Die Rapperin Kate Tempest ist eine grandiose Bußpredigerin, die uns erhellt, ratlos macht und berauscht. „Let Them Eat Chaos“ ist das Album des Herbstes. Mindestens.
Eine Stimme aus dem Nichts: „Picture a vacuum“. Leichter gesagt als getan, stell dir einen luftleeren Raum vor, wie soll das gehen? Genauso gut könnte die Stimme sagen: Denk an nichts. Entleere deinen Geist. Vergiss alles, was du zu wissen glaubst, kratz die Erinnerungen von der Wachstafel deines Gedächtnisses, schalte dein Smartphone in den Flugmodus und hör mir gut zu. Eine Aufforderung zur Meditation, ein koan, über das ich erst mal ein paar Jahre gründlich nachdenken müsste. Einerseits.
Andererseits habe ich zum Meditieren gar keine Zeit, während ich noch über diese ersten drei Worte nachdenke, ist die Stimme schon viel weiter, hat das vacuum als Weltall identifiziert, unser Sonnensystem ins Visier genommen, ist herangezoomt wie die Kamera in dem Kurzfilm Powers of Ten (1977), an der Sonne vorbeigeflogen und auf der Erde gelandet, in einer Stadt, genauer gesagt in London, genauer gesagt in einer einzigen Straße, ich schätze mal im Ostteil der Stadt, vielleicht in Brockley, wo auch Kate Tempest aufgewachsen ist, a shitty part of town, wie sie einmal gesagt hat. Dort setzt die Stimme, die natürlich Tempest gehört, mich ab.
Vor vier Jahren erschien der erste Gedichtband der Dichterin, Rapperin, Poetry-Slammerin, damals war sie 26, seitdem ging es Schlag auf Schlag: Sie veröffentlichte drei Theaterstücke, einen weiteren Band mit Gedichten, eine CD und eine Spoken-Word-Performance, erhielt den Ted Hughes Award der britischen Poetry Society, war mit ihrem Album Everybody Down für den Mercury Prize nominiert, trat beim Glastonbury Festival ebenso auf wie im Royal Court Theatre und veröffentlichte ihren ersten Roman The Bricks That Built The Houses (Worauf Du Dich verlassen kannst). Nun ist ihr furioses zweites Album Let Them Eat Chaos erschienen, und es führt in wenigen harten Schnitten aus den Tiefen des Alls nach South East London, zu den existenziellen Fragen.
Apokalyptische Reiter
„Is this what it’s come to? / You think / What am I to make / of all this?“ Ich stehe da wie ein gefallener Engel, wie ein übertragenes Neugeborenes, schon erwachsen und vollständig bekleidet, aber noch vollkommen ratlos: Was denken, tun, fühlen all die Menschen? Falsche Frage. Die Menschen gibt es nicht, nur Einzelschicksale: „at any given moment in the middle of a city / There’s a million epiphanies occurring“. Also nimmt Kate Tempest mich, uns alle, ihre Zuhörer an der Hand und führt uns in sieben Wohnungen, sieben Schädel. In sieben Offenbarungen plus Rezitativen lernen wir Jemma, Esther, Alesha, Pete, Bradley, Zoe und Pious kennen – die einzigen Menschen in dieser namenlosen Straße, die noch wach sind. Es ist spät, oder früh, egal. „It’s 4:18 A.M.“
4 Uhr 18 am Morgen ist eine beschissene Zeit, ein Zwischenzustand, Vorhölle, Limbo. Wenn man um diese Stunde noch allein wach liegt oder -sitzt oder schlaflos in der Wohnung herumtigert, hat man entweder sehr viel Arbeit, oder sehr viel gefeiert oder sehr viele Sorgen, quälende Erinnerungen, Ängste. Jemma verliebt sich immer wieder in die falschen Typen und die falschen Drogen (Ketamine For Breakfast). Esther ist Krankenpflegerin, kommt gerade von der Nachtschicht und arbeitet in einem atemlosen Stream of Consciousness die desolate Lage des Landes durch (Europe Is Lost). Alesha wird von dem Geist ihres verstorbenen Mannes heimgesucht, obwohl sie ja eigentlich nicht an Geister glaubt (We Die). Pete – man kennt ihn bereits aus Tempests letztem Album und Roman – hat sein letztes Monatsgehalt in Bier und kontrollierte Substanzen investiert und ist auf allem high, was man mit gutem Geld kaufen kann (Whoops). Der PR-Mann Bradley …
… doch Moment: Mit einem Mal treten vier Figuren ans Mikrophon, die im Gegensatz zu den bisher zu Wort gekommenen, vom Leben schwer verbeulten Charakteren ziemlich fit sind. Über-, ja unmenschliche Wesen, Sturmgeister, die vier apokalyptischen Reiter, die geballte, personifizierte Rache der Natur: „Some saw us in their tea-leaves / Some felt us in their knees / Most left it to the weathermen / to tell them there was nothing to see“. Meteorologisch unplausibel, aber metaphysisch korrekt: 4 Uhr 18 ist nicht nur eine beschissene, sondern auch eine liminale Zeit, eine Phase zwischen Wachen und Träumen, wenn tiefste Übermüdung in höchste Luzidität umschlagen kann, eine Zeit der Trance, Visionen, Ekstase.
Hektisch blinkende Warnlämpchen
Und jetzt, mit dem Auftritt dieser vier destruktiven Himmelsboten, wird mir auch klar, weshalb ich am Anfang mit dem Schwamm über die mentale Tafel wischen, NICHTS denken sollte: Kate Tempest will ALLES. Hier ist eine Poetin, die ihren Job noch beim Wort nimmt: als poiesis, Handeln, als Fähigkeit zur Weltschöpfung und -zerstörung. Sie will ein Panorama der Gegenwart an deine Schädeldecke projizieren, sieben exemplarische Psychogramme zeichnen, ein Bild von London, auf das der düstere Visionär William Blake stolz wäre: „I wander thro‘ each charter’d street / Near where the charter’d Thames does flow, / And mark in every face I meet, / Marks of weakness, marks of woe“ (London, 1794). Aber sie will auch einen kompletten, komplexen Menschheitsmythos erzählen, von der Genesis bis zum bitteren Ende.
Oder auch nicht: „We’re not the dread storm that will end things“, verkünden die vier apokalyptischen Sturmreiter, „we’re just your playful / gale force friends / Come to remind you / that you’re not an island“. Wir wollen die Erde (noch) gar nicht zerstören – wir wollen nur spielen. Wir sind die hektisch blinkenden Warnlämpchen, die euch Menschen anzeigen, dass ihr keine sozialen Inseln seid, sondern Teile eines größeren Ganzen. Der metaphysische Dichter John Donne (1572-1631) lässt grüßen, Kate Tempest hat hier seine Meditation No. XVII gesampelt: „No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main.“
Das Zitat könnte in flackernden Neonbuchstaben als Motto über dem Album stehen, als Moral – ja es gibt hier tatsächlich noch so etwas Altmodisches wie eine Lehre: Kate Tempest ist nicht nur eine Geschichtenerzählerin mit dem Ohr am vollgekotzten Pflaster, eine Sozialrealistin vom Schlage eines Richard Price oder David Simon, sondern auch eine Predigerin. Bei allen fucks und shits, die sie gekonnt und glaubhaft einstreut, hat ihr Londoner Menschheitsepos alle Kennzeichen einer puritanischen Bußpredigt, einer Jeremiade: Wahrlich, ich sage euch, so ihr nicht umkehrt und euer sündhaftes Verhalten ändert (Landbrücken baut, euren Nächsten liebt), seid ihr dem Untergang geweiht – aber noch ist Hoffnung. Tatsächlich endet das Album mit einer Katharsis, einem reinigenden Gewitter, Taufe und Wiedergeburt: „they see their city / new“, heißt es nach dem Sturm über die trostlosen Sieben. Sie waren schon vorher schlaflos – jetzt sind sie endlich auch aufgewacht: „We’re just sparks / tiny parts / of a bigger constellation. / We’re miniscule molecules / that make up one body.“
Amphetamingestotter
Das klingt jetzt wahrscheinlich alles wahnsinnig akademisch und überladen und anmaßend und pathetisch und moralinsauer und humorlos – und das ist es auch. Aber wahrlich, ich sage euch: Let Them Eat Chaos ist das Album des Herbstes, und ja, man sollte es jetzt im Herbst oder spätestens im Winter hören, wenn man im Frühling immer noch darüber meditiert, womöglich morgens um 4 Uhr 18, ist man zu einer Figur von Kate Tempest geworden. Die Dichterin nimmt dich an der Hand, und dann schubst sie dich mit ihrem bezaubernden Londoner Zungenschlag in den Mahlstrom, und dann musst du schwimmen wie ein Irrer, 50 Minuten und satte 7.000 Wörter lang (ich habe gezählt), und bestenfalls liest du die ganze Zeit mit (der Text des Albums erscheint gleichzeitig in Buchform), weil du als Nichtsüdlondoner sonst das meiste verpasst, andererseits tritt dich die Produktion von Dan Carey (Hot Chip, Sia, M.I.A. u.v.a.m.) andauernd unerbittlich aus dem Lyriklesesessel, ein gleichermaßen zurückgenommenes wie am Kopfnickermuskel zerrendes Gebräu aus Postdubstep, Grime und Hip-Hop noir à la Wu-Tang-Clan-als-sie-noch-gut-waren, wobei sich die Musik zu Tempests Texten ungefähr so verhält wie die Bühnenbilder von Anna Viebrock zu den Theaterstücken von Christoph Marthaler: abgeschabt-minimalistisch und doch tragend, prägend, kongenial ergänzend. Falls man sich die Marthaler-Figuren auf Speed vorstellen kann.
Und immer wenn du denkst, jetzt hast du den Flow von Tempest kapiert, ihr Timbre: ein bisschen weinerlich, ein bisschen anklagend, ein bisschen Anne Clarke, aber in jung und wütend, holt die Performerin einen anderen Tonfall aus der Rollenmustertasche (Anspieltipp: das halsbrecherische, kopfspalterische Amphetamingestotter von Pete). Und wenn sie zu repetitiv und belehrend wird, fällt sie sich auch mal selber ins Wort: „Alright, alright, I get the gist / whose city is this?“, schon kapiert, es geht um Gentrifizierung. Und dann schreibt sie immer wieder Sätze, die man sich am liebsten in den Unterarm ritzen würde: „Life is just a thing that he does“ (über den PR-Mann Bradley). „A night to remember / That we’ll soon forget“ (Esther). „We’re Sisyphus pushing his boulder / The kids are alright. But the kids’ll get older“ (Albert Camus vs. The Who).
Und am Ende, nach einer guten Dreiviertelstunde Dauerbeschuss mit WORTEN WORTEN WORTEN, folgt ein instrumentales Nachspiel, inklusive pinkfloydeskem Gitarrenploing und Shakergeschüttel und tribalistischem Chanting, und das ist dann doch ein unfreiwillig alberner Moment, aber egal, du denkst: Dubstepjeremiade, du denkst Hip-Hop-Oratorium, du denkst postfeministische Grimepredigt, du denkst endlich mal ein Konzeptalbum, das nicht von Männern mit Schaffellwesten aufgenommen wurde, und wie groß das ist, dass hier eine Künstlerin mit erhöhter Dringlichkeit einfach ALLES will und auch ziemlich viel davon schafft, und dann ist irgendwann nur noch die Bassdrum da, stolpert herum wie ein Patient mit Herzrhythmusstörung, setzt aus, NICHTS, Vakuum, und dann ist alles vorbei.
Kate Tempests „Let Them Eat Chaos“ ist erschienen bei Caroline (Universal Music).
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