Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien will unbedingt leiden. Und zur Not sorgt sie eben selbst dafür, dass die eigene Demontage vorangetrieben wird.
Immer gut: Wenn man im Moment der höchsten Bedrängnis noch einen Trumpf ziehen kann, mit dem man sich nicht nur aus der Klemme rettet, sondern die Partie sogar gewinnt. Schlecht dagegen, wenn man den Trumpf nicht zieht und stattdessen mit voller Wucht gegen die Wand rennt.
So hat es die katalanische Regierung am 27. Oktober getan. Ministerpräsident Carles Puigdemont, der sich als Gesicht der Polit-Utopie „unabhängiges Katalonien“ einem übermächtigen spanischen Staat und einer verständnislosen EU gegenüber sah und dem samt seinem Kabinett die Absetzung drohte, hätte Neuwahlen für Katalonien ausrufen können.
Wer noch an die Vernunft der Generalitat glauben wollte, war sogar überzeugt, dass Puigdemont das tun würde. Die in Barcelona ansässige Tageszeitung La Vanguardia versicherte am 26. Oktober, der President werde am Mittag die Neuwahlen ankündigen, und nannte auch schon einen Wahltermin, den 20. Dezember.
Damit hätte sich die Eskalation im spanisch-katalanischen Konflikt geschmeidig ausbremsen lassen. Am Ende gibt der Klügere nach, hätte Puigdemont behaupten können. Sein Potenzial an Sturheit hatte der katalanische Independentisme doch mit dem trotz verfassungsgerichtlichem Verbot und Polizeigewalt durchgezogenen Unabhängigkeitsreferendum erschöpfend bewiesen. Puigdemont hätte sagen können: Nun wiederholen wir diese Demonstration eben im konstitutionellen Rahmen.
Hätte er damit den berüchtigten Verfassungsartikel 155, der Katalonien fürs Erste unter spanische Zwangsverwaltung stellt, nicht abwenden können, so hätte er ihn zumindest delegitimiert. Das Vorgehen der Regierung Rajoy in der Katalonien-Krise wäre dann auch international als das erschienen, was die Independentistes (sowie Teile der spanischen Linken) darin sehen: ein dumpf durchgesetztes Recht des Stärkeren.
Aber nein. Puigdemont ließ den 26. Oktober verstreichen, ohne Neuwahlen anzukündigen. Tags darauf rief das Parlament in Barcelona die „katalanische Republik“ aus und beschloss damit seine eigene Entmachtung. Für die kurze und haltlose Illusion, Katalonien zum Staat gemacht zu haben, gab die Generalitat alle politischen und moralischen Erfolge hin, die sie im Ringen mit der spanischen Regierung in den letzten Jahren erzielt hatte.
So schwach wie nie seit dem Ende der Franco-Diktatur
Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy setzte, unterstützt von den Sozialdemokraten und den rechtsliberalen Ciudadanos in Madrid, sofort Artikel 155 in Wirkung. Nun muss er sich bei der Zwangsverwaltung nur halbwegs maßvoll zeigen, dann kann er sich in der Krise, die er und seine Partei vor gut sieben Jahren selbst ausgelöst und seither nach Kräften befeuert haben, noch das Image eines treusorgenden Demokraten verschaffen. Das Gleiche gilt für seine bisher vor allem als harte Nuss bekannte Stellvertreterin Soraya Sáenz de Santamaría, jetzt kommissarische Präsidentin der Generalitat.
Das titelgebende Motiv aus dem Jahrhundertroman Incerta glòria (deutsch: Flüchtiger Glanz) von Joan Sales scheint einmal mehr die katalanische Geschichte zu bestimmen. Am Ende des von Puigdemonts Regierung nach den Wahlen von 2015 ausgerufenen und von Beginn an eher deliranten „procés“ hin zur erträumten Unabhängigkeit steht Katalonien so schwach da wie nie seit dem Ende der Franco-Diktatur. Darüber kann auch der rappelvolle Presseclub in Brüssel nicht hinwegtäuschen, in dem der abservierte President der Welt zeigen wollte, „dass es ein Problem mit Katalonien gibt“.
Denn dieses Problem wird nun nach den Regularien der spanischen Demokratie behandelt. Neuwahlen in Katalonien kommen auch so, nicht am 20., aber am 21. Dezember, und nicht von der katalanischen, sondern von der spanischen Regierung angesetzt. Puigdemonts Erzählung vom spanischen Unrechtsstaat, vor dem er sich in der EU-Kapitale habe in Sicherheit bringen müssen, nehmen ihm nur noch fanatische Independentistes ab. Schon die gemäßigten Teile der Unabhängigkeitsbewegung – die Hunderttausenden, die Rajoys Holzhammerpolitik gegen Katalonien in den letzten Jahren zum Independentisme getrieben hat – können diese Volte Puigdemonts nicht mehr nachvollziehen.
Auch das sähe anders aus, wenn er selbst den Trumpf Neuwahlen gezogen hätte, anstatt die Chimäre einer „katalanischen Republik“ loszulassen. In dem Fall hätte die Regierung in Madrid der europäischen Öffentlichkeit beweisen müssen, dass es ihr wirklich um die Demokratie geht und nicht um einen als Legalität bemäntelten Kollisionskurs gegen eine aufmüpfige Generalitat, angetrieben vom alten Ressentiment der spanischen Rechten gegen „die Katalanen“.
Stattdessen verkörpert Puigdemont nun die Selbstdemontage des Independentisme. Sein bizarrer Auftritt in Brüssel spielt Rajoy in die Hände, dessen eigenes Versagen in der Katalonien-Politik plötzlich kaum noch interessiert (ähnlich wie seine Partei zuvor die Katalonien-Krise nutzen konnte, um von ihren heillosen Korruptionsskandalen abzulenken).
Man hofft ja gerne, dass hinter politischen Manövern ausgeklügelte Strategien steckten. Wenn zum Beispiel das katalanische Parlament eine Republik ausruft, hätte es auch einen soliden Plan, wie es die Republik tatsächlich gründen oder aber durch diesen Eklat endlich die föderalistische Reform des spanischen Staats in Gang setzen könnte.
Ein alter Verdacht erhärtet sich
Es sieht jedoch alles danach aus, dass der flüchtige Glanz der Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober bloß das Schimmern war, mit dem der „procés“ als Rohrkrepierer endete. Jetzt haben die Unionistas und die Constitucionalistas in Katalonien wie im Rest Spaniens das Heft in der Hand. Und falls sie so klug sind, nach der viel beschworenen „milden Anwendung“ von Artikel 155 die überfällige Neujustierung Spaniens als Föderalstaat einzuleiten, wird dies nicht als Erfolg katalanischer Streiter für ein „Recht auf Selbstbestimmung“ erscheinen. Sondern als Verdienst einer spanischen Regierung, die eine Staatskrise gemeistert und daraus besonnene Schlüsse gezogen hat.
Seit über zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Ihr Anhänger war ich nie, allerdings hatte ich für die Argumente der Independentistes angesichts der reaktionären und aggressiven Linie Rajoys phasenweise viel Verständnis. Und die Idee, das konservative Schlagwort vom „Europa der Regionen“ als linkes Projekt wiederzubeleben, fand ich grundsätzlich verlockend.
Mit den Entwicklungen der letzten Wochen aber erhärtet sich ein alter Verdacht: dass der katalanische Independentisme im Kern doch nichts weiter ist als ein Masochismus. Er will unbedingt leiden, und zur Not sorgt er selbst dafür, dass sein Leiden nicht aufhört.
Als Masochismus inszeniert hat sich der katalanische Nationalismus seit jeher. Er begründete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Wehmut über lange verlorene Glorie (die Krone von Aragón als mittelalterlich-mediterranes Imperium), und er erwählte das Datum der größten historischen Niederlage Kataloniens – den 11. September 1714, als Barcelona an die Bourbonen fiel – zum Nationalfeiertag.
Aus dieser Perspektive ist es heute nur folgerichtig, dass die angebliche „schweigende Mehrheit“ in Katalonien, also diejenigen, die für den Verbleib bei Spanien sind, erst in den Tagen nach der Ausrufung der Republik und der Absetzung der Ausrufer eindrucksvoll auf die Straßen ging.
Sie ließ den Unabhängigkeitsbefürwortern jahrelang den Vortritt, weil sie sich darauf verlassen konnte, dass der Independentisme, egal wie sehr er als gesellschaftliche und politische Bewegung erstarkte, sein großes Anliegen im entscheidenden Moment gegen die Wand fahren würde.
Nachbemerkung am 3. November:
Als ich diesen Text gestern früh fertig schrieb, rechnete ich damit, dass die vor Gericht erscheinenden Mitglieder der katalanischen Regierung auf freiem Fuß bleiben würden. Ihre Verhaftung macht bis auf Weiteres jede Hoffnung zunichte, dass die Regierung Rajoy und die ihr dienstbare Justiz in der Katalonien-Krise auf einen konstruktiven Kurs einschwenken. Die Audiencia Nacional – ein Sondergericht, das aus Francos „Gericht für öffentliche Ordnung“ hervorgegangen ist – operiert als verlängerter Arm der Hardliner in Madrid.
Wo es gerade noch so aussah, als würde die Ausrufung der Neuwahlen den Konflikt in ruhigere Bahnen lenken und in einen allseits akzeptierten demokratischen Rahmen zurückholen, tritt die Logik der Eskalation wieder unverhüllt zutage. Der katalanische Masochismus erscheint harmlos, ja geradezu vernünftig im Vergleich mit dem Selbstzerfleischungsdrang des spanischen Establishments. Offenbar will Mariano Rajoy doch unbedingt als der Ministerpräsident in die Geschichte eingehen, der Spanien zerstört hat.
Der Autor Michael Ebmeyer ist Verfasser der Gebrauchsanweisung für Katalonien (Piper). Er erhielt 2011 ein Stipendium des katalanischen Instituts Ramon Llull für die Übersetzung des Romans Maletes perdudes von Jordi Puntí ins Deutsche. Lesen Sie hier eine ausführliche Stellungnahme des Autors zu den Leserkommentaren seines Textes „Die Monter sind wach: Spaniens Ministerpräsident Rajoy hat die katalanische Krise selbst ausgelöst. Vor mehr als sieben Jahren. Die aktuellen Vorgänge erinnern schmerzhaft an die Franco-Diktatur.“
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