Osteuropa war ein Imperium der Feigheit. Der Schriftsteller Michail Bulgakow hat das Aufbegehren dagegen gelehrt. Nun erlebt man in Belarus das Aufblühen des Mutes.
Meine erste Begegnung mit Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita hatte ich Anfang der Neunziger, als mein Vater einen Samisdat-Matrizenabzug mit blassen Buchstaben und improvisiertem Wachstucheinband mit nach Hause brachte. Schon auf den ersten Seiten, auf denen zwei sowjetische Schriftsteller, die an Patriarchenteichen Aprikosenlimonade trinken, dem als Ausländer verkleideten Satan einreden wollen, er existiere in Wirklichkeit gar nicht, war mir klar, dass dieser Text mit großer Vorsicht zu genießen ist.
Für die sowjetischen Schüler, Lehrer, Ingenieure, Doktoren und sonstigen Atheisten, denen Bulgakow die Geschichte Christi erzählen wollte, waren das Bildnis des Jeschua Ha-Nozri, wie er bei Bulgakow heißt, und seine Lehre komplett identisch mit dem Wirken Jesu. Wir dachten, wir läsen eine literarisierte Nacherzählung des Evangeliums, und verstanden nicht, dass der Messias nicht in Gamala geboren sein konnte, dass man ihn nicht mit dem Fuhrwerk zur Kreuzigung gefahren haben konnte, dass er schließlich außer Levi Matthäus noch andere Anhänger hatte. Erst später erfuhr ich aus den Büchern von Irina Belobrowzewa und Wladimir Lakschin, dass Bulgakow Leben, Sprache und Topografie Judäas im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sorgsam rekonstruiert hatte und dass „Jerschalaim“ dem galiläischen Dialekt des Aramäischen, den der Messias gesprochen haben könnte, wesentlich näher kommt als das moderne „Jerusalem“. Aber damals, Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, war Voland der Teufel, Pilatus Pilatus und Ha-Nozri der, nach dem zu fragen in der Schule verboten war.
Vor allem deshalb, weil ihre Lehren sich so ähnlich sind. Beide, Jeschua wie Jesus, predigen das Gute. Die ganzen Nuancen, die sich erst nach und nach zu erkennen gaben, hatten eher etwas von einem intertextuellen Spiel des vielseitig beschlagenen Erzählers – etwa die komische Szene, in der Jeschua beim Verhör gefragt wird, ob er auf einem Esel reitend in Jerschalaim eingezogen sei (wie es beim Propheten Sacharja geschrieben steht). Und er antwortet: „Ich habe ja gar keinen Esel, Hegemon“.
Das zusätzliche Gebot in Der Meister und Margarita, das in keinem der Evangelien enthalten ist, habe ich erst viel später entdeckt, und seither lässt es mir keine Ruhe.
Das Wort „Feigheit“ taucht in seiner unwirtlichen Direktheit im Text erstmals auf, als sich der von Gewissensbissen geplagte Pilatus nach den Umständen der Hinrichtung Ha-Nozris erkundigt. Pilatus hatte kurz zuvor den einzigen Menschen kleinmütig zu Tode verurteilt, der ihn von der peinigenden Hemikranie, einem Kopfschmerzleiden, hätte erlösen können. Und das nur, weil Jeschua auf seine Fragen gefährliche Antworten gegeben und der Sekretär mitgehört hatte. Pilatus fragt matt, ob Ha-Nozri nicht versucht habe, in Gegenwart der Soldaten, die ihn gekreuzigt haben, zu predigen. Und bekommt als Antwort sein Urteil: „Das Einzige, was er sagte, war, dass er für das größte aller menschlichen Laster die Feigheit hält.“
Angst in jeder Faser des Körpers
Auf den folgenden Seiten hält sich das Wort „Feigheit“ in den quälenden Überlegungen des Pilatus verborgen: „Ich widerspreche dir: Es ist die schrecklichste Sünde!“ Die schrecklichste Sünde, weil sie allen weiteren zugrunde liegt. Und noch einmal springt die „Feigheit“ Pilatus und uns ganz am Ende dieser Geschichte an, als er die Handschrift des Levi Matthäus studiert und in den letzten Zeilen des Pergaments die Wörter „… kein größeres Laster … Feigheit“ entziffert. Aus den Auslassungspunkten spricht der Sündensuperlativ der Feigheit, den Pilatus im Nachdenken über seine Tat zum Imperativ erhoben hat.
Mit der Zeit ging mir auf, dass Der Meister und Margarita mitnichten ein Roman über das Dämonische ist. Er ist ein Roman über die Feigheit. Das zentrale Drama des modernen Teils besteht darin, dass der Meister in der Psychiatrischen Klinik sitzt und Margarita, seine Geliebte, durch die Stadt eilt und an Gift denkt. Nun könnte man mutmaßen, der Schriftsteller, der es riskiert hat, mit einem Pilatus-Roman auf den Atheismus zu pfeifen, wäre auf Betreiben des im Text omnipräsenten NKWD eingewiesen worden. Von wegen! Der Meister ist von sich aus ins Irrenhaus gegangen! Und das nach dem ersten Verhör und der ersten Verhaftung.
Im Text wird das so direkt ausgesprochen, wie es Ende der 1930er Jahre nur möglich war: Margarita verlässt den Meister in der Nacht, um sich von ihrem Mann zu trennen und bittet den Meister, bis zum Morgen auf sie zu warten, „eine Viertelstunde, nachdem sie mich verlassen hatte, klopfte es bei mir“, später, der Meister steht nachts draußen vor seinem Fenster, im Mantel „mit abgerissenen Knöpfen“, die Wohnung ist schon weitervermietet. Die eilige Neuvermietung und der Mantel mit den abgerissenen Knöpfen sind für jeden, der seinen Solschenizyn und Schalamow aufmerksam gelesen hat, Erklärung genug. Statt nun Margarita ausfindig zu machen und mit ihr aus Moskau zu fliehen, will sich der Meister zuerst vor die Bahn werfen, beschließt dann aber, in die psychiatrische Klinik zu gehen. Seine Motive erläutert er dem Zimmernachbarn etwas verworren: „Die Sache war die, dass die Angst jede Faser meines Körpers beherrschte.“
Getrampel der Springerstiefel
Pilatus, der Jeschua zum Tode verurteilt, der Meister, der seine Geliebte aus Angst um sie und sich selbst unsäglichen Qualen aussetzt, die Verleger und Kritiker, die Variétébesucher und die kleinen Gauner, alle Bewohner des Bulgakowschen Universums handeln die ganze Zeit aus Angst. Furchtlos sind allein Voland und seine Mannen. Was uns ahnen lässt, welche Partei in Bulgakows Augen hinter der Angst stand.
Ohne jeden Zweifel war die UdSSR nicht das Imperium der Angst.
Die UdSSR war das Imperium der Feigheit.
Alle Sowjetgeborenen, mich eingeschlossen, lehrte sie, sich ständig nach den Zenturionen umzusehen, die sich schemenhaft hinter den Hohepriestern abzeichneten. Nun, da das Evangelium des Ha-Nozri im postsowjetischen Raum massiv von der Orthodoxie mit ihrer Angst vor dem Jüngsten Gericht abgelöst wird, muss ich an die Staaten denken, die die geheime Moral der UdSSR erfolgreich hinter sich gelassen haben. An Polen mit der Solidarność, an Litauen mit seinem Januar 1991, an die Ukraine mit ihren beiden Maidans. In jedem konkreten Fall stand für das Ende der Epoche ein symbolisches, fast rituelles Aufbegehren der Bürger gegen die eigene Feigheit.
Überall schrille Schreie
Wenn ihr wüsstet, wie ängstlich man wird, wenn sich rechts und links die Riegel mit Schlagstockgetrommel auf Metallschilden schließen, wenn die fliehende Menge eingesackt und auf die Transporter verteilt wird, die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet für die Operation, überall schrille Schreie und das Getrampel der Springerstiefel auf blutverschmiertem Eis.
In meinem Land kämpfen sie wieder gegen die Feigheit: Tausende gehen in Minsk und anderen Städten auf die Straße, um zu zeigen, dass sie gegen den Schmarotzer-Erlass sind. Offenbar wurde eine neue Runde eingeläutet im Kampf des Lichtes gegen die Finsternis, des Mutes gegen jene, deren Arbeit es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Es gibt kein christliches Gebot: „Du sollst nicht duckmäusern.“ Und ich wüsste zu gern, was ein gewisser Galiläer gesagt hätte, hätte er von diesem Michail Bulgakow erfahren, der den Mut aufbrachte, im von nächtlichen Verhaftungen erschütterten Moskau die Lehren des Galiläers eigens für die Bewohner eines gewissen Landes fort- und weiterzuschreiben.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Die Zitate aus Der Meister und Margarita wurden angeführt nach der 1975 im Verlag Volk und Welt erschienenen Übersetzung von Thomas Reschke.
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