Israel hat eine sehr viel höhere Geburtenrate als Deutschland. Kein Wunder. Dort sind Kinder Teil der Gesellschaft. In Deutschland stören sie. Wie kann das angehen?
Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren Mutter. In Deutschland und in Israel. Wir pendeln monatlich zwischen Berlin und Tel Aviv. Und immer, wenn wir zurück aus Tel Aviv kommen, sagt Ettas Tagesmutter: „Etta ist ja so gut drauf!“ Sie hat recht damit. Und die Antwort, warum Etta so wahnsinnig gut drauf ist, wenn wir aus Tel Aviv zurückkommen, ist einfach: Sie tankt Beziehung in Israel. So jedenfalls nenne ich das, was rund 4.000 Kilometer entfernt von Deutschland passiert.
Sobald wir das Flugzeug von El Al, der israelischen Fluglinie, besteigen, begrüßt man sie freundlich. Nein, nein. Nicht nur die Stewardessen. Alle. Wir laufen den Gang zu unserem Sitzplatz runter, und wirklich jeder, der Passagiere, jedenfalls alle, die Israelis sind, gucken ihr ins Gesicht, lächeln sie an und schreien hysterisch „Chamuda!“ Chamuda heißt „Süße“. Man fragt sie, wie es ihr geht, und mich, wie alt sie ist und wie sie heißt. Sobald der Flieger in der Luft ist und die Anschnallzeichen leuchten und uns darüber informieren, dass wir die Gurte ablegen dürfen, muss ich mich um Etta nicht mehr kümmern. Sie wird beschäftigt. Die israelische Stewardess nimmt sie auf den Arm und bedient gleichzeitig die Passagiere oder zeigt ihr das Cockpit. Die Studentin drei Sitze vor uns liest ihr aus einem Buch vor. Die ältere Dame fünf Reihen hinter uns erzählt ihr, während Etta auf ihrem Schoss sitzt, von ihrer Kindheit im sozialistischen Israel. Die Schüler, die einen Ausflug in die KZs Deutschlands gemacht haben und nun wieder ins Gelobte Land zurückfliegen, machen Selfies mit ihr. Und ich? Ich kann in Ruhe essen und lesen und aus dem Fenster schauen. Keiner ruft mir zu „Kümmern Sie sich mal um ihr Kind, das läuft den Gang hoch und runter und belästigt die anderen Passagiere!“ Beim Ausstieg verabschieden sich wieder alle bei Etta, geben ihr die Hand und Küsse auf die Wange.
Und was im Flieger beginnt, geht in Tel Aviv einfach so weiter. Ob wir nun einfach durch die Stadt spazieren und Passanten, die uns entgegenkommen, auf sie mit fröhlichem Winken oder begeistertem Lächeln reagieren oder ob wir in Cafés und Restaurants sitzen. Ich bin nicht allein mit Etta. Ich werde nicht allein gelassen. Weder wenn ich in Ruhe etwas essen will und die Kellnerin Etta schnappt und ihr erst mal Küche und Lagerraum zeigt, sodass ich ungestört und konzentriert in mein Croissant beißen kann, noch wenn Etta umherläuft und mich nicht mehr findet. Das Restaurant passt auf sie auf. Gäste nehmen sie auf ihren Schoss oder an die Hand und bringen sie nach erfolgreichem Mäandern zurück an unseren Tisch. Und wenn diese Gäste das machen, dann reagieren sie nicht genervt oder geschockt darüber, dass ich mein Kind rumrennen lasse, nein, sie erklären mir, wie süß Etta ist, und kommen mit mir ins Gespräch. Wenn wir in Tel Aviv sind, dann lächelt Etta mehr, sie plappert mehr, sie rennt frei herum und setzt sich bei Personen, die sie sich auswählt hat, einfach auf den Schoss. Und da bleibt sie dann sitzen und lauscht den Gesprächen, die geführt werden.
Dunkeldeutschland
Zurück in Deutschland grinst sie jeden an, der ihr auf dem Gehweg begegnet, und wartet darauf, dass man sie, so wie sie es aus Tel Aviv kennt, begrüßt. Aber niemand reagiert auf sie. Niemand reagiert, wenn sie zu den Passanten läuft, vor ihnen stehen bleibt und winkt. Die deutschen Passanten gehen einfach weiter. Ohne eine Reaktion, ohne einen Blick. Im Kindercafé im Prenzlauer Berg lasse ich Etta genauso herumlaufen wie in Tel Aviv, aber keine der herumsitzenden Mütter, die es schließlich besser wissen müssten, interagiert mit ihr. Keine schaut sie an, keine spricht sie an, keine nimmt sie auf den Schoß und drückt ihr ein Stück Waffel in die Hand, wenn sie darum bittet. Der starre beziehungslose Blick verschwindet nur dann, wenn es um das eigene Kind geht. Und manchmal nicht mal dann.
Neulich waren Etta und ich im Museum. Auch dort ließ ich sie rumlaufen. Etta machte Geräusche. Sie ist ja ein Mensch. Und Menschen kommunizieren mit Lauten. Und weil Kinder auch Menschen sind, hört man sie eben. Etta ruft am liebsten „Dideldideldideldi“ oder „Graaaagraaa“, manchmal auch „Wauwau“, obwohl da kein Wauwau ist, einfach, weil sie Hunde liebt und gerne „Wauwau“ sagt. Seit ich ihr beigebracht habe, wie Löwen machen, macht sie gerne in der Öffentlichkeit einen Löwen nach. Im Museum jedenfalls rief sie irgendeinen ihrer Lieblingssounds, und ein Besucher kam auf mich zu, schaute mich wütend an und brüllte: „Nehmen Sie ihr Balg und gehen Sie damit auf den Spielplatz. Das ist hier ein Museum! Merken Sie nicht, dass sie alle stören?!“
Ich habe das Museum selbstverständlich nicht verlassen, ich verlasse auch nicht das Café, wenn mir die Gäste zurufen, ich solle mich doch bitte um meine Tochter kümmern, diese würde an ihrem Tisch stehen und die Arme in die Luft werfen. Merken Sie nicht, dass das Kind auf Ihren Schoss möchte, denke ich dann. Manchmal sage ich es auch. Dann gucken mich die deutschen Gäste angeekelt an. Wie? Ihr? Kind? Will? Auf? Meinen? Schoss? Ja, ist das nicht wundervoll? Dieses Kind hat sie ausgewählt und will mit Ihnen in Beziehung treten.
Unterschiedliche Geburtenraten
Israel hat die höchste Geburtenrate der westlichen Welt. Eine Frau bekommt dort durchschnittlich 3,1 Kinder. In Deutschland sind es 1,7. Aber auch nur, weil in den letzten Jahren mehr Kinder geboren wurden. Deswegen ist sie gestiegen. Lange Zeit lag sie bei 1,5. In Israel werden nicht nur so viele Kinder geboren, weil das irgendwie biblische Pflicht ist, sondern weil der Umgang mit Kindern in der Gesellschaft so normal ist, dass man damit nicht so wie in Deutschland allein gelassen wird. Kinder sind einfach willkommen und stören nicht. Egal, wo man ist. Sie sind Normalität, nicht Ausnahme.
In den Tagen nach Tel Aviv verfällt Etta immer in eine Minidepression und ich mit ihr, weil alle wie Roboter an ihr und uns vorbeilaufen. Sie lächelt und winkt am Anfang immer noch um die Wette, aber weil niemand auf sie reagiert, gibt sie nach ein paar Tagen auf.
Vor einer Woche liefen wir die Auguststraße entlang, und eine kleine Gruppe von fünf Geschäftsmännern lief an uns vorbei und die Menschenmasse machte Etta schwindelig und sie fiel hin. Die Männer blieben kurz stehen, schauten auf das Ergebnis auf dem Boden herunter und gingen weiter. Wie geht so etwas? Wie kann das sein?
Ich weiß es nicht. Wirklich. Aber ich wünschte mir, dass der Umgang in Zukunft anders wird. Ich wünsche mir, dass man mein Kind berührt. Dass man meinem Kind hochhilft, wenn es hingefallen ist. Dass man Etta ganz selbstverständlich auf den Schoß setzt, wenn sie signalisiert, dass sie das möchte. Ich wünsche mir, dass man ihr ins Gesicht schaut, sie anlächelt und sie fragt, wie es ihr geht.
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