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Das Leid der anderen, ach Gottchen!

 

Auf etlichen Bühnen werden gerade Geschichten von Flüchtlingen erzählt. Man will der Fremdenfeindlichkeit etwas entgegensetzen. Aber ist das nicht selbst ein Übergriff?

© Marco Longari/AFP/Getty Images

Fremdschämen: Das ist, wenn man sich für Fremde schämt. Ich bleibe sitzen, und ich schüttle meinen Kopf, und ich blicke auf meine Schuhe, und vielleicht laufe ich auch rot an, um das letzte Klischee zu erfüllen, aber später denke ich, vielleicht hätte ich aufstehen müssen, etwas sagen. Mit anderen Worten: Später kommt der Fremdscham das „Fremd“ abhanden. Ich saß da nur so, rutschte unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her, blickte ungeduldig auf die Uhr, wieder zur Bühne. Suchte nach Spuren von Entrüstung in ihrem Blick.

Auf der Bühne stand eine Frau. Die Frau stammte aus Afghanistan. Sie hatte eine dieser Geschichten, von denen man gerne glauben würde, es gäbe sie nur auf der Leinwand, in Romanen, erlebt. Vielleicht ist aber auch „überlebt“ das richtige Wort an dieser Stelle. Eine junge, kluge, schöne, ehrgeizige Juristin, die an Freiheit und Wissen glaubte, die gegen ihren Willen verheiratet wurde mit einem Mann, der sie paranoid des wiederholten Betrugs beschuldigte, der sie für diesen nie stattgefundenen Betrug schlug, ihr das Studieren verbot, sie permanent erniedrigte, später so weit ging, die gemeinsamen Söhne zu entführen. Sie hält ein Bild hoch, auf dem sind zwei grinsende Jungs zu sehen. Zwei Jahre lang war dieses Bild das Einzige, was sie von ihren Kindern sah: So lange brauchte sie, um sie wieder zu finden. Noch mal so lange, um mit Stationen in vier Ländern Deutschland zu erreichen. Es wäre schön, wenn Deutschland das Happy End dieser Geschichte wäre, aber das ist es nicht. Viele Jahre in Flüchtlingsheimen, in denen sie als Alleinerziehende schikaniert wurde, ein psychisch erkranktes Kind, ständige Angst vor der Abschiebung, Angst vor dem Mann, der ihr nach Deutschland folgte und das Sorgerecht für die Kinder wollte. Heute, da sie auf der Bühne steht, ist es eine dieser Wundergeschichten: Aus ihr spricht der Charme und die Kraft, sie arbeitet als Übersetzerin und engagiert sich ehrenamtlich, indem sie minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung hilft. Ihre Kinder sind, wie sie sagt, Menschen geworden, die anderen ein Beispiel sind.

Kampf gegen Vorurteile

All das erzählt sie, sie erzählt all das offen, und sie tut das auf der Bühne, und sie hat Bilder mitgebracht von ihren Kindern, ihren Vorfahren, ihrer Familie. Sie erzählt es, damit. Damit wir verstehen, was nicht zu verstehen ist, also damit wir eine Ahnung bekommen, damit die Geflüchteten Gesichter bekommen, und die Gesichter Geschichten, und damit die Geschichten Ängste verjagen. Das ist die Hoffnung, und einen Schritt weiter – nämlich, ob diejenigen, die Angst haben, tatsächlich diese Geschichten hören, ihnen zuhören wollen – denkt man lieber nicht. Der Selbstschutz ist einer Machtlosigkeit, einer Verzweiflung geschuldet: Was sonst? Lieber nichts tun? Also tun wir, wir Öffentlichkeitsmacher, wir Kulturschaffende, wir, die wir meinen, eine Stimme zu haben, aber wer hört uns zu? Kaum ein Stadttheater, das nicht das Thema Flucht in einem Stück, einer Performance aufnimmt, keine Lokalzeitung, die nicht neue Nachbarn vorstellt in Serie, kein Literaturhaus, das nicht geflüchtete Autoren zu Wort kommen lässt, und Bilder, Zeichnungen, Fotografien, die Boote auf dem Mittelmeer zeigen, sind auch überall zu sehen. Dahinter steckt ein wichtiger, ein bedeutungsträchtiger Wunsch: Der Wunsch, lauter zu sein, als die anderen. Die, die mit anderen Bildern um sich werfen, die mit Ängsten spielen, bis sie diese in Ressentiments, Überzeugungen und Wählerstimmen verwandelt haben, schlimmer vielleicht noch in Angriffe. Wir sind uns unserer Verantwortung als Stimmen der Gesellschaft bewusst, man wird jetzt wieder politisch als Autor, Theatermacher, Künstler, mit unseren Mitteln ziehen wir in den Kampf gegen Vorurteile, Backlashes und auch gegen den Hass.

So entstehen Veranstaltungen wie diese, bei der ich unruhig, weil fremdschämend, sitze – aber seien wir mal ehrlich, ich sitze nicht nur, auch ich stand auf dieser Bühne. Autoren haben Geflüchtete getroffen, haben sich ihre Geschichten angehört und sie, literarisch, protokollarisch, lyrisch und journalistisch aufgeschrieben – den Geflüchteten Gesichter und den Gesichtern Geschichten – daraus ist ein Sammelband entstanden, nun werden die Geschichten in Bibliotheken und Buchhandlungen gelesen, und – jetzt muss ich kurz zynisch werden – diejenigen, die bereits wissen, dass die Geflüchteten keine angsteinflößende Masse sind, sondern Menschen mit Schicksalen, hören diesen Geschichten zu.

Im Unglück suhlen

Die Autoren nehmen weder für die Geschichten noch für das Lesen Geld, und das Publikum spendet; die Spenden kommen den Geflüchteten zugute, ein Kreislauf, der für sich funktioniert. Eine Autorin hat für dieses Projekt die Geschichte dieser afghanischen Frau aufgeschrieben, die sich netterweise bereit erklärt hat, sich nach der Lesung auf die Bühne zu stellen und Fragen zu beantworten, auch die unverschämter Art. Ob sie Angst vor ihrem Ex-Ehemann habe, möchte jemand wissen, und wie oft er sie geschlagen hat, jemand anderes aus der vierten Reihe. Ob das Kind seine psychischen Probleme überwunden habe, und mit wem die Tochter verheiratet sei, mit einem Afghanen oder einem Deutschen. Mit einem Polen, antwortet die Frau auf der Bühne, und ich achte darauf, sie verzieht kein Gesicht. Ob sie wisse, ob ihr nun auch in Deutschland lebender Ex-Ehemann von den Behörden beobachtet werde, möchte ein Zuhörer ebenfalls wissen, es könne immerhin sein, er sei ein Schläfer, einer, der mit dem IS sympathisiert.

Die Frau auf der Bühne steht mit einer Geduld und einer Freundlichkeit Rede und Antwort, sie hält der Übergriffigkeit stand und setzt ihr ein selbstbewusstes Lächeln entgegen, und ich weiß nicht, ob sie das merkt: dass sie sich beweisen muss. Der psychisch erkrankte Sohn hat seine Wut auf die deutschen Lehrer, von denen er sich diskriminiert fühlte, von denen er vielleicht/möglicherweise/wahrscheinlich diskriminiert wurde, überwunden und ist somit keine Gefahr. Auch die Tochter hat das System verlassen und hat sich keinen frauenfeindlichen muslimischen (wenn auch keinen deutschen) Mann gesucht. Wenn sie diese Antworten gibt, so nicken die Publikums-Köpfe. Wenn sie die Schauergeschichte ihres Lebens erzählt, so werden ebendiese Köpfe geschüttelt, hinter mir wird gar gestöhnt, man suhlt sich in ihrem Unglück, im Mitleid zerfließt man, wie ich beim Schreiben im Zynismus zerfließe.

Geschichten, die nicht unsere waren

Später gibt es noch Wein, aber keine Häppchen, da schüttelt man noch einmal den Kopf über das eben Gehörte, die Bücher lässt man sich von den Autoren signieren, und der aus Afghanistan stammenden Frau bietet man Wasser an: Als Muslimin trinke sie sicher keinen Wein. Später werden die signierten Bücher in die Handtaschen gesteckt, die Weingläser abgeräumt, und auf dem Nachhauseweg denkt man sich als Zuhörer, wie gut man es doch hat im Leben, und das Leid der anderen, ach Gottchen, und hoffentlich haben die Behörden den bösen Ex-Mann dieser Frau bereits im Visier. Aber zu Hause geht man zufrieden ins Bett: Heute hat man was Gutes getan. Man hat Geschichten von Geflüchteten gehört.

Ich habe zusammen mit anderen diese Geschichten erzählt. Wir haben sie erzählt, wie so viele andere das auf die eine oder andere Weise getan haben, wir haben geschrieben, um den Menschen Gesichter und den Gesichtern Geschichten zu geben, und wir taten das für das, was wir für einen guten Zweck hielten. Aber wenn ich so da sitze und die Fragen vernehme, die diese Frau beantworten muss, und nichts sage, und nicht weiß, warum ich nichts sage, denke ich, vielleicht gaben wir auch Geschichten, die nicht die unseren waren, frei. Zum Übergriff frei.

Der jesidische Mann, den ich für dieses Buchprojekt interviewt hatte – es war, wir sind doch alle jetzt auch politische Stimmen, bei weitem nicht das einzige Projekt dieser Art, das ich unterstützen wollte – sagte mir vor der vorletzten Lesung aus diesem Buch, zu der ich ihn einlud, er werde nicht mehr kommen. Er will nicht mehr immerzu seine Geschichte erzählen. Ich hätte ihn gerne für diese Worte umarmt, aber wir sprachen am Telefon miteinander, und außerdem war er sehr schüchtern. Er war einfach ein schüchterner Mensch.

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