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Der Sommer der Liebe kann losgehen

 

Batik statt Yoga. Dutschke statt Höcke. Hipster zu Hippie. Feiern wir den Summer of Love, als wäre er nicht 50 Jahre alt. Dann klappt es auch mit der Bundestagswahl.

© Anthony Delanoix/unsplash.com

Auch ein Sommer der Liebe wird mal 50. Dieses Jahr ist es soweit. Also lasst uns feiern, wir haben es nötig. Das Feiern, klar. Aber erst recht haben wir ihn nötig: den Sommer der Liebe. Nie war er so wertvoll wie heute.

Denn nach dem Sommer der Liebe kommt ja der Herbst der Liebe, und wenn der kommende Herbst ein Herbst der Liebe wird, dann können wir aufatmen. Schließlich wissen wir über den kommenden Herbst bisher nur, dass Katalonien sich von Spanien lossagen und zum unabhängigen Staat erklären will. Nein, stimmt gar nicht; das wissen die wenigsten, zumindest hierzulande, es gibt ja so viel Wichtigeres. Und auch die Bewohner Kataloniens wissen es eigentlich nicht so genau, denn wie es aussieht, dürfte die Mehrheit, sei es pro oder contra Unabhängigkeit, am Ende hauchdünn werden. Aber genug jetzt davon, auf das Thema kommen wir ein andermal zurück. Was wir in Wahrheit über den Herbst 2017 wissen, gerade hierzulande, ist, dass eine Bundestagswahl ansteht. Eben deshalb brauchen wir den Sommer der Liebe, der mit seinen 50 Jahren hoffentlich so feierfreudig ist wie ehedem.

Vielleicht können wir es ihm erleichtern, indem wir ihn einfach genauso feiern wie 1967. Das kriegen wir doch hin – Hipster zu Hippies, Fatzkebärte zu Fusselbärten, E-Cigs zu Joints. Aus jedem SUV ein selbst bemalter R4! Batikshirt statt Yogastretch und so weiter. Dutschke statt Höcke! Lyndon B. Johnson statt Donald J. Trump!

Schulz hat einen Bart

Tatsächlich sind die Vorboten eines neuen Sommers der Liebe längst unübersehbar. Wenn zum Beispiel ein Demoskopie-Guru darlegt, die AfD baue deshalb neuerdings in den Umfragen ab, weil die SPD einen Kanzlerkandidaten aufgestellt habe, der Merkel Paroli bieten könne, dann ist das schon eine erstaunlich liebevolle, wenn nicht liebestolle Betrachtungsweise. Als wären zweistellige Zustimmungswerte für die Neurechten, wie sie vor Kurzem noch unabwendbar schienen, allein mit Merkel-Frust zu erklären – und sobald die Sozis ausnahmsweise einen Herausforderer ins Rennen schicken, dem Chancen eingeräumt werden, kehren all die besorgten Hassbürger erleichtert in den Schoß der Demokratie zurück. Der ganze Rassismus, die Untergangsszenarien, die autoritären Sehnsüchte, die Gewaltbereitschaft? War alles nicht so gemeint, waren doch nur hilflose Versuche, die Botschaft zu vermitteln: „Wir wollen, dass die Kanzlerin, die so oft ‚alternativlos‘ gesagt hat, nicht mehr alternativlos ist.“ Wer das glaubt, ist reif für den Sommer der Liebe.

Immerhin: Martin Schulz hat einen Bart. Wenn auch eher Typ Neurosenbart der frühen Siebziger als Typ Hippiebart ab 1967. Aber daran kann man ja arbeiten. Und jetzt schon guckt Schulz mit dem gleichen verpeilten – ich korrigiere: entrückten, nein, visionären Blick aus der Wäsche wie damals Timothy Leary. Und was Schulz so an politischer Botschaft verkündet, kommt Learys „Turn on, tune in, drop out“ zumindest verdammt nahe. Außerdem war Leary damals glattrasiert. Also eins zu null für Schulz, einmal mehr. Ein Kandidat, der locker in Führung geht, so was hat man bei der SPD wirklich lange nicht erlebt. Vergessen wir den Dämpfer bei der Saarlandwahl, da gaben ja ganz andere Themen den Ausschlag, Saarlandthemen halt, wer weiß da schon Bescheid? Und hatte die CDU dort nicht mit dem Slogan „Make Annegret again“ geworben? Wie soll man dagegen ankommen?

Im Sommer der Liebe aber ist Schulz in seinem Element. Und während die Union einst, in Zeiten der Aufbruchstimmung ihrerseits, den Groll der Rolling Stones auf sich zog, weil sie Angie erschallen ließ, wenn Frau Merkel auf die Wahlkampfbühnen federte, kann Herr Schulz heuer unbeschwert zu Diether Krebs’ Ich bin der Martin auf den Marktplätzen der Republik einschweben.

Das Ungewisse in jeder Gewissheit

Alles pillepalle, höre ich hier und da maulen: Die Blumenkinder vor 50 Jahren mit ihrem Friede-Freude-Eierkuchen plus freie Liebe und Recht auf Rausch – wie lachhaft, wie naiv, wie kindisch! 2017 weht doch ein ganz anderer Wind. 2017 bläst zum Beispiel ein weiterer Polit-Visionär, nämlich Stephen Bannon, der Darth Vader der US-Regierung, zur deconstruction of the administrative state – zur „Dekonstruktion des administrativen Staates“. Na, klingelt da ein Glöckchen am Schlaghosensaum?

1967 war nicht nur der Sommer der Liebe. Es war auch das Jahr, in dem ein Maître Assistant an der École Normale Supérieure in Paris gleich drei Bücher auf einmal publizierte. Sein Name war Jacques Derrida, und seine drei Bücher hießen De la grammatologie, L’écriture et la différence und La voix et le phénomène – auf Deutsch Grammatologie, Die Schrift und die Differenz und Die Stimme und das Phänomen. Sie begründeten auf zusammengezählt rund 1.000 Seiten ein recht neuartiges Denk- und Analyseverfahren: eines, das keine Gewissheiten anstrebt und keine Wahrheiten formulieren will, sondern das Ungewisse in jeder Gewissheit zum Vorschein bringt und hinter jedem Wahrheitsanspruch verdeckte ideologische Dogmen offenlegt. Und für diese Methode prägte Derrida die Bezeichnung Dekonstruktion.

Mag einem der Drei-Bücher-Mann spontan leidtun, weil anzunehmen ist, dass er dann auch noch den Sommer der Liebe am Schreibtisch verbracht hat, so hat die Dekonstruktion doch mit der Hippie-Bewegung einiges gemeinsam. Beide traten als radikaler und betont verspielter Gegenentwurf zu einem verklemmt-konservativen Establishment an. Beide werden eben deshalb oft als frivol und unseriös abgetan. Beide sind der Utopie der Herrschaftsfreiheit verpflichtet und versuchen Grundlagen für deren Verwirklichung anzubieten. Ob eher bekifft oder eher bildungsbesoffen: Beide folgen einer Agenda, auf die wir uns 2017 getrost auch mal zurückbesinnen sollten.

Im Chor jubeln

Eine Dekonstruktion des Staates, egal ob es ein „administrativer Staat“ ist oder irgendein anderer, könnte der in ihm entfalteten Gesellschaft und ihrer geistigen und politischen Freiheit jedenfalls nur gut tun. Das Gleiche würde für eine „Phase der Dekonstruktion“ gelten, wie sie Frankreichs Präsident François Hollande schon 2014 für die EU kommen sah.

Jedoch: Wenn so ein Stephen Bannon oder ein François Hollande Dekonstruktion sagt, dann ist ja zu befürchten, dass sie etwas ganz anderes damit meinen. Sie führen das verführerische Wort vermutlich nur im Mund, weil Politiker halt gerne bedeutsam klingen wollen; und weil destruction (was sie höchstwahrscheinlich meinen) ihnen zu unfein tönt.

Aber lassen wir uns von ihrem rhetorischen Blingbling nicht verblenden und nicht vergraulen – sondern nehmen wir sie beim Wort, wiederum in guter dekonstruktivistischer Tradition. Haken wir uns unter, bei Martin Schulz, bei Annegret Kramp-Karrenbauer oder bei wem auch immer, und hoppeln wir gemeinsam los, in den Sommer der Liebe hinein! Und wenn wir dabei genug Anlauf nehmen und alle zusammen aus voller Kehle All You Need Is Love singen und Derrida-Knallersätze wie Heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfassten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten im Chor herausjubeln – dann wird es nach dem Sommer dieses Jahr auch noch für den Herbst der Liebe reichen. Dann bleibt die AfD bei der Bundestagswahl doch wieder unter fünf Prozent, dann bricht mal wirklich das Zeitalter des Wassermanns an.

Und Katalonien, ach – Katalonien ist ja so oder so wunderschön.

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