslos jeden Politiker von jeder Partei zu jeder Wahl daran erinnerten, dass auch er nicht sicher sein kann, ob es nicht vielleicht schon bald aus seinem eigenen Hals bösartig zu bellen beginnt. Doch jetzt, wo nicht nur die Wähler der CDU und der SPD, sondern verrückterweise auch der Linken nach rechts wegrutschen, da schlägt man, statt auf Bärtchen zu schielen, lieber bei Didier Eribon nach. Die deutsche Übersetzung seines Buches Rückkehr nach Reims, die dieses Jahr erschienen ist, liegt sicher nicht nur deshalb bereits in vierter Auflage vor, weil er seinen eigenen Werdegang vom homosexuellen Fabrikarbeitersohn zum Pariser Intellektuellen auf so uneitle Weise zur Analyse sozialer Formungskräfte auszuweiten weiß, sondern weil er vergleichbare Wählerwanderungen von links nach rechts in Frankreich beschreibt.

Und es wäre sicher äußerst aufschlussreich, über die Unterschiede zwischen der französischen und der Situation hierzulande nachzudenken, aber zurück zu den Plakaten. Was man nämlich dort in diesen Wochen liest, das sind Sätze, von denen man manchmal gar nicht weiß, wer sie eigentlich spricht. Der kann das, der macht das, heißt es da beispielsweise über Stephan Rauhut von den Linken. Oder bei der CDU: Politiker machen Angst, Nöll macht Mut. Sollen dem Wähler da die Worte eingesprochen werden, die er über den plakatierten Politiker später selber sagen soll? Immerhin steht da nicht: Ich kann das, ich mache das. Sondern: der. Oder redet der etwa in der dritten Person über sich selbst?

Gretchen Gottlieb

Aber wer in der dritten Person über sich selbst redet, der redet vielleicht auch in der dritten Person zu mir, oder? Er ist ein interessanter Kasus, Subjekt Woyzeck, er kriegt Zulag. Sagt der Arzt bei Büchner zu seinem Versuchskaninchen. Nein, es muss wohl meine eigene Stimme sein, die mir da vom Plakat entgegensprechen soll. Auch wenn es gar nicht meine eigene ist. Offenbar ein weiterer Fall von: Fremdsprech! Oder Fremdscham? Nun, beides besser als Fremdenhass. Aber wie dem auch sei, wenn man am Sonntag mit dem Stift über dem Wahlzettel kreist und grübelt, wo man denn jetzt sein dürres kleines Kreuzchen setzen soll, und bis dahin vermutlich wieder kein Modus kollektiver Mobilisierung entstanden ist, wie ihn Eribon behauptet, dann wünscht man sich, man hätte sich weniger über Plakatsprüchlein ausgelassen und stattdessen mehr mit den Inhalten beschäftigt. Tja.

Jetzt könnte man noch über nötige oder unnötige Vereinfachungen politischer Botschaften in Wahlkampfzeiten nachdenken, aber viel interessanter ist vielleicht die Frage, was eigentlich Gretchen Gottlieb zu all dem gesagt hätte. Als nämlich 1970 der amerikanische Methodisten-Pfarrer Caroll Jay in Mount Orab (Ohio) seine Frau Dolores zur Behandlung von Rückenschmerzen hypnotisierte, sprach sie xenoglosses Deutsch. Eins, zwei, drei Tage später, bei einer längeren Hypnose, trat erstmals Gretchen Gottlieb auf, die in den folgenden 19 Sitzungen von ihrem Leben als Tochter des Bürgermeisters von Eberswalde, Hermann Gottlieb, berichtete und die auf nicht ganz eindeutige Weise, wie es heißt, im Alter von 16 Jahren verstarb.

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