Altern ist in Verruf geraten. Wir setzen alles daran, die vergehende Zeit aufzuhalten. So ein Unsinn! Viel klüger wäre: mit dem eigenen Älterwerden anders umzugehen.
Als ich kurz vor Weihnachten bei meinem Hausarzt eine Infusion bekam, also zwar schniefend, doch gemütlich auf der Pritsche lag, begann die Ärztin das Zimmer aufzuräumen. Vor dem großen Ansturm. Der im Januar einsetzen würde. Zum neue Jahr fasse die Menschheit Vorsätze, nicht wenige hätten mit Rauchen, Essen, Bewegung, kurzum Gesundheit zu tun – ein Arztbesuch scheine da vielen ratsam.
Jeder kennt es: In der Mehrzahl der Fälle sind die Erfahrungen mit Neujahrsvorsätzen langfristig (über den Januar hinaus) nicht die besten, sodass man den Vorsatz zum nächsten Jahreswechsel erneut fassen muss. Das wirkt lästig, ist aber das einzig Richtige, denn nur darum geht es: etwas zu unternehmen für das eigene Wohl. Sprich: das Vergehen der Zeit zu bekämpfen. Das doch immer nur heißt, dass man älter wird.
Englischer Silvesterwitz bei Facebook: Eine Frau meldet, dass es in ihrem Badezimmer spukt. Seit Neuerem. Extrem regelmäßig, sozusagen ständig: Immer, wenn sie das Bad betrete, erscheine diese alte Frau im Spiegel.
Die Zeit vergeht und man klafft. Fällt auseinander noch vor den eigenen Augen, wie man sich selbst wahrnimmt und wie andere einen sehen: Junge Männer gehen blicklos vorbei, die Kindergärtnerin begrüßt dich mit „Schau, da kommt die Oma“, wenn du deinen Jüngsten abholst, und die Studentinnen in der U-Bahn beachten dich nicht, obwohl du aussiehst wie eine von ihnen.
Aufstieg, Klimax, Katastrophe
Doch ich vermische zwei Dinge. Zum einen den latenten Druck, nicht alt zu sein, der unsere Gesellschaft in allen Lebensbereichen durchzieht. Diese Be- bzw. Abwertung von Alter ist so verbreitet, dass sie schon fast natürlich scheint. Tatsächlich ist sie ein kulturelles Artefakt. Wie wir mit Alter umgehen, bestimmen wir zu einem guten Teil selbst – aus unserer Kultur und insbesondere, wie es scheint, aus unserer Ökonomie heraus.
Zum anderen den Alterungsprozess selbst, wie er sich am Körper zeigt und von innen erlebt wird. Steifer, langsamer, rascher müde … Auch wenn das russische Sprichwort „Wenn du über vierzig bist, morgens aufwachst und nichts tut dir weh, bist du tot“, übertreibt. Man kann die 40 vermutlich durch 50 ersetzen. Oder 60 …
Schon die Sphinx, das arme Wesen, kannte nur das Alterungsmodell von Aufstieg, Klimax, Katastrophe: vier Beine, zwei, drei. Der Mensch richtet sich auf, stolziert dahin, reproduziert sich. Blüte! Was folgt, ist Verfall, ein langer Weg nach unten ins Krückental.
Die Alternative zu diesem Pflanzendenken war als „Weisheit des Alters“ bekannt, gepaart mit Respekt und Achtung vor der Lebenseinsicht jener, die ein paar Jahrzehnte „auf dem Buckel“ hatten. Viel scheint nicht mehr davon übrig zu sein.
Den Gewinn suchen
Darüber mag man klagen; man mag nach Gründen suchen. Sie sind vielfältig. Einer: unsere immer weiter wachsende Lebensspanne. Bei hundert oder mehr Jahren liegt die Zeiterwartung für ein heute in Deutschland geborenes Kind. Es genügt, sich das auch nur ansatzweise vor Augen zu führen, um zu sehen, dass die Arbeitszeitgrenzen sich verändern werden müssen. Und dass wir es mit mehr dementen Menschen zu tun haben werden. Veränderungen des Gehirns ab 70, Umstrukturierungen der Physiologie, auch das Schwächerwerden des Körpers sind wohlbekannt; nur dass sie heute von mehr Menschen erlebt werden und sich über längere Zeiträume erstrecken.
Helfen könnte ein anderes Modell: Altern nicht als Bergwanderung, sondern als kontinuierliche Entwicklung. Als die Herausforderung, die eigenen, verschiedenen Gestalten zu durchlaufen. In der Literatur gibt es wunderbare Beispiele dafür, wie sehr das Kind, das man einmal war, verloren gegangen und doch in einem bewahrt ist (Christa Wolf, Vladimir Nabokov u. v. m.). Durch welche Lebensstadien ist man seither geschritten? Blüte, Verfall? Veränderung ist das fruchtbarere Modell: Da stehen die Jahrzehnte nebeneinander, jedes mit seinen spezifischen Aufgaben. Die größte: hinzunehmen, dass man bei diesem ständigen Verändern und Verändertwerden verliert und gewinnt, den Gewinn aber suchen muss.
Jahre des Wechsels
Und dann saß ich an einem der ersten Tage des neuen Jahres im ICE. Der Waggon war leer gewesen, bis in H. vier Frauen einstiegen und den Sitzvierer mir gegenüber belegten. Immerhin packten sie nicht gleich die Plastiksektgläser aus; dennoch packte ich meine Sachen, denn sie unterhielten sich. Und nicht gerade leise. (Eines der ungelösten Bahnrätsel: warum Leute in einem Zug automatisch denken, dass niemand außer ihnen Deutsch versteht?) Die vier, unterwegs zum 50. Geburtstag einer gemeinsamen Freundin, berieten, ob sie es ihr sagen sollten. „Es“? Nun wollte ich weiter zuhören. „Es“ war: unangenehm, unvermeidlich, schrecklich, bedrohlich, kurzum als Gesprächsstoff ideal. Bald dämmerte mir: „es“ war das Lebensjahrzehnt, das die Freundin erwartete. Es würde das fürchterlichste ihres Lebens werden. Wechseljahre – Horror schlechthin. Die Gruppe raunte, verdrehte die Augen. Einmütig beschloss man, dem Geburtstagsküken nichts zu erzählen. Zumindest nicht gleich.
Hups, dachte ich. „Wechseljahre“. Das traf exakt mein schönes Modell. Jahre des Wechsels, den Gewinn suchen, trotz Hitzeschub, Falten, Halbdepression. Frauen übten das eben schon mal ein, dachte ich, ein Vorteil doch angesichts dessen, was hoffentlich noch kam.
So die eine Hälfte meines Kopfes.
Die andere Hälfte war schneller. Sie hatte bereits Befehle gegeben: Meine linke hielt das Handy, die rechte blätterte durch Kontakte, wo war nur die Arztnummer, wann hatten die wieder auf?
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