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Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt

 

Die ukrainische Großmutter war geprägt durch ein blutiges Jahrhundert. Als sie stirbt, soll die Enkelin die Trauerrede schreiben. Was bleibt nach einem solchen Leben?

© Gleb Garanich/Reuters

„Du sollst die Rede schreiben“, sagte meine Mutter per Skype, „die Oma ist gestorben.“

„Du musst nicht kommen, es ist weit und teuer, aber die Rede für den Priester sollst DU schreiben. Niemand kannte sie besser, außerdem bist du Schriftstellerin, endlich profitiert unsere Familie davon.“

Ich nickte und ging in den Supermarkt, um vier Dosen Bier zu holen. Es war Freitagabend. Am Samstagvormittag sollte der Priester die Rede erhalten, um sich bis zum Begräbnis am Sonntagmorgen vorbereiten zu können. Flankiert von den Bierdosen setzte ich mich an den Schreibtisch, froh, dass meine Anwesenheit nicht verlangt wurde. Ich würde sowieso nicht kommen, ich ertrage Begräbnisse nicht, ich bin allergisch gegen den Tod. Meine Großmutter hatte immer gesagt: Schau, dass du kommst, wenn ich sterbe! Und ich antwortete, ich käme sicher nicht. Sie wusste also Bescheid und sollte sich nicht ärgern. Ich halte die Szene nicht aus, diesen schrecklichen Augenblick, wenn der Sarg in die Erde gelassen wird. Dann will ich mit hinunter.

Nach einem Bier um Mitternacht hörte ich auf, auf die weiße Wand vor mir zu starren und fing an zu tippen: „Jadwiga starb vor ihrem neunzigsten Jahr, sie brachte drei Kinder zur Welt, hatte acht Enkelkinder und sieben Urenkelkinder.“ Dann schämte ich mich für diesen Satz eine Weile. Nur die Fortpflanzung gab ihrem Leben Sinn? Sollte sie ausschließlich durch ihren Nachwuchs bestimmt werden, diese robuste alte Frau, die so gut die Fremden und so streng, nein, fast erbarmungslos die Eigenen behandelte? Ihr nichtsnutziger Mann war klug genug, um die erste günstige Gelegenheit zu nutzen und mit Mitte fünfzig zu sterben. Ihr Sohn fürchtete sich vor ihr und widersprach nie. Ihre zwei Töchter flohen und ließen sich jeweils in 600 und 3.000 km Entfernung von zu Hause nieder.

Von Ukrainern misshandelt, von Russen misshandelt

Nur ich konnte mit der Großmutter länger als eine Woche zusammen wohnen. Ich war die Einzige, die je ihre Erlaubnis bekam, später als um 21 Uhr schlafen zu gehen. Ich durfte neue Badetücher beim Haarewaschen verwenden oder tagsüber auf dem Bett liegen und lesen. Eine unglaubliche Freiheit. Ich durfte ab und zu Münzen aus der Schublade nehmen und zwei Eis kaufen, für mich mit Rosinen im Becher und für sie Schokolade am Stiel, das mochte sie am liebsten. Für all diese Privilegien war ich nur verpflichtet zuzuhören, und das tat ich gerne. Die Großmutter erzählte ihr furchtbares Leben und ich hörte fleißig zu. Sie füllte mein Inneres mit Geschichten. Um vielleicht nicht zu explodieren, begann ich selber Bücher zu schreiben. Fast in jedem kommt sie vor. Sie war eine Verkörperung des zwanzigsten Jahrhunderts, das in der Ukraine besonderes blutig verlief. Während die anderen rundherum qualvoll starben, musste sie überleben. Woher sollte eine Totengräberin wissen, was Liebe heißt?

Und nun war sie auch tot.

Ich trank mein letztes Bier aus und griff nach einer Gott sei Dank vorhandenen Flasche Wein. Es war drei Uhr nachts, als ich tippte: „Mit sechs hütete sie Kälber, ein Waisenkind, eine ewige Magd, nirgends willkommen, immer hungrig, von Ukrainern misshandelt, von Russen misshandelt, nur eine jüdische Familie, wie Jadwiga immer betonte, war gut zu ihr, sie gaben, als sie kam, um auf ihr Kind aufzupassen, Brot, und zwar mit Butter bestrichen, mit Butter bestrichen! Die Großherzigkeit dieser im Zweiten Weltkrieg getöteten Menschen sollte heute auch erwähnt werden“, schrieb ich. Wie hatten sie geheißen? Wie waren bloß ihre Namen?

Ich erinnere mich kaum daran, wie jene Nacht am Schreibtisch endete. Im Morgengrauen, das weiß ich noch, schickte ich meiner Schwester eineinhalb Seiten per Mail und schlief ein, ich fühlte mich genauso tot, schlimmer als tot, obwohl ich nicht weinte, keine Tränen, ich war hart, wie sie, ich bin immer schon ihre Fortsetzung gewesen.

Ihr Gesicht war schön und ruhig

Meine Schwester erzählte mir später, was anschließend passierte. Aus Zeitmangel (oder weil sie wie die vielen anderen keine besonderen Gefühle zur Großmutter verspürte) las sie nur die ersten Sätze aus meiner Rede, druckte den Text aus und übergab ihn dem alten Priester. Er bedankte sich und verlangte zweitausend Hrywnia für seine zukünftige Leistung, etwa siebzig Euro.

Am Sonntag versammelte sich fast das ganze Dorf in der Kirche. Alte Frauen in schwarzen Kopftüchern tratschten leise. Begräbnisse sind die einzigen sozialen Ereignisse, bei denen noch alle zusammentreffen. Sie redeten darüber, dass alles wieder teurer geworden ist oder wer welche Operation überstanden hat. Meine Großmutter war für diese Frauen bereits Vergangenheit, ein Anlass. Ihre Leiche lag im offenen Sarg (so ist es üblich in der Westukraine), sie sah gut aus, die Schwester schwor, besser sogar als im Leben, besser als manche Trauergäste. Aufgeblüht. Erleichtert. Mit kindlichem Lächeln im Gesicht.

„Haben Sie die Rede geschrieben?“, fragte der Priester etwas besorgt. Meine Schwester bejahte es, denn sie wollte keine weitere Fragen provozieren. „Nein“, mischte sich meine Mutter ein, „sie wurde im Ausland geschrieben, von einer Schriftstellerin!“ Sie liebt mich sehr, sie hatte den Text auch nicht gelesen.

Und endlich war es so weit. Der Priester begann stolpernd zu lesen, für siebzig Euro war ihm eigentlich egal, was auf dem Papier stand. Er war schlecht vorbereitet, manche Wörter konnte er nicht aussprechen. Die Großmutter lag im offenen Sarg, ihr Gesicht war schön ruhig, sie lächelte, schwor meine Schwester.

„Im Jahr 1947 zog Jadwiga in dieses Dorf, eine junge hübsche Frau, direkt in die Hölle, die ihre neue Familie ihr bereitete.“

„Der nichtsnutzige Mann trank viel und hatte zahlreiche Liebhaberinnen, die Schwiegermutter, eine unerträgliche Hexe, beklagte sich ständig, von Jadwiga geschlagen zu werden, und organisierte sogar eine öffentliche Verhandlung im Dorf. Außerdem versteckte die Schwiegermutter das Essbesteck im Hühnerstall und war fähig, im Bett unter der Decke in ein Glas zu pissen.“

Es standen, Kopf nach unten, mein Vater, meine Mutter und die engsten Nachbarinnen in der ersten Reihe. Sie wussten alle, dass ich nicht log, waren dennoch für eine solche Art von Wahrheit nicht bereit. Der Priester stotterte weiter: „Selbst Analphabetin, verpfändete sie ihre Möbel, um Schulbücher für Kinder zu kaufen.“

Mein Vater zuckte zusammen und runzelte die Stirn immer stärker.

Ein Kind durfte sie nie sein

„Sie war streng, aber gerecht, sie lehrte, man darf nicht lügen, nicht klauen, nicht verraten, einen Schwächeren nicht prügeln und einem Bedürftigen ein Stück Brot nicht neiden. Sie glaubte kaum an Gott, aber sie glaubte an das Essen. War sie satt, so war sie glücklich.“

An der Stelle über die gute jüdische Familie entrüsteten sich die Gäste in der Kirche. Täglicher „Haushaltsantisemitismus“ fand hier noch immer eine Heimat.

„Wer hat die Rede geschrieben?!“, schrie mein aufgebrachter Vater schließlich.

„Ich weiß es nicht!“, antwortete meine Mutter verlegen.

Nur die Großmutter lag ruhig und zufrieden im Sarg. Rotes Kopftuch, gelbe Blumen auf der Brust. Sie lächelte kindlich, schwor meine Schwester, und ich kann es mir gut vorstellen. Ein Kind durfte sie nie sein. Erst gestorben, brauchte sie sich um das Essen nicht mehr zu kümmern. Terror, Repressionen, Kriege, Hungersnot, Verwerflichkeit der Überlebenden – sie war endlich von ihrem furchtbaren Jahrhundert befreit. Sie ist davongeflogen.

Und ich blieb zurück.

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