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Wenn der Sohn sich den Schulranzen mit dem Einhorn wünscht

 

Rosa nur für Mädchen, blau nur für Jungs?! Eltern sind froh, wenn das eigene Kind diese blöde Gender-Regel ignoriert. Und etwas Angst haben sie leider trotzdem.

Gender-Regeln: Wenn der Sohn sich den Schulranzen mit dem Einhorn wünscht
© Snev Rotbok/EyeEm

Das ist einer dieser großen Momente, einer, von denen man als Eltern träumt. Oder ich träume ihn und interpretiere zu viel hinein, wie wir Eltern es immer tun, wenn die eigenen Erinnerungen übermannen und man das Kind, das man einmal gewesen war, mit dem eigenen Kind verwechselt. Jedenfalls träume ich diesen Moment, und mein Sohn tut es auch: Der Moment, in dem der Bald-Erstklässler seinen Schulranzen bekommt. Der Bald-Erstklässler kann es nicht erwarten, einen Schulranzen auf seinem Rücken und eine Schultüte in seinen Händen zu tragen, er will „Schulkind“ und „erste Klasse“ sagen dürfen, er will Hausaufgaben machen dürfen, und er ahnt nicht, dass dieser Wunsch nicht lang anhalten wird. Mein Sohn sagt, wir müssten jetzt seinen Schulranzen kaufen, er sagt „endlich mal“ dazu, und er sagt, er will den, den er letztens gesehen hat, den mit dem Einhorn drauf. In Lila.

Mein Sohn spielt mit Fahrzeugen, aber nicht Fußball. Er hat mal Puppen gehabt, aber sie nie angerührt. Er liebt Bibi und Tina, er vergöttert Pferde, und wenn er bei Freundinnen ankommt, zieht er sich sogleich Prinzessinnenkostüme an und leiht sich beim Gehen Barbies aus, aber seine Lieblingsfarbe ist blau. Ich weiß nicht, warum seine Lieblingsfarbe blau ist. Mit anderen Worten: Ich weiß nicht, ob es wirklich seine Lieblingsfarbe ist, oder ob ich in diese Frage nach der Lieblingsfarbe zu viel hinein interpretiere. Als er sein erstes Fahrrad bekommen hat, wollte er gerne ein rosafarbenes wählen, aber bevor ich auch nur bejahen konnte, hatten der Fahrradverkäufer und mein Vater, der uns begleitete, protestiert, und so hatte er sich, trotz meiner Ermunterungen, für einen Kompromiss entschieden: Gegen das Fußball-Fahrrad, das ihm der Verkäufer andrehen wollte, gegen das rosafarbene, das ich, trotz der eigenen Abneigung gegen diese Farbe, mehrmals bewunderte, und für das in Lila mit Käpt’n Sharky. Mein Sohn war vier und suchte nach Kompromissen zwischen dem, was er selbst über sich empfand, und dem, was von ihm erwartet wurde.

Mein Sohn geht seinen Weg. Sein Weg ist zwischen blau und Begriffen wie „Mädchenfarbe“, die er aus dem Kindergarten mitbringt. Sein Weg liegt irgendwo zwischen Polizeifahrzeugen, die er aus Lego baut, und Bibi und Tina, und sein Weg ist manchmal von Stärke und manchmal von Fremderwartungen geprägt. Als er sich im Zirkus eine pink-glitzernde Ballerina als Leuchtstab aussucht, von der der Verkäufer sagt, sie sei nur für Mädchen, antwortet er selbstbewusst: „Nein, das ist für alle, die damit spielen wollen.“ Aber als der Schuhverkäufer über die lilafarbenen Gummistiefel sagt, die seien für Mädchen, nimmt er die blauen, das sei seine Lieblingsfarbe.

Was machen die Blicke der anderen?

Als Mutter steht frau dann daneben. „Nimm doch die in Lila“, sagt frau dann, und weiß nicht sicher, wie oft frau das sagen soll: Als Eltern will man den Konflikt des Kindes schließlich nicht verschärfen. Und man will nicht, dass er morgen dasselbe noch einmal im Kindergarten, und nachmittags noch einmal im Park hören muss: Das ist eine Mädchenfarbe. Du bist doch ein Mädchen, und das ist dann als Beleidigung gemeint. Und frau denkt dann darüber nach, dass es andersherum keine Beleidigung wäre, dass Mädchen nicht rufen würden „Das ist was für Jungs!“, oder „Du bist ein Junge, haha!“, frau denkt darüber nach, dass es jetzt Legosteine, Überraschungseier und sogar die Drei Fragezeichen als Ausrufezeichen in rosa gibt, und wie alte, kopfschüttelnde Herren denkt frau, wie sie sich vorgenommen hatte, niemals zu denken: „Früher zu meiner Kindheit gab es das nicht. Da haben Mädchen und Jungs dasselbe gehört. Das war damals besser.“

Die Frau in mir denkt dann über Backlashes nach und findet Verbindungen zwischen herablassenden Sätzen wie „Du bist doch kein Mädchen“, die kleine Jungs rufen, und Begriffen wie „Girlsboss“, die große Jungs verwenden. Die Frau in mir will, dass das eigene Kind fern festgefahrener Geschlechtsrollenvorstellungen aufwächst, das es einfach nur sein kann, was es ist. Die Frau in mir, die gegen Ausgrenzungen jeglicher Art kämpft, Klischees zu entlarven versucht, und an die Freiheit des Einzelnen glaubt, liebt den Sohn, der ihr in ihren hochhackigen Schuhen, mit Cowboyhut auf dem Kopf, unter dem Rastazöpfe hervor schauen, und Säbel unter dem selbst gebastelten Gürtel entgegen kommt und sich als „der gestiefelte Kater“ bezeichnet. Als Mutter ist da aber auch die Angst, der Beschützerinstinkt: Was wird ihm da draußen passieren? Was machen die Wertungen, die Blicke von anderen mit ihm?

Wir halten die Klappe

Mein Sohn sagt, wir müssten nun endlich seinen Schulranzen kaufen, und er erinnert uns noch einmal an das Einhorn, an das mit den schönen Glitzern, und wie hübsch es auf dem lilafarbenen Hintergrund aussieht. Am Samstag machen wir das, am Samstag kaufen wir deinen Schulranzen, versprechen wir ihm, und abends beraten wir darüber: Und dann? Und wenn er ihn hat, diesen Schulranzen mit Einhorn, und an seinem allerersten Schultag, an einem dieser für immer unvergesslichen Tage, erhobenen Hauptes mit dem Ranzen auf dem Rücken in die Schule spaziert? Und wenn das Erste, was er von den Kindern, die ihn vier Jahre lang begleiten werden, ein Satz ist, den er sich ganz bestimmt ebenfalls merkt: „Der ist ja was für Mädchen.“ „Bist du ein Mädchen?“ „Du bist doch ein Mädchen!“ Wenn frau mehr Mutter ist als Frau, dann kann sie sich nicht über die Abwertung empören, die in dieser simplen Geschlechtsbezeichnung steckt: Ein Mädchen. Dann ist frau eine besorgte Mutter, die dem Sohn diesen Schmerz ersparen will. Wir beraten uns, aber es gibt keine Antwort. Es gibt die Beschwörung, wir geben ihm alles Selbstbewusstsein mit, was er braucht, es gibt eine gender-gesellschaftliche Diskussion, aber eine Antwort gibt es nicht.

Dann ist Samstag, und der Einhorn-Schulranzen, von dem mein Sohn träumte, ist ausverkauft, und ich versuche, den erleichterten Blick zu seinem Vater zu vermeiden. Außerdem – jetzt sind wir wieder mitten in der Backlash-Gender-Debatte – gibt es viele andere Einhorn-Schulranzen in lila und rosa auf dem Markt. Alle glitzern sie, und sie stehen auf eigenen Regalen: Die mit den Autos, StarWars, Dinosauriern sind auf der anderen Seite des Regalsystems untergebracht: Damit die Kinder gleich wissen, wohin sie gehören. Jungs rechts, Mädchen links, im Gleichschritt. Mein Sohn weiß aber nicht, wohin er schauen soll, er umkreist das Regal, ein, zwei, drei Mal. „Polizei mag ich auch“, sagt er, und wir stellen ihm sechs Schulranzen auf den Boden, aus denen er sich aussuchen darf: Drei mit glitzernden Einhörnern, drei mit Polizei. Und wir halten die Klappe. „Also ich würde den mit der Polizei nehmen, aber die mit den Einhörnern sind auch schön“, sagt sein kleiner Bruder. Mein Sohn steht vor einer Entscheidung, und die Entscheidung ist größer, als er ahnt, und ich wünschte, seine Entscheidung hätte nicht diese Größe, und sie hätte keine Konsequenzen, keine psychologischer Art. Ich wünschte, aber ich halte die Klappe, und ich achte darauf, jeden der Schulranzen gleich lang und gleich begeistert mit ihm zu untersuchen.

Zu unserer Überraschung hat mein Sohn einen Schulranzen mit Polizeiautos gewählt. „Bist du dir sicher?“, fragten wir ihn, „weil die anderen sind…“, sagten wir, aber er unterbrach uns, indem er zur Kasse marschierte. Wir bezahlten den Schulranzen mit dem Polizeiautos an der Kasse, und ich ließ einen Seufzer der Erleichterung los, und ich legte meinem Sohn den Arm auf die Schulter, und ich wünschte, ich hätte den Seufzer nicht gebraucht.

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