Erst seit ich die Ukraine verlassen habe, koche ich Borschtsch und liebe Dill. Oder Natron. Warum man das Vertraute braucht, um ein neues Leben beginnen zu können.
Ich kannte einmal einen Tunesier, der jeden Satz mit „Bei uns in Tunesien ist es so“ begann. Als ich ihm sagte, ich sei Schriftstellerin, schaute Furt, so hieß er, mich mit solch tiefem Mitleid an, als wäre ich ein verkrüppeltes Kaninchen. „Bei uns in Tunesien ist es so“, verkündete er prompt, „die Klugen studieren Mathematik und Physik, die Dümmeren Wirtschaft, und die ganz Dummen, die zu nichts nütze sind, beschäftigen sich mit Literatur. Damit du nur weißt, ich bin Mathematiker.“
Wenn er sprach, dann immer ausgeschmückt mit diesen Weisheiten. „Bei uns in Tunesien ist es so“, pflegte Furt zu sagen: „Ein Ingenieur baut ein Flugzeug, ein Wirtschaftswissenschaftler verrechnet dessen Wert, und ein Schriftsteller betrachtet das Flugzeug und ruft: ‚Ah, wie hübsch!‘ Was macht ihr Schriftsteller?! Nehmen wir einen Roman. Darin steht kein wahres Wort, alles ist erfunden. Ihr lügt über alles!“
Vor ein paar Jahren lachte ich Furt in einer Kolumne aus, obwohl er eigentlich kein schlechter Mensch war, lediglich ein Mann fester Überzeugungen. Er kannte Shakespeare und Hemingway nicht, er hatte die Namen in seinem Leben niemals gehört. Dafür las er Hegel. Er kannte Honoré de Balzac nicht, er kannte Fjodor Dostojewski nicht. Auch diese Namen hatte er nie gehört. Dennoch schaffte Furt, Folgendes zu sagen (die Einleitung über Tunesien lasse ich aus): „Frauen sind wie Perlen. Sie haben in den teuren Juweliergeschäften ihren Platz, nicht in einer Pfandleihe.“ Oder: „Ich gestehe, dass ich nicht ganz aufrecht lebe, ich trage keinen langen Bart.“
Ich zeig dir, wo die Krebse überwintern
Furt lernte ich in einem Deutschkurs in Wien kennen. Ich liebe Deutschkurse, weil man dort die Vielfältigkeit der Welt, ihre Verschiedenheiten am besten beobachten kann. Dort trifft sich die Welt, wie sie ist, und bricht sofort auseinander, ungeduldig, besserwisserisch, voreingenommen, sie widerspricht sich selbst, streitet und verachtet, dort akzeptiert die Welt sich selbst nicht. Furt träumte zum Beispiel, dass es die Welt nicht gäbe, nur ein großes buntes Tunesien, er wünschte sich, Tunesien wäre überall. Furt brachte seine Heimat im Rucksack mit sich über das Mittelmeer und machte sie zum Schutzpatron, zum Wappenschild gegen alle Ängste, die ihm das neue Unbekannte bereitete. So fühlte er sich ruhiger, so fand er seinen Trost.
Als ich vor sieben Jahren die Ukraine verließ und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen in den deutschsprachigen Raum gelangte (freiwillig, keine Sorge), hatte ich das akute Bedürfnis, meine Ukraine, oder besser sagt, einen Schatten der Ukraine, einen ukrainischen Geist, meine Illusion der Ukraine, immer bei mir zu behalten. Ich erklärte eine Millionen Mal, dass ich aus der Ukraine komme, auch wenn niemand fragte. Ich kochte stur aufwendige ukrainische Speisen, den Borschtsch mit roten Rüben zum Beispiel, eine Suppe, die alle in meiner Umgebung längst satt hatten, Kohlrouladen, die mir stets misslangen, Warenyky, sodass die ganze Küche schön weiß mit Mehl bestäubt war. Ich legte sogar Gurken ein, buk süße Pampuschki mit Zwetschgenmarmelade und schluckte kiloweise Sauerkraut, egal ob Winter oder Sommer war. Das alles machte und mochte ich in der Ukraine nie und niemals. In der Ukraine aß ich am liebsten Pizza oder Pasta.
Auch ukrainische Sprüche übersetzte ich wie besessen, weil ich dachte, so wird man mich besser verstehen. Ich sagte, ich zeig dir, wo die Krebse überwintern, wenn ich mich ärgerte, oder ich gebe dafür meinen Zahn, wenn ich jemanden von etwas überzeugen wollte. Gleichzeitig verwechselte ich ständig „schön“ und „schon“, weil es hier meines Erachtens keinen großen Unterschied gab. Freunde lachten mich aus, wenn ich Herrn Einstein nicht als „Ainstain“, sondern buchstäblich eben „Einstein“ und Herrn Freud als „Freid“ bezeichnete. Eigentlich artikulierte ich fast alle fremden Eigennamen falsch, regte mich aber sehr auf, wenn ich „Lemberg“, „Lwow“ oder „Lwuw“ statt „Lwiw“ hörte.
Völlig anders, zehnmal besser
Ich entschied sogar, ein Trachtenhemd selbst zu besticken (eine Pflicht aller Ukrainerinnen), fand jedoch keine passende Vorlage und kaufte das fertige auf einem merkwürdigen Trachtenhemdenmarkt in der galizischen Kleinstadt Kolomyja. Dieser Markt, der sogenannte Nachtmarkt Kolos, öffnet jeden Donnerstag um zwölf Uhr Mitternacht wie ein Hexensabbat und schließt mit den ersten Sonnenstrahlen. Es kommen Frauen aus der ganzen Region mit ihren Stickereien – sehr beeindruckend. Mein Hemd kostete 130 Euro. Es liegt seitdem im Schrank, ungetragen, wofür ich mich schäme und Schuld fühle.
Und genauso wie Furt wiederholte ich mit und ohne Anlass das psychotherapeutische „Bei uns in der Ukraine ist es so“. Völlig anders also, viel verständlicher, zehnmal besser. Bei uns bleiben die Familienmitglieder in viel engerem Kontakt als bei euch, sagte ich leicht angebend, man fühlt sich nie einsam, und Natron ist überall zu finden, in jedem Supermarkt, es kostet Kopeken, man sollte starke Chemikalien ja generell vermeiden, nicht? Meine Großmutter hat ihr lebenslang nur mit Natron geputzt, manchmal auch mit Brennnessel, das geht auch, brennt nur am Anfang. Ich sagte, bei uns schätzt man Buchweizen viel mehr, nicht umsonst haben die Ukrainer den Spitznamen Buchweizensäer. Ich habe zwar nie gesehen, das jemand Buchweizen in der Ukraine sät, aber egal. Außerdem sagt man „Ukrop“ zu uns, was soviel heißt wie Dill auf Russisch, klingt abwertend, was ich nicht verstehe.
Eine Bekannte von mir, eine Regensburgerin, verbrachte vor Kurzem ihren Urlaub im bereits erwähnten westukrainischen Lwiw. Als wir im Restaurant gemeinsam aßen, schrie sie plötzlich auf: „Ich ertrage diesen blöden Dill nicht mehr! Warum steckt man ihn in der Ukraine überall hinein?!“ „So sieht’s schöner aus“, antwortete ich fast beleidigt.
Das Grundstück meiner Großeltern war im späten Sommer völlig mit gelb blühenden Dillschirmen zugewachsen. Dill ragte überall heraus und man jätete ihn nicht mehr. Meine Großmutter seufzte: „Sieh, wie schön.“
Es war tatsächlich so. Schön. Einmalig. Ich werde diese Erinnerung sowie das blühende Grundstück, auf dem jetzt nur Unkraut wuchert, Omas Haus, wo jetzt nur Spatzen und Mäuse wohnen, Omas Seufzen, das ich so vermisse, nie vergessen und werde bis Ende des Lebens Dill in großen Mengen essen.
Schleppte ich meine Heimat auch mit mir im Rucksack mit? Bin ich unfähig, diese große bunte Welt ohne Angst und Voreingenommenheit zu betrachten, so, wie sie ist? Oder muss man vielleicht seine Heimat einmal verlieren, um die Verschiedenheiten anderer tolerieren zu lernen? Ist die Toleranz eine Übungssache? Gibt es Kurse dafür?
Als der Deutschkurs, in dem ich Furt kennengelernt hatte, zu Ende war, fragte er mich unerwartet: „Wie ist es denn so in der Ukraine?“ Nach unseren vielen Diskussionen interessierte Furt sich für etwas anderes zum ersten Mal.
Ich war berührt. Ich antwortete: „Ungefähr so wie in Tunesien.“
Furt nickte, das verstand er.
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