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Britisches Theater, dritter Akt

 

Die vorgezogenen Parlamentswahlen waren eine gute Idee von Theresa May. Das Ergebnis zeigt, dass viele Briten den Brexit immer noch verarbeiten müssen.

© Justin Tallis/AFP/Getty Images

Das englische Sommerwetter ist gleichmäßig. Es ist grau. „English summers take their identity from the stretches of grey on either side. Days of sunshine and warmth do not come as standard but as gifts to be honoured and rejoiced in.“ Das schreibt Alexandra Harris in ihrem Buch Weatherland, einem britischen Bestseller aus dem Jahr 2015. Die Vergänglichkeit dieser Tage, so Harris, erzeuge sowohl die britische Begeisterung über alles Sommerliche als auch den Druck und die Enttäuschungen, die diese Wochen gern mit sich brächten.

Inzwischen möchte man meinen, dass die Briten sich seit ein paar Jahren mit dem sommerlichen Wahltheater unterhalten, um eben diesen Wettereffekt zu unterstreichen. Dies wäre, versteht sich, eine sehr britische Herangehensweise. Und tatsächlich hatte Theresa May eine gute Idee, als sie Parlamentswahlen für den 8. Juni ausschrieb. Man wird ihr nun das Gegenteil vorwerfen, eine schlechte Idee für die Konservativen, und Mays Spruch, dass kein Brexit-Deal besser sei als ein schlechter Deal, kann ab sofort in verschiedensten, wetterwendischen Weisen auf die Premierministerin angewendet werden. Eine gute Idee war es dennoch, sagen andere, denn the people zeige den Politikern, dass es am Ende doch eben das Volk sei, das bestimme.

Sätze dieser Art allerdings erkennt man, die Aufregungen des Tages spiegeln sich in ihnen, und als deutsche Zuschauerin der morgendlichen BBC-Wahlsendung staunt man nicht schlecht, wenn erst einmal der Firma, die die letzten Wahlprognosen vorstellte, ein minutenlanger Auftritt reinster Selbstbejubelung eingeräumt wird: Wie richtig sie doch bei den Prognosen lag.

Und doch: Es war eine gute Idee, wählen zu lassen. Unter dem Ergebnis von heute liegt etwas Wichtiges – für uns alle. Theater schließlich wirkt am besten, wenn es etwas gibt, das sich anders nicht ausdrücken lässt. Was verhandelt werden muss, aber kaum greifbar ist. Das Schlimmste ist nicht die Leiche unterm Teppich. Gespenster und Lebende, und am besten gleich viele, wirken sehr viel beunruhigender. Wir befinden uns auf der britischen Insel ein Jahr nach dem Brexit-Referendum. Das Lebensgefühl hier: Nichts davon ist verarbeitet oder verstanden. Es war ein Stich in den Luftballon Zukunft – alles, was man zu den Auswirkungen sangen kann: der Ballon verändert sich dadurch – und die Luft wird dünner.

Das Ergebnis des Referendums vom 23. Juni 2016 erweist sich als erstaunlich zeitresistent. Das wirkt paradox, denn zum einen ist selbstverständlich die Kalenderzeit weitergegangen, Artikel 50 wurde ausgelöst, nun tickt die Uhr. Andererseits: Wenn ich mich umsehe in der mittleren Kleinstadt, in der ich seit nun zwei Jahren lebe, dann fällt mir auf, wie frisch und „roh“ das Ergebnis vom vergangenen Sommer zumindest emotional noch immer ist. Man hat diskutiert, nachgedacht, und allemal sich pragmatisch mit dem Unabwendbaren eingerichtet. Institutionen, Familien und Individuen versuchen sich vorzustellen, wie die Zukunft werden könnte; es ist schwierig genug, angesichts der Unklarheiten, die fast jeden Lebensbereich betreffen, damit umzugehen.

Zwei Staatsbürgerschaften

Natürlich gibt es Stimmen, die Werbung dafür machen, gern auch groteske Werbung: Wenn man sich schon selbst ins Bein schießt, sollte man sich selbst wenigstens mit Würde und souveränem Humor dabei zusehen. So werden denn Listen mit Brexit-Vorteilen verteilt, die aufweisen, dass die Tennisbälle billiger werden. Schöne britische Selbstironie (siehe Wetter). Das jüngste Umfrageergebnis zur Zukunftseinschätzung unter britischen Farmern lässt sich in eben diesem Sinne bestens verstehen: Der Zufriedenheitsindex ist stark gesunken seit dem vergangenen Jahr. Unter den britischen Landwirten stimmte eine starke Mehrheit für den Brexit, auch wenn die meisten der Farmer mit finanziellen Einbußen rechnen müssen. Das scheint, möchte man meinen, nun in den Zahlen anzukommen. Es wird nicht investiert; der Ausblick auf die nächsten zwei Jahre aber fällt so rosig aus wie schon lange nicht mehr.

Das mit den Tennisbällen sei schon fast wieder liebenswert, möchte ich einer Bekannten sagen, aber als ich ihr in die Augen sehe, halte ich den Mund. Sie lebt seit zwanzig Jahren in England und fühlt sich persönlich getroffen und verletzt. Sie ist Europäerin; was mit ihr geschehen wird, weiß sie nicht. Bei den Familien in unserem Umfeld sind letzthin jede Menge neuer Pässe angekommen: Kinder wurden für einen Tag aus der Schule genommen, um in Botschaften zu fahren und die erste Unterschrift ihres zehnjährigen Lebens zu leisten. Nun haben sie zwei Staatsbürgerschaften. Vor Kurzem sang eine kleine Gruppe auf einem öffentlichen Platz ein deutsches Lied, um einen Austausch zu feiern. Studenten gründen Gruppen für Europa, zu Übersetzungen, zu Mehrsprachigkeit. Sie denken nach über britischen Imperialismus und wie er hinter Fragen steht, die die Bürger der Insel umtreiben.

Die britischen Vorgänge der vergangenen drei Jahre zeigen, wie schwierig es ist, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Und zu verstehen, wie die Anforderungen einer globalisierten, profitorientierten Gesellschaft sich auf einzelne Leben auswirken, welche Rolle politische Parteien einnehmen können – und sollen, wie Medien Wahlkämpfe formen etc.. Ein Mann, der sich in der Stadt für Europa engagiert, man kennt sein Gesicht von Auftritten und sozialen Medien, lauschte dem Lied. Er trug einen Arm in der Schlinge. Vor zwei Wochen wurde er, als er nachts vom Bahnhof nach Hause ging, von zwei Männern überfallen und niedergeschlagen. Ausgeraubt wurde er nicht. Was der Vorfall bedeutet? Eine klare Botschaft gibt es nicht.
Mir scheint wichtig: Er fand statt.

So wie vorgestern Nacht versucht wurde, an dem Haus, in dem ich lebe, das Geländer hinab zur Kellertreppe aus den Fundamenten zu reißen. Vandalismus, einfach so? Ausgelöst von einem Werbeschild für Labour, das der Nachbar aufgestellt hatte?

Darum also geht es: Wie äußern wir uns? Wo werden Aggressionen abgebaut? Aufgebaut werden sie auf vielfache Weise. Der Druck ist allenthalben fühlbar. Vergangenes Jahr, kurz vor dem Brexit-Referendum, wurde eine Politikerin, die für Remain warb, auf offener Straße erstochen. Eine Einzeltat, gewiss. Doch Einzeltaten finden in einem Umfeld statt, werden von Atmosphären gespeist. Die Frage, die das britische „Sommertheater“ stellt, ist eine Wetterfrage, wenn man so will: Sie handelt von Druck. Wie kehren wir in eine Gesellschaft zurück, die Aggressionen, die sich gebildet haben, in politischen Diskurs rückführt? Diese Frage geht uns nicht anders an als die Briten. Wir könnten ihnen dankbar dafür sein, dass sie uns den Vorgang, wie schwierig es ist, sich selbst ins Gesicht zu sehen – und herausfinden, wo es langgehen soll, in einem Theaterstück vorführen, das sehr viel mehr ist als Sommertheater. Dieser Tage, nach der Parlamentswahl im Mai 2015 und dem Referendum im Juni 2016, der dritte Akt. Klassische Theaterstücke haben fünf Akte. Dieses hier wird länger sein.