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Die Gefangenen Russlands

 

20 Jahre Haft. Isolationszellen. Folter, bis der Wahnsinn ausbricht. Ukrainer erdulden in russischen Gefängnissen Unmenschliches. Etwa der Regisseur Oleh Senzow.

Das Moskauer Butyrka-Gefängnis © NATALIA KOLESNIKOVA/AFP/Getty Images
Das Moskauer Butyrka-Gefängnis © NATALIA KOLESNIKOVA/AFP/Getty Images

2016. Oleh Senzow, ein ukrainischer Filmregisseur und Schriftsteller, schreibt aus dem russischen Gefängnis, wo er bereits mehr als zwei Jahre sitzt: „Wenn wir Nägel im Deckel des Tyrannengrabes sind, dann wäre ich gerne einer.“ Alle Maßnahmen der ukrainischen Behörden, eine Freilassung oder Übergabe Senzows zu erwirken, scheiterten bis jetzt: Er habe Terroranschläge auf der okkupierten Krim im Mai 2014 geplant; eine Übergabe sei nicht möglich, da er automatisch seine ukrainische Staatsbürgerschaft verloren habe, als die Halbinsel Krim in die Russische Föderation eingegliedert wurde. Er sei jetzt ein Russe und dem Rechtssystem Russlands unterstellt. Was für eine feste Umarmung der neuen Heimat.

Senzow wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Da die Medienaufmerksamkeit nicht abnehmen will, verbrachte er die letzten zwei Wochen in einem sogenannten Strafisolator, einem dreckigen, ein mal zwei Meter großen Käfig mit schmaler Holzpritsche. Zwei Wochen Isolationshaft ist die maximale Verweildauer für einen Häftling.

Ein anderer, weniger bekannter Gefangener aus der Ukraine, Stanislaw Klych, der vor Kurzem in Grosny ebenso zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, ist laut Auskunft russischer Bürgerrechtler so grauenhaft gefoltert worden, auch an den Geschlechtsorganen, dass er den Verstand verlor. Seine psychische Instabilität führte dazu, dass Klych auf seine Anwältin verzichtete und bat, dass ihn Stass Mikhajlow verteidige, ein in Russland sehr renommierter Chansonsänger. Absurderweise wäre eine solche Verteidigung vielleicht wirklich erfolgreicher gewesen.

Staatsbürger als Sklaven

Ungerechtigkeit ist ein purer Zufall. Es könnte anstelle Senzow, Koltschenko, Suschtschenko oder Karpjuk jeder andere sein. Andererseits: Wenn ich an die inhaftierten Landsleute denke, leide ich an einer schmerzlichen Wiedererkennung der Geschehnisse, die mir als leicht vergessen, aber unglaublich natürlich, nahezu angeboren vorkommen. Ich empfinde die Situation mit solch fataler Demütigung, als hätte man die Oberfläche meines genetischen Codes mit dem Wort Gefängnis tätowiert.

Was die Ukrainer in ihrer Geschichte wirklich gut gemacht haben: Sie waren perfekte, vorbildliche Häftlinge Russlands.

1985. Im Arbeitslager Perm-36 im Ural starb einer der bekanntesten ukrainischen Dissidenten, Wassyl Stuss. Stuss war ein hervorragender Dichter, der insgesamt zu 23 Jahren Lagerhaft und Verbannung verurteilt wurde. Mir lässt die Tatsache keine Ruhe, dass ich im Augenblick seines Todes schon lebte und gemeinsam mit Millionen von anderen Ukrainern eine hilflose Zeugin seiner Opferung war.

Während der Haft schrieb Stuss Dutzende Briefe an die obersten Behörden der UdSSR, in denen er sich beschwerte, dass seine Gedichte beschlagnahmt worden waren, oder er ersuchte um Aberkennung seiner Staatsbürgerschaft (wider sie!) und um Ausweisung, denn „ein Staatsbürger der UdSSR zu sein, heißt ein Sklave sein“. Nach einem Telegramm an den KGB-Leiter Andropow, vielleicht auch, weil seine Gedichte im Ausland auftauchten, verbrachte Stuss ein Jahr in einem ein mal zwei Meter großen Strafisolator. Man durfte hier tagsüber weder auf der Holzpritsche liegen noch sich daran lehnen. Man durfte nur stehen. Und so stand Stuss. Im Stehen übersetzte er Rilke und schrieb an seinen Sohn: „Lies die Stoiker.“ Im Ukrainischen klingen die Wörter Stehen und Stoiker sehr ähnlich, weshalb ich als Kind, wenn ich die Briefe von Stuss immer wieder las, behauptete, dass es in dieser antiken Philosophie darum geht, möglichst viel durchstehen zu können.

Perm-36, ein Lager für besonders gefährliche Staatsverbrecher, wurde 1987 geschlossen. Alle Insassen wurden freigelassen und rehabilitiert. Wassyl Stuss, der zwei Jahre zuvor gestorben war, hätte noch ein wenig mehr erdulden müssen. Nach der zweiten Verurteilung hatte er allerdings zu seiner Frau gesagt, sie solle nicht auf ihn warten. Zu diesem Zeitpunkt war Stuss 43 Jahre alt und fast blind, er hatte eine schwere Magenoperation hinter sich und keine Zähne mehr. Solche Musterhäftlinge wie er kommen nie nach Hause zurück. Sie wurden geboren, um ihre schwere Freiheitsstrafe würdig bis zum Ende zu ertragen. Je furchtsamer und elender das Volk ist, das solche Helden hervorbringt, desto hoheitsvoller treten diese auf der Bühne ihrer Hinrichtung auf.

Mutige Märtyrer

1724. Stellen Sie sich ein Ölgemälde vor. Die ein mal zwei Meter große Einzelzelle ist wieder da, diesmal in der Peter-und-Paul-Festung der Stadt Sankt Petersburg. Ein Paul, um genau zu sein, ein stellvertretender Hetman der ukrainischen Kosakenrepublik, Pawlo Polubotok, liegt darin todkrank auf einer mit Stroh bedeckten Holzpritsche; seine Hände sind gefesselt, seine Augen schauen zum Himmel empor. Ein Peter, um genau zu sein, der erste Kaiser des Russischen Reichs, Peter der Große, sitzt am Rand der Pritsche; sein Blick, nach unten gerichtet, ist kummervoll und verlegen, als ob der Mächtige etwas bereuen und sich für etwas schämen würde.

Einer Legende nach suchte Peter bei seinem Gefangenen Versöhnung. Ein Jahr zuvor war er in Wut geraten, als der treue Hetman Polubotok plötzlich neue Reformen durchführte und sich für mehr Autonomie der Kosakenrepublik einsetzte. In einer emotionalen Rede in einem eilig anberaumten Verfahren warf Polubotok angeblich dem Kaiser vor, dass kein europäischer Monarch, sondern ein asiatischer Tyrann das ganze Nachbarvolk in Sklaven verwandelt. Damit besiegelte er sein Schicksal und trat in die Reihe der mutigen ukrainischen Märtyrer ein.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erregte das beschriebene Gemälde, das ein kaum bekannter Künstler gemalt hatte, einen riesigen Skandal im Russischen Reich. Der Kaiser und sein Gefangener wurden auf Millionen Postkarten reproduziert und über das Reich verteilt, während das Original endgültig verschwand. Die Prophezeiung dieses Bildes mutete für viele zu peinlich an. Laut der Legende bat Peter den kranken Paul ärztliche Hilfe an, was Paul (die Musterhäftlinge agieren nicht anderes) ablehnte mit den Worten: „Sehr bald stehen wir beide gemeinsam vor dem Gericht Gottes.“ Vierzig Tage nach Pauls Tod starb unerwartet auch Peter.

Aus gegenwärtiger Sicht könnte man diese ständig sich wiederholende Gefängniskultur auch als Kultur der feigen Mehrheit betrachten. Die Zuschauer senken ihren Kopf mit schlechtem Gewissen und sagen den Kindern: „Nicht alle hatten Angst.“ Ich frage mich, ob es doch nicht fairer wäre, den Kindern zu sagen, dass alle Angst hatten, nur Einzelne nicht.

Was mich ins Gleichgewicht bringt, ist der Gedanke, dass die Geschichte der Märtyrer automatisch die Geschichte des Peinigers miterzählt. Und jede Geschichte des Peinigers erzählt nur die Geschichte des Peinigers.

Das heißt, dass die Geschichte derjenigen, die quälen, zweimal erzählt wird.

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