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Die linke Leerstelle

 

Seit G20 in Hamburg ist „die Linke“ in Verruf geraten, und im konservativen Lager kehren selbstherrliche Zeiten zurück. Es ist eine trübe Debatte.

Copyright: Patrik Stollarz/AFP

Auf die Krawalle zum G20-Gipfel folgte die lange Nacht der Leitartikler, und sie ist noch nicht vorbei. Solche Nächte können Wochen dauern, selbst in unserer kurzatmigen Epoche. Ein wenig von dem Dunkel und dem Dünkel solcher Nächte kann sich sogar auf unbestimmte Zeit festsetzen und die öffentliche Debatte eintrüben.

Diesmal hat sich der Diskursnebel über „die Linken“ gesenkt. Wobei wir uns „die Linken“ als ein gigantisches Ungeheuer vorzustellen haben, dessen Schwänzchen sich im kreuzbraven SPD-Ortsverein ringelt und dessen Kopf bei den potenziellen „Mordbrennern“ (Martin Schulz) aus den berüchtigten autonomen Kreisen um sich schnappt.

Das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie verlangt, dass die Randale in Hamburg zu etwas nie Dagewesenem erklärt werden. Gegen die G20 kündigten sich Proteste an. Was dann geschah, war unglaublich. Eine neue Dimension, darunter geht es nicht. Und in dieser neuen Dimension wimmelt es von Gewalttätern, die sich als „links“ betrachten.

Da reibt sich die Christdemokratin die Hände, und der FDPler macht schon mal den Sekt auf. Jahrelang ist man ist man in der Defensive gewesen, wenn es um die Ränder des politischen Spektrums ging. Schließlich waren es zum Großteil die (vormals) eigenen Leute, die in der AfD mit rassistischen und demokratieverächtlichen Tönen auftrumpften. Laufend musste man sich dagegen verwahren, dass diese Rechtspopulisten sich als „Liberale und Konservative“ (Präambel zum AfD-Grundsatzprogramm) ausgaben. Wenn Rumpelstilzchen Seehofer oder andere Spitzenfunktionäre aus dem bürgerlichen Lager selbst wie neurechte Einpeitscher klangen, musste man sich furchtbar winden.

Doch dann kam Hamburg

Und die Floskel „Gegen Linksextremismus müssen wir aber auch vorgehen“, die doch immer sicheren Halt geboten hatte, klang schaler denn je angesichts der NSU-Morde, der „national befreiten Zonen“, der Pegida-Hetze und der Hasskampagnen in den sozialen Netzwerken, der Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, des Anstiegs rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten um über 42 Prozent (2015) und von da aus dann nochmals um über 14 Prozent (2016).

So hartnäckig der Verfassungsschutz betonte, die Zahl der Straftaten von Linksextremisten sei ebenfalls erschreckend hoch: Mit solchen Raten konnte sie bei weitem nicht Schritt halten, weder relativ noch absolut gesehen. Zudem war keine auch nur ansatzweise linksradikale Partei in Deutschland auf dem Vormarsch, während die AfD mit reichlich Auslegern in die rechtsextreme Szene in ein Länderparlament nach dem anderen einzog und sogar nach einem halben Jahr gewissenhafter Selbstdemontage allen Umfragen zufolge noch die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl schaffen würde.

Doch dann kam Hamburg. Das große Revival-Wochenende der Gewalt von links, mit allen geläufigen Schreckensbildern. Der Schwarze Block, die brennenden Autos, die Plünderungen. Und die erleichterte Entrüstung der Konservativen schlug vollends in Frohlocken um, als linke und sozialdemokratische Politiker blöd genug waren, die Ausschreitungen als „nicht links“ zu deklarieren. Die Täter von Hamburg, versicherte Martin Schulz den kreuzbraven Ortsvereinen im Land, seien „bescheuert, aber nicht links„, denn „links und Gewaltanwendung schließt sich gegenseitig aus“.

Lauter Steilvorlagen für bürgerliche Kommentatoren. Die Linken sind scheinheilig, die Linken lügen sich die Wirklichkeit zurecht – die Artikelmaschine sirrt weiter wie Söhnleins Fidget Spinner. Mit schulmeisterlicher Süffisanz ruft einer von der Französischen Revolution bis zum Pol-Pot-Terror die blutigsten Beweise dafür in Erinnerung, dass Gewaltanwendung und linke Ideologie sich eben doch nicht ausschließen. Ein anderer nutzt die Gunst der Stunde, um melancholisch zu resümieren: „Eine Linke braucht es nicht mehr.“ Und so weiter.

Sachlich bedeutsame Ergänzungen – etwa die Frage, ob sich tatsächlich, wie angekündigt, Neonazis unter die Gipfelrandalierer gemischt hatten – gehen in dem Geschnatter ziemlich unter. Allerdings würde es linke Krawallos ja nicht weniger bescheuert machen, wenn sie gemeinsam mit rechten Krawallos wüteten. Im Gegenteil. Gerade solche potenziellen Querfrontbildungen zeigen doch, wie brennend nötig eine intensive Auseinandersetzung der Linken mit ihren eigenen Rändern wäre. Da hilft es nicht zu behaupten, Gewalttäter könnten keine Linken sein, sondern da müssten sich die Linken – ich komme nicht umhin, den Leitartiklern in diesem Punkt zuzustimmen – den gewaltsamen Teilen ihrer Ideologiegeschichte stellen.

Dass sie sich damit so schwer tun, hat aber, fürchte ich, einen traurigen Grund. Das linke Ungeheuer ist heute eine zutiefst verzagte Kreatur. Darüber kann auch die Raserei autonomer Aggro-Brigaden nicht hinwegtäuschen. Das Verdikt „Eine Linke braucht es nicht mehr“ drückt ebenso sehr linke Existenzangst aus wie rechte Häme. Der Linken ist ihre positive Erzählung abhanden gekommen und mit ihr die Überzeugung von ihrer eigenen Unentbehrlichkeit. Wenn dann obendrein „links“ kodierte Gewalt losbricht, hört zumindest die nicht radikale Linke gleich das Stündlein ihrer endgültigen Abschaffung schlagen.

Bleibt also nur die SPD?

Nun könnte man zurückspringen zum Zusammenbruch des Ostblocks, zu Francis Fukuyamas Ende der Geschichte, zum Triumph des Kapitalismus im Systemwettstreit des 20. Jahrhunderts. Man könnte von da aus deprimierend gerade Linien ziehen zum weltweiten Siegeszug der neoliberalen Ersatzreligion oder auch zu Angela Merkels Gerede von der „Alternativlosigkeit“. Man könnte noch einmal darüber verzweifeln, dass selbst der Kollaps der Finanzmärkte, die Eurokrise und die fortwährenden humanitären Katastrophen an den EU-Außengrenzen weit und breit keinen ernstzunehmenden Neustart linker Politikangebote, wie man das ja heute nennt, hervorgebracht haben.

Aber man kann auch für erste einfach in Hamburg bleiben und wird das Gleiche feststellen: Da, wo wir ein ebenso selbstbewusstes wie selbstkritisches linkes Narrativ dringend bräuchten, klafft eine bedrückende Lücke. Nach dem G20-Spektakel macht sich diese Leerstelle unangenehmer bemerkbar denn je.

Es wäre ja denkbar, dass Politiker in ihren Statements zu Gipfel und Eskalation zusammen mit der klaren Absage an die Gewalt ein ähnlich klares Bekenntnis zu dem formulieren würden, was sie unter einer zeitgemäßen linken Haltung verstehen. Stattdessen überbieten sich die Sozialdemokraten (die sich rührenderweise in solchen Situationen noch verantwortlich fühlen, wenn es um „die Linken“ geht; was wohl daran liegt, dass die SPD zu Kaisers Zeiten einmal als links galt und im bürgerlichen Milieu bis heute von diesem Nimbus zehrt) nach der dämlichen Schutzbehauptung, Randalierer könnten nicht links sein, in schneidiger Ordnungshüter-Rhetorik. Auf die Polizei darf nichts kommen, ganz wichtig. Und das Bekenntnis zu einer linken Politik hätte ja zur Voraussetzung, dass man wüsste, wie eine linke Politik aussehen sollte.

Das aber hat man spätestens irgendwann zwischen „Asylkompromiss“ und Agenda 2010 vergessen, wenn nicht schon zwischen Notstandsgesetzen und Nato-Doppelbeschluss. Wenn sich in dem, was bei der SPD heutzutage politische Visionen ersetzt, irgendeine Leitlinie erkennen lässt, dann bloß die schwäbische Hausfrau nicht vergrämen.

Schauderhaft, oder? Ich will über mögliche linke Politik schreiben und lande doch wieder bei der SPD. So schlimm steht es in Deutschland um die Linke. Die gleichnamige Partei neigt zumindest in Gestalt ihrer Galionsfiguren Lafontaine und Wagenknecht selbst zur Querfront und klemmt ansonsten immer noch in der Muff-Kombination von Alt-SEDlern und westdeutschen Sektierern fest. Die Grünen halten sich nicht einmal mehr selber für links. Bleibt also nur die SPD. Als Verwalterin der linken Leerstelle.

Vor gut zwei Jahren übersetzte ich einen faszinierenden Text von Ian Martin. Es ging darin um London, um Privatisierungswahn und öffentlichen Raum, um 1967 und heute. Will sagen, es ging um das linke, aber nicht radikale, sondern pragmatische Versprechen einer gerechteren, offeneren, sozialeren Gesellschaft – und um den Verlust dieses Versprechens.

Großbritannien hat heute Jeremy Corbyn, der als zauselig-spinnerter Wiedergänger linker Sozialreformer zumindest der Nostalgie ein Gesicht verleiht. Deutschland hat Martin Schulz. Der wurde anfangs von weiten Teilen der Bevölkerung aus lauter Merkel-Überdruss als Hoffnungsträger missverstanden und lockte einige Tausend neue Karteileichen in die SPD. Mittlerweile gibt er nur noch den nervigen Onkel, der bei jedem Familienfest von Neuem versucht, sich als Entertainer zu beweisen.

Jüngster Brüller also: „Links und Gewaltanwendung schließt sich gegenseitig aus.“ Die Auseinandersetzung mit linker Militanz und ihren Hintergründen und Selbstrechtfertigungen („Kapitalismus zerstören!“) ist abgeblasen – und somit auch die Positionsbestimmung der heutigen SPD innerhalb des linken Spektrums. Alles schön „mittig“. Kein Anliegen, nirgends. Dem weiteren Absturz der Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit steht nichts im Weg. Die schwäbische Hausfrau atmet auf.

Und für das konservative Lager kehren herrlich selbstherrliche Zeiten zurück. Endlich steht der Feind wieder links! Wenn nicht klar sei, ob die Gewalttäter von Hamburg Linke waren, weshalb solle dann klar sein, dass diejenigen, die wenige Tage später beim Nazi-Stadel in Themar den Hitlergruß zeigten, Rechte waren? So dummdreist ätzt dieser Tage zum Beispiel ein vielfach geteiltes Facebook-Posting. Die gewissen kategorischen Unterschiede – kein Linker würde „Sieg heil!“ mitbrüllen, aber viele Rechte wären, als Autonome verkleidet, gerne dabei, wenn aus Protest gegen das Schweinesystem Twingos angezündet oder Rewe-Märkte in Trümmer gelegt werden – spielen keine Rolle mehr. Nein, nein, die Linken sind wieder böse, die Linken sind wieder ebenso schlimm wie die Rechten, vielleicht sogar schlimmer, genauer muss man sich das jedenfalls nicht ansehen – das tun die Linken selbst ja auch nicht.

So trüb schaut er nun aus, der Diskurs über „die Linken“, und daran wird sich wohl so bald nichts ändern. Denn diese Art von Trübung ist das einzig Nachhaltige an der Marktschreier-Kultur. Und der einzige Ort, von dem aus sich breitenwirksame Gegenstimmen erheben könnten, ist eben leider eine Leerstelle.