Seit einigen Monaten können EU-Bürger ohne Visum nach Minsk reisen. Sind Ausländer etwa doch nicht allesamt Staatsfeinde und Spione? Über den langsamen Wandel in Belarus
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In meiner Erinnerung sehe ich meine Mutter 1980 zum ersten Mal weinen. Ich war damals drei. Die Olympischen Spiele in Moskau gingen eben zu Ende, im Fernsehen lief die Schlussfeier. Da tauchte im Stadion nach festlichen Fanfarenstößen plötzlich ein riesiger Bär auf, das Maskottchen dieser Sommerspiele, und ein zutiefst ergreifendes Abschiedslied erklang. Die Kamera zeigte Gesichter auf den Rängen in Großaufnahme. Als der Bär abhob und unter einem Bündel Luftballons in den Himmel schwebte, weinten viele.
Weder damals noch als Schulkind zehn Jahre später konnte ich begreifen, worin die besondere Kraft dieses Augenblicks gelegen hatte, wie er mit den darauffolgenden Veränderungen im Land zusammenhing. Und was, bitteschön, hatte allen die Tränen in die Augen getrieben? Erst als Erwachsener, der Stunden und Tage mit der Lektüre und mit Gesprächen über die Endphase der UdSSR, über Afghanistan, Mangelwirtschaft, Warteschlangen und Abschottung gegenüber dem Ausland zugebracht hatte, konnte ich die Pepsi-Cola-Flaschen, die in den 1980er-Jahren in den Geschäften in Minsk aufgetaucht waren, mit jenen fernen Olympischen Spielen in Verbindung bringen.
Das Land, das aller Welt immerzu die Zähne zeigte, hatte sich plötzlich für zwei Wochen geöffnet. Die Olympischen Spiele präsentierten die Ausländer nicht als Spione und Agenten wie in den Filmen jener Zeit üblich, sondern als netten Olympiabären mit Mona-Lisa-Lächeln. Dass der Bär nicht für Olympia selbst stand, sondern tatsächlich für die Gäste, wurde aus dem erwähnten Lied deutlich, das Lew Lestschenko und Tatjana Anziferowa sangen:
Die Tribünen verstummen, verwaisen,
kurze Tage des Zaubers vergeh’n.
Du darfst heim in den Märchenwald reisen,
lieber Mischa, auf Wiederseh’n.
Wir halten fest, dass die Olympischen Spiele (die massenhafte Einreise von Ausländern in die UdSSR) als „kurze Tage des Zaubers“ bezeichnet werden. Noch interessanter ist aber das Attribut „lieb“, mit dem der Ausländer „Mischa“ ausgestattet wird, der nun mit Luftballons „heim in den Märchenwald“ reisen darf, aus dem er in die UdSSR geflogen kam. Die russische Entsprechung „laskowy“ drückt ein Höchstmaß an Zärtlichkeit und Nähe aus und kann auf die Eltern, das Lieblingsspielzeug oder einen treuen Hund bezogen werden, keinesfalls jedoch auf ein Olympia-Maskottchen oder auf ausländische Gäste, die zu den Olympischen Spielen gekommen sind. In weiteren Strophen wird dann gnadenlos von der „Zärtlichkeit“ gesprochen, die in den Herzen zurückbleibe, nachdem die „Freunde gegangen“ sind, und man wünscht einander „nimmer endende Liebe und Wohlsein“.
All dies stand in so krassem Widerspruch zu der ewigen Hassrede, die sowjetische Fernsehsendungen wie Internationales Panorama verbreiteten, dass für einen Moment jeder Sowjetbürger glauben musste, die Perestroika (an die damals noch nicht zu denken war) sei schon Realität. Im Fernsehen wurde von Freundschaft und nimmer endender Liebe gesungen. Mit solcher Inbrunst! Wem wären da nicht die Tränen gekommen? Die Welt war doch nicht so feindselig und schrecklich, wie es immer geheißen hatte.
Für die Generation Olympia, zu der auch ich mich zähle, bleibt „Mischa“ auf ewig mit den Gästen aus dem „Märchenwald“ verbunden, die mit Luftballons Pepsi-Cola und Kaugummi ins Land bringen. Als fünf Jahre später Michail (Mischa) Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU aufstieg, erkannten ihn deshalb alle und wunderten sich nicht weiter darüber, dass Mischa das ganze Land mitnahm in den Wunderwald, aus dem er 1980 das erste Mal aufgetaucht war.
Genau so, als Einladung eines Bären unter einem Bündel Luftballons, verstehe ich auch die Öffnung der Grenzen meines Landes im Februar 2017. EU-Bürger, die über den Flughafen Minsk-2 einreisen, können sich fünf Tage ohne Visum im Land aufhalten. Die Parallele zu den Olympischen Spielen in Moskau drängt sich schon wegen der Beschränkung auf den Luftweg auf. Hat sich Belarus nun verändert, seit diese Visafrei-Regelung eingeführt wurde? In etwa so wie Moskau im September 1980 – mit dem Unterschied, dass Belarus über mehrere Jahre das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Zahl erteilter Schengen-Visa war. Die Belarussen waren schon in Europa, nur war Europa noch nicht in Belarus.
Zu den größten Erfolgen bislang zählt für mich der Abschied von der Praxis des Zimmer-Abnehmens in Provinzhotels. Vor drei Jahren hat mich schwer beeindruckt, dass ich in einem staatlichen Hotel in Aschmjany ein unter „Luxus“ laufendes Hotelzimmer, das etwas von einer postapokalyptischen Behausung im Computerspiel Fallout hatte, vom Zimmermädchen abnehmen lassen musste. Die Etagendame kontrollierte die Vollständigkeit der grauen Handtücher und ließ mich erst gehen, als sie sich davon überzeugt hatte, dass auch Radiobuchse und Klopapier noch an Ort und Stelle waren. Vor zwei Wochen habe ich in einem nicht minder postsowjetischen Hotel in Pinsk genächtigt, dessen Sanitärstandards denen in Aschmjany in nichts nachstanden. Beim Check-out fragte ich vorsichtshalber, ob ich auch eine Abnahmeprozedur zu durchlaufen hätte. Und, siehe da, sie ist abgeschafft. Offenbar hat einer der vielen Ausländer, die nun in Pinsk unterwegs sind, sich die Mühe gemacht, dem Personal zu erklären, dass diese Praxis barbarisch und im Märchenwald ungebräuchlich ist.
Seit der neuen Visa-Regelung sind viele Ausländer gekommen, nicht nur nach Minsk. Die Miliz reagiert jetzt entspannter auf das Fotografieren von Regierungsgebäuden, man wird vermutlich nicht mehr festgesetzt, wenn man aus Versehen die Residenz des Staatsoberhauptes geknipst hat. Irgendwo ist endlich angekommen, dass es gar nicht so viele Spione auf der Jagd nach den Staatsgeheimnissen der Republik Belarus geben kann, deshalb werden Ausländer jetzt eher als „liebe Mischas“ betrachtet.
Die Zahl guter Cafés ist gestiegen, die Preise sind stabil hoch geblieben. Die Leute rennen nicht mehr weg, wenn man sie auf Deutsch oder Englisch anspricht, weiterhelfen kann aber nach wie vor kaum jemand. Fremdsprachenkenntnisse sind selbst unter Restaurant- und Hotelmitarbeitern die Ausnahme. Es gibt jetzt zwar mehr Hinweisschilder in lateinischer Schrift, aber das vorinstallierte Navitel mit Belarus-Karte auf dem Handy ist immer noch sehr hilfreich.
Unterm Strich lässt mein Land keinen EU-Bürger unbeeindruckt. Auch nicht diejenigen, die meinen, Osteuropa gut zu kennen. Das ist hier nämlich keine Reise durch den Raum. Hier reist man durch die Zeit. Stellen Sie sich auf das Moskau der 1980er-Jahre ein (mit der höchsten Pro-Kopf-Zahl an Schengen-Visa). Stellen Sie sich auf Menschen ein, die noch nicht von der Globalisierung verdorben sind. Auf Städte, die nicht dem gemeineuropäischen Einheitsbild entsprechen. Das kann manchmal schwierig werden, aber mit guter Laune und der Bereitschaft, zu lächeln, wo man sich eigentlich aufregen möchte, werden Sie hier eine gute Zeit verbringen. Eine Belarus-Reise könnte unter dem Motto stehen: Wann hast du zum letzten Mal etwas zum ersten Mal gemacht? Nicht eine, jede Belarus-Reise! Selbst für Leute mit belarussischem Pass, die einmal im Monat in ihr Land zurückkommen.
Aus der Gegenperspektive ist Ihr Besuch bei den Menschen, die Sie in Belarus erwarten, nicht nur ein Spekulieren auf das Geld, das Sie hier in die Infrastruktur stecken werden. Denken Sie an die Tränen der Menschen, die dem entschwebenden lieben Mischa nachsehen.
Ich bin mir sicher, die Perestroika hat 1980 im Olympiastadion in Luschniki begonnen.
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
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