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Das Jahr in Quersumme

 

Demokratie auf dem Rückzug, Hirnriss auf dem Vormarsch? 2017 ist furchtbar, zum Glück aber bald vorbei. Der Rückblick schmerzt und muss freilich verschwörerisch enden.

Jahresrückblick: Das Jahr in Quersumme
Was für ein Jahr! Sogar die Sonne war nur halb voll und dann ganz weg. (© Mark Tegethoff/unsplash.com)

Oft habe ich dieses Jahr an Bernd Kasparak gedacht. Denn Bernd Kasparak, komischer Zeichner und Kurztextvirtuose, gestaltete vor Zeiten einen Wandkalender (Kasparaks Monatsblätter) mit dem Titel Wird ein Rie–sen Scheiß–jahr. Ich war mir sogar sicher, dass es ein Kalender für 1997 gewesen sei, weil ein besonders schlichter Teil meines Gemüts an die Plausibilität von Dezimaljubiläen glauben will. Also Rie–sen Scheiß–jahr, simsalabim: Zwanzig Jahre später tritt es dann ein.

Müssen wir an dieser Stelle Revue passieren lassen oder gar chronologisch auflisten, was an 2017 alles außergewöhnlich übel gewesen ist? Nein, dafür sind hochbezahlte Jahresrückblicker wie Günther Jauch zuständig. Und wenn die das nicht tun, sondern stattdessen Popcorn fressende Giraffen zeigen, dann ist es nicht unsere Aufgabe, ihre Versäumnisse nachzuholen. Zumal doch ein Blick in die Runde (aus der anschwellenden Bitcoin-Blase heraus oder wo auch immer wir uns gen Jahresende aufhalten) genügt, um zu erkennen, dass sich an der Stimmigkeit der Kasparak-Prognose heuer nicht mehr rütteln lässt.

Venezuela, Ungarn, Ecuador, Georgien, Peru, die Philippinen, Polen, Russland, Sri Lanka, die Türkei, die Ukraine „und sonst wo“: In dieser Reihenfolge listet ein kürzlich im Magazin New Republic veröffentlichter Text Staaten auf, die zwar – noch – keine Diktaturen sind, in denen aber „gewählte Autokraten“ gerade die Demokratie abbauen. Mir scheint, man könnte für „sonst wo“ auf der Liste zum Beispiel Indien, Tschechien, Japan, Argentinien, Honduras und, fürchte ich, auch Spanien einsetzen. Und Österreich bekommt jetzt einen Kanzler, der jünger ist als Kim Jong Un, ja servus.

Demokratie auf dem Rückzug, Hirnriss auf dem Vormarsch: So geht es allenthalben zu, von Glyphosat bis Brexit, vom Jamaika-Eiertanz bis zur katalanischen Unabhängigkeitserklärung. Aus den Tiefen des Hirnrisses aber erhebt sich der weiße Elefant, auf den auch im erwähnten New-Republic-Text alles hinausläuft: The Donald. Das ist der Horror – über den Zustand der Welt Ende 2017 zu reden, heißt über Trump zu reden.

Was haben wir uns aufgeregt, vergangenes Jahr um diese Zeit, weil er die Präsidentschaftswahl in den USA gewonnen hatte. Dabei dachten wir noch: Es wird entsetzlich mit ihm, aber erstens Checks and Balances, nicht wahr, zweitens schmeißt er eh wieder hin, sobald er merkt, wie anstrengend das Regieren ist, und drittens wird, wenn das Schlimmste zu befürchten ist, das Schlimmste schon nicht eintreten; so ist es schließlich in unserer transatlantischen Komfortzone immer gelaufen, zumindest seit 1946 und sogar beim Wettrüsten.

Die Demokratie-Demontierer

Aber Donald wäre nicht Trump, wenn er hinter finsteren Erwartungen zurückbliebe. Wie verheerend die tägliche Trullala-Dröhnung aus dem Weißen Haus auf Dauer wirkt, welche bleibenden Schäden dieser größte anzunehmende Betriebsunfall der US-Politik im Bild und Selbstbild der westlichen Welt anrichtet, ist noch kaum abzusehen. Geschweige denn das Ausmaß der (nationalen wie internationalen) politischen Zerrüttung, die er hinterlassen wird.

Viel ist darüber geschrieben worden, was Trump von den Demokratie-Demontierern anderswo unterscheidet und warum gerade die Kombination aus schamlosem Narzissten, Quereinsteiger und Knallcharge das legendär austarierte Machtgefüge der USA über den Haufen wirft. Wie man damit umgehen soll, weiß trotzdem keiner – außer dem philippinischen Todesschwadroneur Rodrigo Duterte, der dem Donald ein Liebeslied singt.

Die gefährlichste von Trumps gefährlichen Eigenschaften wird selten als solche benannt: Er ist alt. Das heißt, er erlebt seinen persönlichen Verfall und kann nichts dagegen tun. Das ist die möglicherweise einzige und jedenfalls größte Demütigung im Dasein eines Menschen, der mit dem goldenen Löffel im Mund zur Welt kam. Alles war immer machbar, alles konnte er sich kaufen, alles konnte er sich einbilden (dass er ein „Star“ sei), alles konnte er sich erlauben („grab ‚em by the pussy“) – aber das Alter, das Nachlassen der Kräfte, das Ablaufen der Zeit entzieht sich seiner Macht.

Wie reagiert der cholerische Narzisst auf so eine unfassbare Kränkung? Gewalt wäre die nächstliegende Lösung. Wird er sich also den Lebensabend mit einem Atomkrieg versüßen? Der Feind steht bereit – die Kehrseite von Trumps Verfall ist die Unsterblichkeit des „ewigen Führers“ Kim Jong Un. Und dass auf ein Rie–sen Scheiß–jahr ein noch riesigeres folgt, kann leider nicht ausgeschlossen werden.

Vergleichsweise leicht hat man es in solcher Bedrängnis als Verschwörungstheoretiker (dazu mehr gegen Schluss dieses Textes) – und als dogmatischer Linker. Als dogmatischer Linker kann man sagen, Trump sei die nackte Fratze des Spätkapitalismus. Der Kapitalismus habe die Demokratie eh immer nur als Show zur Bemäntelung der Interessen der Reichen und Bösen aufgeführt, und nun sei er in ein Stadium der Dekadenz eingetreten, in dem die Bemäntelung wegfällt. Ein Immobilienkasper, der sein Vermögen der alten Regel verdankt, dass der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt, markiert die Endphase einer grundverdorbenen Ideologie.

Friede, Freude und internationale Solidarität?

Bloß: Dass auf den somit imminenten Zusammenbruch des Schweinesystems die proletarische Revolution folgt und sich Friede, Freude und internationale Solidarität breitmachen, werden doch auch dogmatische Linke nicht glauben. Bleibt nur der pikierte Zynismus von „Tja, die Menschheit ist halt zu blöd für unsere gute Idee“; und der Trost, dass man ein Weltbild hat, in das man sich auch in so schwerer Stunde noch zurücklehnen kann. Ist man aber ein undogmatischer Linker, hat man keinen Trost.

Womit wir zurück in Deutschland wären. Einem Land, in dem Ende 2017 so wenig Arbeitslose gemeldet sind wie seit 25 Jahren nicht mehr, aber die Zahl der Wohnungslosen seit 2014 um 150 Prozent angestiegen ist (übrigens auch ohne die Geflüchteten um fast 25 Prozent; die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe prognostiziert bis 2018 einen Zuwachs um weitere 40 Prozent, der Bestand an Sozialwohnungen ist indessen seit 1990 um rund 60 Prozent gesunken und schrumpft weiter).

Ein Land, in dem infantile Lautgebilde wie „Groko“ und „Koko“ als Regierungsoptionen gelten. Ein Land, in dem eine leicht verfremdete Kauft-nicht-bei-Juden-Kampagne kein großer Aufreger ist und Antisemitismus erst dann als gesellschaftliches Problem erkannt wird, wenn sich diese Erkenntnis mit einem anderen Ressentiment – gegen „die Muslime“ – verbinden lässt. Ein Land, in dem man SUV-Fahrer für noch ganz dicht und einen vegetarischen Tag in der Kantine für nicht vermittelbar hält.

Ein Land, in dem die AfD in den Bundestag eingezogen ist, obwohl sie doch in den Monaten vor der Wahl alles daran gesetzt hat, sich restlos unmöglich zu machen; von Björn Höckes „Mahnmal der Schande“ bis zur grausamen Sippenhaft für Frauke Petrys Baby als Plakatmotiv. Aber nein, einmal aktiviert und gebündelt, ließ sich das „rechtspopulistische Wählerpotenzial“ nicht beirren.

Die ganz große Verschwörung

Und so sitzt die völkische Gurkentruppe als drittstärkste Fraktion im nationalen Parlament, kungelt bei ihren Vorstandswahlen genauso herum, wie sie es bei den „Altparteien“ beschimpft, stellt auf diese Weise die Dominanz ihres extremistischen Flügels sicher und glaubt, der von ihr seit Jahren herbeigeschriene Untergang des Abendlandes sei eingetreten, weil in Berlin-Neukölln ein Themenspielplatz Ali Baba eröffnet wird.

Da kommen nun, mag man denken, die Linken und die zumindest irgendwie eher Linken im Land endlich aus dem Quark, um dem „neurechten“ Spektakel resolut entgegenzutreten, zumal mit Trump und den in aller Welt vormarschierenden „gewählten Autokraten“ als Mahnung vor Augen.

Aber nein. Die Partei, die sich Die Linke nennt, schafft es nicht einmal, sich klar gegen Antisemitismus zu positionieren. Die linken Restbestände in der SPD werden im Koko-Schwurbel zerrieben. Was mit den linken Restbeständen bei den Grünen ist, weiß ich auch nicht. Und den jungen Effekthaschern vom „Zentrum für politische Selbstbefriedigung“ (Rayk Wieland) fällt nichts Besseres ein, als den Höcke, um den es endlich mal still geworden war, zurück in die Medien zu holen. Finster ist das Jahresende, verdammt finster.

Ich habe mich also an meinen Freund Kai Schreiber gewandt, bei dem, als wir WG-Genossen waren, besagter Kasparak-Kalender hing. Und dieser Kalender war, wie Kai mich korrigierte, doch nicht für 1997. Er war für 1994. Also keine zwanzig Jahre her, sondern 23.

Damit ist natürlich alles klar. 23, die Zahl der Illuminaten. Und wenn wir jetzt noch die Quersumme bilden! Von 1994. Unerhört. 23 plus 23, doppelilluminiert.

Zu den großen Rätseln um die Illuminatenverschwörung zählt ja die Frage, was eigentlich ihr Zweck ist. Jetzt wissen wir: Eins ihrer Anliegen besteht darin, uns Rie–sen Scheiß–jahre zu bescheren.

Diese Illumination wiederum kann gleich dreifach Trost bringen. Erstens: Wenn Deutsche heute durchdrehen, setzen sie sich eher Aluhüte als Stahlhelme auf. Dann und wann ein um sich schießender „Reichsbürger“ ist zwar grauenhaft, aber kein Vergleich mit einer einmarschierenden Wehrmacht. Zweitens: Die Quersumme von 2017 ist zehn. Womit das brave Dezimaldenken auch wieder seinen kleinen Triumph hat. Drittens: Das nächste Jahr mit Quersumme 23 wird erst 2399 sein.

Ist das ein versöhnlicher Schluss für ein Bilanzlamento 2017? Ich würde sagen: im Rahmen des Möglichen.